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MfS/ZAIG-Information über „Hinweise zu Reaktionen der Bevölkerung" anlässlich des Honecker-Besuches in der Bundesrepublik, 16. September 1987

MfS/ZAIG, Zusammenfassende „Hinweise zu Reaktionen der Bevölkerung" auf den Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik, 16. September 1987

Abschrift (Auszüge)

Vorliegende Hinweise aus allen Bezirken und der Hauptstadt der DDR, Berlin, belegen ein anhaltend starkes Interesse aller Bevölkerungskreise am ersten offiziellen Besuch des Genossen Honecker in der BRD und an seinen Ergebnissen.

Grundtenor der Diskussionen ist unverändert die Wertung, daß dieser Besuch historische Bedeutung habe. Verlauf und Ergebnisse des Besuches dokumentierten nach Auffassung progressiver Bürger überzeugend vor der Weltöffentlichkeit die Existenz zweier souveräner deutscher Staaten. Erstmalig hätten trotz offen bekundeter gegensätzlicher Standpunkte in politischen Grundfragen die führenden Politiker beider deutscher Staaten gemeinsam die Verantwortung für die Erhaltung des Friedens formuliert und den Willen bekundet, dafür einen Beitrag zu leisten. Damit werde überzeugend bewiesen, daß sich selbst Gegner der Entspannung auf Dauer nicht dem wachsenden Druck der Friedenskräfte entziehen können. Da sei vor allem ein wichtiges Ergebnis der konsequenten Friedens- und Dialogpolitik der DDR und schaffe weitere Möglichkeiten für die Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten.

Es wird die Hoffnung geäußert, daß die Ergebnisse dieses Besuches den Fortgang der Genfer Verhandlungen und der Wiener Abrüstungsgespräche positiv beeinflussen.

Es stimme auch optimistisch, daß die vom Genossen Honecker ausgesprochenen Einladungen des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers zum Besuch der DDR angenommen und darüber hinaus regelmäßige Treffen zwischen führenden Politikern beider deutscher Staaten angekündigt wurden.

Bei hoher Würdigung des politischen Grundanliegens und der Ergebnisse des BRD-Besuches äußert dennoch eine beträchtliche Anzahl Mitglieder und Funktionäre der SED und weitere progressive Kräfte, besonders älterer Jahrgänge, gleichzeitig gewisse Befürchtungen hinsichtlich möglicher negativer Auswirkungen dieses Besuches, die im wesentlichen in zwei Richtungen tendieren.

Erstens: Mit Besorgnis wird die Frage aufgeworfen, ob der Bewußtseinsstand der DDR-Bevölkerung bereits so weit entwickelt sei, daß die im Zusammenhang mit dem Prozeß der weiteren Normalisierung der Beziehungen DDR - BRD angekündigten oder vereinbarten Maßnahmen, besonders auf humanitärem Gebiet und im Rahmen der ökonomischen Zusammenarbeit, ohne „ideologische Einbrüche" unter Teilen der Bevölkerung verwirklicht werden können. Längerfristig seien negative ideologische Auswirkungen besonders im Ergebnis der Intensivierung von Kontakten mit der BRD zu erwarten.

Mitarbeiter aus den Bereichen Hoch- und Fachschulwesen sowie Volksbildung (Pädagogen) verweisen z. B. auf solche Fragestellungen von Jugendlichen/Jungerwachsenen wie:
  • Brauchen wir noch ein Feindbild? (Werde angeblich häufig verneint.)
  • Ist die Mauer noch notwendig?
  • Hat der Imperialismus der BRD seinen Charakter verändert? Auch die westlichen Politiker wollen Frieden.
Häufig wird daraus die Notwendigkeit abgeleitet, die ideologischen Auseinandersetzungen künftig offensiver zu führen. Hierzu erwartet man von den Parteiorganen aller Ebenen überzeugende Argumentationen.

