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Chris Gueffroy: geboren am 21. Juni 1968, erschossen am 5. Februar 1989 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer (Aufnahme Nov./Dez. 1988)
Chris Gueffroy, erschossen an der Berliner Mauer: Gedenkkreuz am West-Berliner Ufer des Britzer Zweigkanals (MfS-Aufnahme, 1989)

Chris Gueffroy

geboren am 21. Juni 1968
erschossen am 5. Februar 1989


am Britzer Zweigkanal, nahe den Kleingartenkolonien "Harmonie" und "Sorgenfrei"
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln

Gueffroy, Chris

Chris Gueffroy, geboren am 21. Juni 1968 in Pasewalk, zieht, als er fünf Jahre alt ist, mit seiner Mutter nach Berlin. [49] In der dritten Schulklasse entdecken Sportfahnder sein turnerisches Talent und holen ihn auf die Kinder- und Jugendsportschule des FC Dynamo Berlin. Chris Gueffroy macht sich große Hoffnungen auf eine Karriere als Turner, fühlt sich aber zugleich in den staatlich reglementierten Alltagsabläufen zunehmend eingeengt. Als er sich weigert, nach der Schule eine Offizierslaufbahn in der Nationalen Volksarmee einzuschlagen, wird er nicht zum Abitur zugelassen. Damit platzen seine Träume, Schauspieler oder Pilot zu werden.

Im September 1985 beginnt er eine Lehre als Kellner im Flughafen-Restaurant Schönefeld bei Berlin und arbeitet danach in verschiedenen Gaststätten.

Zwar hat Chris Gueffroy als Kellner ein überdurchschnittlich gutes Einkommen und darüber hinaus einen gewissen Freiraum. Doch lernt er auch die Schattenseiten seines Berufes kennen. Gegenüber seiner Mutter betont er immer wieder, wie ihn die Korruption in der Gastronomie anwidere. So geht es auch seinem Freund Christian G., den er auf der Gastronomieschule kennen gelernt hat. Eingesperrt zu sein mit dem Wissen, dass es immer so sein werde, es nie seinem freien Willen unterliegen werde, selbst zu entscheiden, wo er leben möchte, empfindet der 20-Jährige als zunehmend unerträglich. [50] Als Chris Gueffroy Anfang 1989 erfährt, dass er im Mai zur Nationalen Volksarmee eingezogen werden soll, entschließen er und Christian G. sich Mitte Januar, die DDR zu verlassen.

Einen Ausreiseantrag wollen die beiden jungen Männer nicht stellen. Sie fürchten die damit zusammenhängenden üblichen Schikanen in Beruf und Privatleben. Von Freunden erfahren sie, der Schießbefehl sei ausgesetzt. Jetzt steht für sie fest: Sie werden versuchen, über die Mauer nach West-Berlin fliehen. [51] Als Chris Gueffroy und Christian G. davon hören, dass sich der schwedische Ministerpräsident Anfang Februar 1989 zu einem Staatsbesuch in Ost-Berlin aufhalten soll, entschließen sie sich, den Fluchtversuch am 5. Februar zu wagen. Sie können sich nicht vorstellen, dass während eines Staatsbesuches auf Flüchtlinge geschossen wird. Für den Fall ihrer Festnahme rechnen sie mit ihrer baldigen Abschiebung in den Westen. Doch beide unterliegen einem tragischen Irrtum, denn der Schießbefehl gilt nach wie vor – und der schwedische Ministerpräsident ist aus Ost-Berlin schon wieder abgereist. [52]

