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Brief des Kuratoriums Unteilbares Deutschland an Albert Schweitzer, Ende August 1961

Brief des Kuratoriums Unteilbares Deutschland an Albert Schweitzer, Ende August 1961

Brief an Albert Schweitzer


„Lassen Sie nicht die Verächter des Friedens und die Spötter gegen Christentum und Menschlichkeit mit einem mißbrauchten Segenswort von Ihnen durchs Land ziehen"



    Das Kuratorium „Unteilbares Deutschland" teilt mit: Der Geschäftsführende Vorsitzende des Kuratoriums „Unteilbares Deutschland", Dr. Schütz, hat folgenden Brief an Prof. Dr. Albert Schweitzer, Lambarene, gerichtet:
Verehrter Herr Schweitzer!

Gänzlich unerwartet tritt Ihr Name mir aus den Spalten der Ost-Berliner Presse entgegen. In dieser wirklich fremden Umgebung wirken Ihre lauteren Gedanken von Frieden und Ehrfurcht vor dem Leben leuchtkräftiger denn je. Aber wem, verehrter Herr Schweitzer, billigen Sie in ihrem Brief — vorausgesetzt, daß er tatsächlich an Walter Ulbricht geschrieben wurde — zu, er stünde Ihrer Friedensidee, Ihrer Idee der Ehrfurcht vor dem Leben sympathisch gegenüber? Der Mann und das Regime haben gerade in diesen Tagen dem Frieden einen schweren Schlag versetzt — den schwersten wahrscheinlich seit dem Untergang des furchtbaren Hitler. Sie haben unseren Landsleuten jenseits des Brandenburger Tors, jenseits der Elbe, das wirklich Allerletzte versagt, was noch an Menschenrecht verblieben war, nämlich das Recht zu fliehen.

Ich stand vor wenigen Tagen vor der Mauer, die mitten durch Berlin läuft. Beton, Steine, Stacheldraht, dahinter Truppen, Polizei, Panzer — auf die gerichtet, deren Regierung das Regime Ulbricht zu sein vorgibt. Auf die Menschen gezielt, denen selbst nicht dieses Alleräußerste und Primitivste, was selbst dem Tier von der Natur nicht verweigert wird, mehr zugebilligt wird, nämlich zu fliehen. Es sind in diesen letzten Tagen Menschen zu Tode gekommen, die dennoch den Weg nach Westen erhasten wollten. Niedergeschossen, aus dem Fenster gestürzt, und zahllose andere in die Gefängnisse und Zuchthäuser gesperrt — das ist die furchtbare Wirklichkeit im heutigen Berlin, im heutigen Deutschland.

Man behauptet im kommunistischen Lager, Berlin sei eine Herausforderung, Berlin sei eine Bedrohung des Friedens. Eine schon geteilte Stadt soll ein Weltreich bedrohen? Von zwei Millionen Menschen soll eine Gefährdung eines Imperiums ausgehen, das heute von der Elbe bis zum Stillen Ozean reicht? Zynischer ist wohl noch nie der Begriff des Friedens mißbraucht worden.

Gerade diejenigen, die in dieser Zeit die offene Gewalt der Fremdherrschaft mit äußerer Ohnmacht, aber innerem Widerstand ertragen müssen, vertrauen auf die stärkere Kraft der Menschlichkeit und auf den Sieg des Friedens. Lassen Sie nicht die Verächter des Friedens und die Spötter gegen Christentum und Menschlichkeit mit einem mißbrauchten Segenswort von Ihnen durchs Land ziehen.

Heute sende ich, um Ihnen wenigstens einen ersten flüchtigen Blick auf die Wirklichkeit in Berlin zu ermöglichen, einige Bilder, die in diesen Tagen an der Sektorengrenze zwischen Ost- und West-Berlin aufgenommen wurden. Sie sehen daraus, daß selbst den jungen Arbeitern, die zum Bau der „chinesischen Mauer" gezwungen wurden, wie der Volksmund mit bitterer Ironie die Trennungsmauer nennt, vom kommunistischen Regime bewaffnete Aufseher zugesellt wurden. Andernfalls würden sie alle in ihrer Verzweiflung herüberkommen.

Sie werden, Herr Schweitzer, so könnte ich mir vorstellen, in den Menschen, die sich heute gegen alle Widrigkeiten um deutsche Einheit bemühen, vielleicht den Ansatz zu politischem Haß und harter Auseinandersetzung vermuten. Nun, der Name „Unteilbares Deutschland" wurde von Theodor Heuss geprägt. Wir selbst, Männer, Frauen und junge Menschen aus allen Parteien und Richtungen, aus den Gewerkschaften wie aus der Industrie, von den Universitäten wie aus der Studentenschaft, sind sehr hart in der Ablehnung des Hasses, sehr entschieden in unserem Willen zur Menschlichkeit. Gerade, weil wir dem Mißbrauch der Macht widerstehen, greifen wir zu den Mitteln der Politik. Gerade weil wir die deutsche Frage nicht mit Gewalt, ja nicht einmal mit einer Drohung von Gewalt in Ordnung bringen wollen, müssen wir um so kräftiger nach den Waffen des Geistes, nach der Gewalt des Wortes, nach der Unerbittlichkeit des Willens greifen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 162, 31.8.1961, S.1555.
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