Zweitens: Wiederholt wurde in Diskussionen die Frage erörtert, ob die DDR in ihrer Kompromißbereitschaft nicht zu weit gehe. Das Nichtreagieren auf die revanchistischen Ausfälle der BRD-Politiker, die gegebenen Zusagen zur Erweiterung der Zusammenarbeit mit der BRD auch in sogenannten politisch sensiblen Bereichen (Kontakte, Informationsaustausch) könnten - so wird argumentiert - zum Abrücken von Grundpositionen führen, die die sicherheitspolitischen Interessen berühren. Einzelne Hochschulkader erklärten, es entstünde der Eindruck, daß dem Anliegen der Friedenssicherung einige Positionen „geopfert" wurden, die bisher mit zu den Eckpfeilern unserer Politik gegenüber der BRD zählten (Hinweis auf Geraer Forderungen). Mitarbeiter staatlicher Organe, Angehörige der Deutschen Volkspolizei und Berufskader der NVA verweisen in diesem Zusammenhang auf von ihnen erwartete zunehmende Schwierigkeiten bei der Gewinnung von Berufskadern für die bewaffneten Organe sowie bei der Verpflichtung von Bürgern als Geheimnisträger, da sich immer weniger Bürger bereitfänden, auf Westkontakte zu verzichten. (...)

Nach vorliegenden internen und offiziellen Hinweisen aus der Hauptstadt und allen Bezirken der DDR nehmen die bereits im Vorfeld des Besuches geäußerten Erwartungshaltungen und Spekulationen auch weiterhin breiten Raum ein. Des öfteren wurde erklärt, durch den Inhalt der Reden Bundeskanzlers Kohl und weiterer BRD-Politiker sowie durch das Abschlußkommunique und die unterzeichneten Abkommen in derartigen Haltungen bestärkt worden zu sein. Gegenwärtig zeichnet sich die Tendenz ab, daß geäußerte Erwartungshaltungen noch konkreter geworden sind und vielfach überzogene, unrealistische Vorstellungen enthalten. Die sich in diesem Sinne äußernden Personen repräsentieren alle Klassen und Schichten der Bevölkerung. In der Regel liegen solchen Erwartungshaltungen persönlich motivierte Beweggründe, aber auch beruflich bedingte Interessen zugrunde.

Meinungsäußerungen, in denen Enttäuschung über die Besuchsergebnisse zum Ausdruck gebracht werden, sind gegenwärtig nur in geringem Umfang bekannt.

Absoluten Schwerpunkt bilden Erwartungen über weitere Erleichterungen bzw. Verbesserungen im Reiseverkehr für DDR-Bürger in das nichtsozialistische Ausland. In diesem Zusammenhang wird mit der baldigen Veröffentlichung neuer Regelungen seitens der DDR-Regierung gerechnet. Beachtenswert sind dabei die von unterschiedlichsten Personenkreisen getroffenen Feststellungen, die DDR komme künftig nicht umhin, einheitliche, für alle DDR-Bürger gleichermaßen geltende Rechtsvorschriften auf diesem Gebiet zu erlassen und Ablehnungen von Reisen zu begründen.

Die Überlegungen hinsichtlich Veränderungen im Reiseverkehr konzentrieren sich insbesondere auf folgende Inhalte:
  • Aufhebung noch bestehender Beschränkungen beim Besuch von Verwandten/Bekannten in der BRD bzw. in Westberlin,
  • Gestattung von Reisen für Ehepaare mit Kindern, auch unter Benutzung von Kfz,
  • Durchführung von Touristenreisen einschließlich Kurzreisen,
  • Ferienaufenthalte,
  • großzügige Regelungen im kleinen Grenzverkehr.
Ein ständig wiederkehrendes Argument bei derartigen Diskussionen, das zum Teil auch Zustimmung bei Parteimitgliedern u.a. progressiven Kräften findet, beinhaltet, sich persönlich von den Lebensverhältnissen in der BRD überzeugen zu wollen.

Arbeiter und Angestellte, Mitarbeiter staatlicher Organe und Einrichtungen äußerten des öfteren in diesem Zusammenhang die Ansicht, eine größere Freizügigkeit im Reiseverkehr würde einen Rückgang des ungesetzlichen Verlassens der DDR und von Übersiedlungsersuchen bewirken, da sich die DDR-Bürger von den Realitäten in der BRD überzeugen könnten und ihre gesicherte Existenz in der DDR mehr schätzen würden.

In unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen tätige Geheimnisträger, darunter Mitarbeiter in Forschungseinrichtungen von Kombinaten und Betrieben sowie Einrichtungen des Verkehrs- und Nachrichtenwesens, erklärten wiederholt, man bringe ihnen zwar Vertrauen im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit, nicht aber im Falle beabsichtigter Reisen in das nichtsozialistische Ausland entgegen. Dieser Widerspruch sei unverständlich und wecke den Wunsch nach Entpflichtung als Geheimnisträger.