Am 5. Februar 1989 verlassen die beiden jungen Männer gegen 21.00 Uhr die gemeinsame Wohnung und begeben sich ins Grenzgebiet. Ihren Angehörigen und Freunden haben sie zuvor erzählt, dass sie nach Prag reisen. [53] Gegen 22.30 Uhr erreichen sie die Kleingartenkolonie „Harmonie" im Ost-Berliner Stadtbezirk Treptow. Über eine Stunde harren sie in einem Geräteschuppen aus und beobachten das Grenzgebiet, um einen günstigen Zeitpunkt abzupassen. Gegen 23.30 Uhr nähern sie sich den Sperranlagen vor dem Britzer Zweigkanal, der die Grenze zum West-Berliner Stadtbezirk Neukölln bildet. [54] Sie haben zwei selbst gefertigte Wurfanker dabei, die ihnen helfen sollen, die Sperranlagen zu überwinden. Unentdeckt übersteigen die beiden sportlichen jungen Männer mit einer „Räuberleiter" die gut drei Meter hohe Hinterlandmauer, wobei Christian G. zuerst auf die Mauerkrone steigt und von dort Chris Gueffroy nach oben hilft. [55] Einen Wurfanker lassen sie zurück. Als sie den Signalzaun durchkriechen, lösen sie optischen und akustischen Alarm aus. Während die beiden Männer auf das letzte Sperrelement, einen etwa drei Meter hohen Streckmetallgitterzaun, zu rennen, werden sie von einem Postenpaar unter Beschuss genommen. Um den Schüssen zu entkommen, rennen sie in entgegengesetzter Richtung am Zaun entlang – und geraten in den Schussbereich eines zweiten Postenpaares, das ebenfalls das Feuer eröffnet. Als der Versuch misslingt, mit dem zweiten Wurfanker den letzten Zaun zu überwinden, versuchen es die Beiden erneut mit einer „Räuberleiter". Etwa 40 Meter von Chris Gueffroy entfernt geht ein Grenzsoldat in die Hocke und schießt Einzelfeuer auf seine Füße; er trifft auch, doch der Getroffene steht unter Schock und zeigt keine Reaktion. Da hält der Schütze höher an. Mit dem Rücken zum Zaun wird Chris Gueffroy von einer Kugel ins Herz getroffen. Er sackt zusammen und stirbt innerhalb weniger Minuten an den Folgen seiner schweren Verletzung. [56]

Christian G. wird verletzt von den Grenzsoldaten festgenommen und im Mai 1989 wegen „versuchten ungesetzlichen Grenzübertritts im schweren Fall" zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. [57] Mitte Oktober 1989 kauft ihn die Bundesregierung frei. [58]

Im Westen wie im Osten registrieren viele Bewohner des Grenzgebiets die nächtlichen Schüsse. Ein West-Berliner Zeuge berichtet der Polizei, er habe mindestens zehn Schüsse gehört und gesehen, wie zwei Männer, von denen einer leblos am Boden lag, abtransportiert wurden. [59] West-Berliner Tageszeitungen berichten tags darauf über den gescheiterten Fluchtversuch. [60]

Auch die Mutter von Chris Gueffroy hat die Schüsse gehört. Zwei Tage danach besucht sie einer seiner Freunde. Von ihm erfährt sie von dem Fluchtvorhaben ihres Sohnes – und dass möglicherweise ihm die Schüsse in der vorletzten Nacht gegolten haben könnten. Noch am selben Abend wird sie zur „Klärung eines Sachverhalts" von der Staatssicherheit abgeholt. Erst im Verlauf stundenlanger Vernehmungen erfährt sie, dass ihr Sohn tot ist. Die Stasi-Mitarbeiter erzählen ihr, Chris Gueffroy wäre bei einem Angriff auf eine „militärische Sicherheitszone" der DDR schwer verletzt worden und „trotz sofort einsetzender medizinischer Versorgung" ums Leben gekommen. [61]

