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Michael Schmidt: geboren am 20. Oktober 1964, erschossen am 1. Dezember 1984 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer (Aufnahmedatum unbekannt)
Michael Schmidt, erschossen an der Berliner Mauer: Gedenkstein in der Bernauer Straße in Berlin-Wedding, Aufnahme 2005

Michael Schmidt

geboren am 20. Oktober 1964
erschossen am 1. Dezember 1984


an der Schulzestraße, in der Nähe des S-Bahnhofs Wollankstraße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Pankow und Berlin-Reinickendorf
Mit der Leiter überquert er den Signalzaun und löst dabei optischen und akustischen Alarm aus. Spätestens jetzt wird er vom etwa 100 Meter entfernten Postenturm aus bemerkt. Ein Posten eröffnet vom Turm aus das Feuer, der andere klettert herunter und feuert vom Boden aus. Michael Schmidt hat bereits das letzte Sperrelement erreicht, er hat die Leiter angelehnt und ist hinaufgeklettert; mit einem Arm hält er die Mauerkrone schon umklammert, da treffen ihn Schüsse in den Rücken und ins Knie.Michael Schmidt, geboren am 20. Oktober 1964 in Bernau bei Berlin, wächst zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester in Schwanebeck bei Berlin auf. Nach seiner Schulzeit absolviert er in einem Pankower Baureparaturbetrieb eine Ausbildung zum Zimmermann. Nach den Schilderungen seines Vaters ist er ein Junge, der mit seiner Meinung nie hinter dem Berg hält. [1] Als ihn das Wehrkreiskommando Bernau drängt, sich für drei Jahre zur Nationalen Volksarmee zu verpflichten, verweigert er sich; auch den Grenzdienst lehnt er kategorisch ab. Er denke nicht daran, „unbewaffneten Leuten in den Rücken zu schießen", soll er den Werbern geantwortet haben. [2]

Gegenüber Arbeitskollegen äußert er nun gelegentlich die Absicht, in den Westen fliehen zu wollen. Vor dem Hintergrund der ersten großen Ausreisewelle aus der DDR im Verlauf des Jahres 1984 verdichten sich seine Absichten, auch einen Ausreiseantrag zu stellen. Nach Gesprächen mit den Eltern und eingedenk der in der DDR üblichen Praxis der „Sippenhaft" verzichtet er mit Rücksicht auf seinen studierenden Bruder darauf. [3]

Im November 1984 ist Michael Schmidt mit seinem Baureparaturbetrieb in unmittelbarer Grenznähe beschäftigt: Wohnhäuser in der Pankower Wollank- und Schulzestraße werden rekonstruiert. Aus den oberen Etagen kann er die Grenzanlagen eingehend studieren. Am 30. November besucht er mit Freunden die Diskothek eines Jugendclubs in Pankow. Seinen Freunden prägt sich in der Erinnerung an diesen Abend ein, dass er den Eindruck erweckte, als würde er sich für eine längere Zeit verabschieden wollen. [4] Noch vor Mitternacht verlässt er die Diskothek. In den frühen Morgenstunden des 1. Dezember verschafft er sich mit einer zweiten, bislang unbekannt gebliebenen Person Zugang zu einem jener Häuser an der Grenze, an denen er mit seinen Kollegen arbeitet. Von seiner Baustelle holt er zwei Holzleitern, die dort bereitstehen.

Er überwindet die Mauer zu einem Hinterhof und von dort aus das erste Grenzhindernis, wobei ihm sein Begleiter nicht mehr folgt. Mit der Leiter überquert er den Signalzaun und löst dabei optischen und akustischen Alarm aus. Spätestens jetzt wird er vom etwa 100 Meter entfernten Postenturm aus bemerkt. Ein Posten eröffnet vom Turm aus das Feuer, der andere klettert herunter und feuert vom Boden aus. Michael Schmidt hat bereits das letzte Sperrelement erreicht, er hat die Leiter angelehnt und ist hinaufgeklettert; mit einem Arm hält er die Mauerkrone schon umklammert, da treffen ihn Schüsse in den Rücken und ins Knie. Er rutscht ab, verfängt sich mit einem Fuß in den Sprossen und stürzt zu Boden. [5] „Was machst du denn für einen Scheiß?", will einer der Schützen aufgeregt zu Michael Schmidt gesagt haben, der darauf nur geantwortet haben soll: „Jetzt habt ihr mich doch gekriegt." [6]

