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Todesopfer

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Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

René Gross

geboren am 1. Mai 1964
erschossen am 21. November 1986


in Höhe der Karpfenteichstraße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln

Gross, René

René Gross, geboren am 1. Mai 1964 in Ost-Berlin, ist von Beruf Kraftfahrer und arbeitet im VEB Kühlautomat Berlin. Aus seiner „ablehnenden Haltung zur DDR" macht er keinen Hehl. [33] 1985 heiratet er; im selben Jahr stellt er einen Antrag auf Übersiedlung in die Bundesrepublik. Ausreiseanträge wurden zwar von den zuständigen Stellen – den Abteilungen Inneres der Räte der Kreise – entgegengenommen, doch erfuhr man selten, ob sie überhaupt jemals genehmigt würden, es sei denn, die Genehmigung stand unmittelbar bevor. Mit einem Ausreiseantrag zu leben hieß, zwischen Hoffnung und Resignation in Unsicherheit darüber zu existieren, wo und wie man die nächsten Jahre zubringen würde. René Gross hält diese Abhängigkeit von der Gnade der Behörden nicht aus. Er will über seine Zukunft selbst bestimmen. Seine Frau jedoch auch: Sie möchte mit dem sechsjährigen Sohn lieber in der DDR bleiben. [34] Als René Gross den 38-jährigen Manfred Mäder kennen lernt, der ebenfalls einen Ausreiseantrag gestellt hat, sind die beiden Männer sich bald einig, ihren Familien voraus nach West-Berlin zu fliehen. [35] Dass anderen aus ihrem Bekanntenkreis die Flucht gelang, mag sie in ihrem Vorhaben zusätzlich bestärkt haben. [36]
René Gross, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto vom Fluchtfahrzeug an der Grenzmauer in Berlin-Treptow in Höhe der Karpfenteichstraße, 21. November 1986
Am 20. November 1986 verabschiedet sich René Gross mittags von seiner Frau mit der Bemerkung, „er wolle nur etwas erledigen und komme gleiche wieder". [37] Zusammen mit Manfred Mäder entwendet er in der Nacht einen LKW „W 50" mit einem Hebebühnenaufbau, der annähernd die Höhe der Mauer hat. [38]

René Gross, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto vom durchbrochenen Grenztor in Berlin-Treptow in Höhe der Karpfenteichstraße, 21. November 1986
Am frühen Morgen gegen 5.00 Uhr rasen die beiden Männer auf gerader Straße mit hoher Geschwindigkeit auf die Grenze zu, wo sie die Berliner Stadtteile Treptow und Neukölln trennt. Sie durchbrechen ein Grenztor in der Hinterlandsicherungsmauer und den Signalzaun. Nach einer scharfen Rechtskurve kommt das Fahrzeug parallel zum Grenzverlauf am Sockel der Betonmauer zu West-Berlin zum Stehen. [39] Von zwei Wachtürmen aus und von herbeieilenden Grenzern wird Dauerfeuer geschossen, bis beide Flüchtlinge tot bzw. schwer verletzt am Boden liegen. René Gross, der die Flucht aufgegeben hat und unter dem LKW Feuerschutz sucht, wird durch einen Kopfschuss getötet. Manfred Mäder, der von den Aufbauten des LKW aus auf die Mauerkrone gesprungen ist, trifft eine Kugel in den linken Oberschenkel. Er fällt auf die Ostseite zurück und verblutet. [40]

Die beteiligten Grenzsoldaten werden vom Dienst abgelöst, noch am selben Tag ausgezeichnet – unter anderem mit der „Verdienstmedaille der Grenztruppen der DDR" in Bronze – und zu einem Bankettessen eingeladen. [41] Ein Ermittlungsverfahren der DDR-Militärstaatsanwaltschaft wird zwei Monate später mit der Begründung eingestellt, es handele sich um tödliche Verletzungen „infolge selbstverschuldeter Handlungen". Die Schüsse auf René Gross bleiben auch im vereinigten Deutschland ungesühnt. Knapp 18 Jahre nach dem Fluchtversuch verurteilt das Berliner Landgericht zwar den Todesschützen von Manfred Mäder wegen Totschlags zu einer zehnmonatigen Freiheitsstrafe auf Bewährung. [42] Wer jedoch René Gross erschossen hat, kann nicht mehr geklärt werden.

René Gross, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto vom Fluchtfahrzeug, 21. November 1986
Anwohner des West-Berliner Bezirks Neukölln werden gegen 5.00 Uhr durch „’detonationsartige Geräusche’, begleitet von Schüssen aus Maschinenpistolen" aus dem Schlaf gerissen. [43] West-Berliner Polizei und Zoll versuchen, Aufschluss über das Geschehen zu erlangen, doch sie können den Fluchtort nicht einsehen. Angesichts der starken Präsenz auf West-Berliner Seite verzichten Grenztruppen und Staatssicherheit aus „politisch-operativen Gründen" auf die Untersuchung des Tatortes und beseitigen alle vorhandenen Spuren. [44] Um einen möglichen „Informationsabfluss" zu unterbinden, sperrt die Stasi die öffentliche Telefonzelle im betroffenen Grenzregiment [45], lässt die beteiligten Grenzsoldaten Schweigeverpflichtungen unterschreiben und kontrolliert ihre Post. Die Ehefrauen der Getöteten werden mit dem Ziel der „Einflußnahme zur Verhinderung eines DDR-schädlichen Verhaltens" überwacht. [46]

Am Morgen des 21. November 1986 hört die Frau von René Gross aus dem Westradio von einem missglückten Fluchtversuch im Grenzbereich zwischen Treptow und Neukölln. Sie ahnt, dass es sich um ihren Mann handeln könnte. Im Präsidium der Volkspolizei in Berlin-Mitte erfährt sie noch am selben Abend vom Tod ihres Mannes. Es folgt für sie eine Zeit der Vernehmungen und der Überwachung durch die Staatssicherheit, die hofft, auf diese Weise nähere Informationen über die Fluchtvorbereitungen gewinnen zu können. Der Kontakt zur Witwe von Manfred Mäder wird ihr durch die Staatssicherheit untersagt. [47]

René Gross wird kurz darauf auf dem Friedhof in Berlin-Mahlsdorf beigesetzt. [48]

Text: Udo Baron

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