Obwohl die DDR-Behörden alles versuchen, um den Tod von Chris Gueffroy zu verheimlichen, gelingt es seinem Bruder, in der „Berliner Zeitung" vom 21. Februar 1989 eine Todesanzeige für ihn aufzusetzen, in der auf einen „tragischen Unglücksfall" am 6. Februar Bezug genommen wird. Westmedien bringen den Toten dadurch in Verbindung mit den damaligen Schüssen an der Grenze. [62] Unter großer Anteilnahme wird Chris Gueffroy am 23. Februar 1989 auf dem Friedhof Baumschulenweg in Berlin-Treptow beigesetzt. Unter den Augen der Staatssicherheit geben ihm weit über einhundert Menschen das letzte Geleit. Trotz umfangreicher Kontrollmaßnahmen der Staatssicherheit [63] gelingt es einigen West-Korrespondenten in der DDR, an der Beerdigung teilzunehmen und darüber zu berichten. [64] Noch am gleichen Tag wird auf der West-Berliner Seite des Teltowkanals in Neukölln ein Mahnkreuz zum Gedenken an Chris Gueffroy errichtet. [65] Mitglieder oppositioneller Gruppen in der DDR machen die Ermordung von Chris Gueffroy in einem „offenen Brief an die Bevölkerung der DDR" bekannt. Dass der Mord noch vom Begräbnisredner als „tragischer Unglücksfall" bezeichnet wurde, zeige den Zustand der Lüge, in dem sich die DDR befinde, in besonders beschämender Weise auf. [66]

Nach dem Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 setzt Karin Gueffroy alle Hebel in Bewegung, um den Tod ihres Sohnes aufzuklären. Am 12. Januar 1990 erstattet sie beim DDR-Generalstaatsanwalt Strafanzeige gegen Unbekannt. [67] Nach der Vereinigung beider deutscher Staaten übernimmt die Zentrale Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität die Untersuchungen. Unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit erhebt die Staatsanwaltschaft Berlin am 27. Mai 1991 Anklage gegen vier frühere DDR-Grenzsoldaten wegen der Schüsse auf Chris Gueffroy. Damit beginnt der erste einer Vielzahl von Prozessen gegen die Todesschützen an der Berliner Mauer und deren Vorgesetzte. Am 20. Januar 1992 fällt das Berliner Landgericht sein Urteil: Der Todesschütze wird wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. [68] Die übrigen Angeklagten werden zu Bewährungsstrafen verurteilt bzw. freigesprochen. Die Höhe des Strafmaßes für den Todesschützen wird vom Gericht damit begründet, dass die Erschießung von Chris Gueffroy „ein besonderes Maß an Gefühlskälte und Verwerflichkeit erkennen" lasse. [69]

Der Bundesgerichtshof hebt das Urteil am 14. März 1994 auf und verweist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an eine andere Kammer des Landgerichts Berlin. [70] Er hält dem Landgericht Berlin vor, es habe nicht ausreichend berücksichtigt, dass der Todesschütze in der militärischen Hierarchie ganz unten stand und im Gegensatz zu den noch nicht zur Verantwortung gezogenen Funktionsträgern „in gewisser Weise auch Opfer des Grenzregimes gewesen" sei. [71] Mit diesem Urteil wird ein Präzedenzfall geschaffen, nahezu alle kommenden Verfahren folgen dieser die Mauerschützen entlastenden Rechtsprechung. Nur der Todesschütze Ingo H. wird in einer Folgeverhandlung vom Landgericht Berlin zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe verurteilt, die nun auf Bewährung ausgesetzt wird; sein Postenführer kommt „mangels festzustellenden Tötungsvorsatzes" straffrei davon.

Die Erschießung von Chris Gueffroy droht die SED-Führung im Frühjahr 1989 politisch zu isolieren; Proteste und diplomatische Schritte gegen den Schießbefehl an der Mauer reißen nicht ab. Am 3. April 1989 weist SED-Generalsekretär Erich Honecker an, den Schießbefehl, dessen Existenz offiziell immer bestritten worden war, nicht länger anzuwenden. [72] Die Schüsse auf Chris Gueffroy und Christian G. sind die letzten Todesschüsse an der Berliner Mauer.

An Chris Gueffroy erinnert heute eine Gedenksäule, die anlässlich seines 35. Geburtstages im Jahr 2003 am Britzer Zweigkanal in Berlin-Treptow errichtet wurde. Die Britzer Allee zwischen Treptow und Neukölln wurde am 13. August 2010 in Chris-Gueffroy-Allee umbenannt.

Text: Udo Baron/Hans-Hermann Hertle

RIAS-Bericht über die Beerdigung von Chris Gueffroy, 23. Februar 1989
(Quelle: Archiv Deutschlandradio, Sendung: RIAS-Spätreport, Reporter: Ulrich Leithold)
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