Auch nach Auffassung von Mitarbeitern der Akademie der Pädagogischen Wissenschaften könne künftig das derzeitig geltende „Reiseverbot" für Lehrer nicht mehr aufrechterhalten werden. In einzelnen Lehrerkollektiven werde darüber heftig diskutiert, und Lehrer hätten bereits mehrfach Kündigungen angedroht.

Kirchenleitende Kräfte, darunter Mitarbeiter des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR und des Konsistoriums der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg sowie weitere kirchliche Amtsträger aus Bereichen aller evangelischen Landeskirchen, hoffen auf einen „komplikationsfreien", ungehinderten Besucherverkehr im Rahmen der Partnerschaftsarbeit zwischen Kirchen der DDR und der BRD.

Internen Hinweisen zufolge verwiesen kirchenleitende Kräfte der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs auf die Notwendigkeit des engagierten Einsatzes der Kirchen für „die weitere effiziente Verwirklichung der Rechte und Freiheiten der Persönlichkeit". Die Förderung von familiären Beziehungen und die Realisierung von Begegnungen zwischen den Menschen seien - nach Auffassung der Betreffenden - ein Grundproblem der Menschenrechte. Es sei jetzt der Zeitpunkt herangereift, wo die Kirche klare Forderungen an den Staat zu stellen habe, um subjektive Entscheidungen zu überwinden. In Anspielung auf die Genehmigungspraxis bei Reisen in das Ausland wurde betont, der Bürger müsse klare schriftliche Entscheidungen erhalten. Jeder müsse klar seine Rechte kennen. Insgesamt müsse die Kirche „mehr Öffentlichkeit" für die Tätigkeit staatlicher Organe durchsetzen.(...)

Übersiedlungsersuchende äußerten sich - vorliegenden Informationen zufolge - bisher differenziert zu den Ergebnissen des Besuchs.

Nach wie vor rechnet ein beträchtlicher Teil dieses Personenkreises in den kommenden Wochen mit einer „Ausreisewelle". Nach Hinweisen aus der Hauptstadt und den Bezirken der DDR erschienen im Besuchszeitraum in öffentlichen Sprechstunden zentraler staatlicher Organe und der Abteilungen Inneres der Räte der Bezirke und Kreise zahlreiche Besucher, die unter Hinweis auf den BRD-Besuch eine alsbaldige positive Entscheidung ihres Übersiedlungsersuchens verlangten. Als Begründung gaben sie an, durch die seitens der BRD-Politiker gehaltenen Reden in der Rechtmäßigkeit ihrer Haltung bestärkt worden zu sein. Gleichzeitig gaben einige ihrer Erwartung Ausdruck, daß die Bearbeitung von Übersiedlungsersuchen für die Betreffenden „durchschaubarer" und die Bearbeitungszeit verkürzt werde.

Eine Anzahl von Übersiedlungsersuchenden erklärte jedoch unter dem Eindruck fehlender konkreter Aussagen zur Übersiedlungsproblematik in den Reden der BRD-Politiker, diese Reise habe „für Antragsteller nichts gebracht". Sie unterstrichen jedoch, an ihrem Vorhaben weiter festzuhalten und dies „nachhaltig" gegenüber den zuständigen staatlichen Organen demonstrieren zu wollen.

Aus der Hauptstadt und einzelnen Bezirken der DDR liegen Hinweise vor, wonach sich progressive Kräfte, darunter Mitglieder und Funktionäre der SED sowie Gewerkschaftsfunktionäre, verärgert bis ablehnend zu den Forderungen der jeweils zuständigen SED-Kreisleitungen verhielten, als „spontane Reaktion" deklarierte persönliche Stellungnahmen sowie persönliche Briefe an den Genossen Honecker zu richten, in denen ihm für sein Auftreten in der BRD und für seine Politik gedankt werden sollte.

Durch Parteifunktionäre wird eingeschätzt, daß dieses formale Herangehen - häufig seien dabei Formulierungen aus der DDR-Presse abgeschrieben worden - bei den zur Stellungnahme aufgeforderten Personen den positiven Gesamteindruck von dem Besuch beeinträchtigt habe.

Quelle: BStU, MfS, ZAIG 4229, dok. in: Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980-1987, Berlin 1995, S. 338-343.
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