Ost-Berliner Augenzeugen, die die Staatssicherheit damals zum Schweigen verpflichtete, berichten nach der Wende, dass außer den zwei Schützen noch drei weitere Grenzer hinzugekommen seien und einer von ihnen den am Boden liegenden Verletzten prüfend mit dem Fuß angestoßen habe. [7] Daraufhin habe man ihn an den Beinen zum Kolonnenweg geschleift, dort in ein Militärfahrzeug verladen und aus dem Blickfeld geschafft. Im Sichtschutz des Wachturms wird der Verletzte abgelegt. Obwohl Michael Schmidt um Hilfe fleht, wird er lediglich zugedeckt. Es vergeht fast eine Stunde bis zur medizinischen Erstversorgung. Gegen 4.25 Uhr bringt ihn ein Sanitätswagen ins Volkspolizei-Krankenhaus nach Berlin-Mitte, gegen 6.20 Uhr erliegt er dort seinen Verletzungen. [8] Aus Geheimhaltungsgründen wird Michael Schmidt in den Krankenhaus-Unterlagen unter "XY" geführt, auf seinem Totenschein steht „Unbekannt". [9]

Bei einem „raschen Transport in eine Klinik und sofort eingeleiteten chirurgischen Hilfsmaßnahmen" hätte sein Leben nach einem 1991 gefertigten Gutachten der Universitätsklinik Berlin-Steglitz "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" gerettet werden können. [10] Ermittlungen der Berliner Staatsanwaltschaft wegen Tötung durch Unterlassen werden im März 1992 eingestellt, weil die Verantwortung für den verspäteten Einsatz des Krankenwagens und die Nichteinweisung in eine näher gelegene Klinik niemandem beweiskräftig zuzuordnen ist. [11]

Bewohner im West-Berliner Bezirk Wedding werden gegen 3.15 Uhr von den Schüssen auf Michael Schmidt aus dem Schlaf gerissen. Augenzeugen der West-Berliner Polizei und der französischen Gendarmerie beobachten von einem Hochstand aus, wie Grenzposten den Ereignisort absuchen und den Verletzten abtransportieren. [12] Während Bundesregierung, West-Berliner Senat und die Westalliierten „mit Empörung und scharfen Protesten" [13] auf die Schüsse an der Mauer reagieren, feiert die DDR am 1. Dezember 1984 ungerührt den 38. Jahrestag ihrer Grenztruppen.

Am Morgen dieses Tages bemerken die Eltern von Michael Schmidt, dass sein Zimmer leer ist. Als die West-Nachrichten später von einem vermutlich tödlich verlaufenen Fluchtversuch in der Nähe des S-Bahnhofs Wollankstraße berichten, befürchten sie das Schlimmste. Voller Sorge suchen sie die Volkspolizei in Bernau und die Krankenhäuser der Umgebung auf, ohne etwas über den Verbleib ihres Sohnes zu erfahren. Vier Tage lang werden die Eltern von der Staatssicherheit hingehalten. Die Volkspolizei nimmt erst nach drei Tagen eine Vermisstenanzeige entgegen und startet zum Schein sogar eine Suchaktion. [14]

Am 4. Dezember 1984 werden die Eltern von der Staatssicherheit abgeholt, zur Militärstaatsanwaltschaft nach Berlin gebracht und dort über den Tod ihres Sohnes unterrichtet. Dabei belügt man sie über den Hergang seines Fluchtversuches. Ihr Sohn habe einen Angriff auf einen Grenzsoldaten unternommen, so dass dieser „praktisch in Notwehr gehandelt" hätte und von der Schusswaffe Gebrauch machen musste. „Trotz aller ärztlichen Bemühungen" sei das Leben ihres Sohnes nicht mehr zu retten gewesen. [15]

Unter der Androhung, ihrem verbliebenen Sohn das Studium unmöglich zu machen und alle Kontakte zur Westverwandtschaft zu unterbinden, übt die Staatssicherheit Druck auf die Eltern aus, um zu verhindern, dass Einzelheiten in der DDR und in den westlichen Medien bekannt werden. [16]

Bereits Mitte Dezember 1989 bemüht sich der Vater von Michael Schmidt bei der DDR-Staatsanwaltschaft um die Aufklärung der Todesumstände seines Sohnes. Intensive Ermittlungen werden jedoch erst nach der Vereinigung beider deutscher Staaten von der Berliner Staatsanwaltschaft eingeleitet. Die beiden Todesschützen, die noch am Ereignistag mit der „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst" und Geldprämien ausgezeichnet worden sind [17], werden vom Berliner Landgericht am 5. Februar 1992 zu Bewährungsstrafen von einem Jahr und sechs Monaten bzw. von einem Jahr und neun Monaten wegen gemeinschaftlichen Totschlags verurteilt. [18] „Sie wollten ihn nicht töten, erkannten aber die Möglichkeit eines tödlichen Treffers. Auch um diesen Preis wollten sie aber gemäß dem Befehl, den sie für bindend hielten, das Gelingen der Flucht verhindern", urteilt das Gericht. [19]

Der Tod von Michael Schmidt ist einer der Hauptanklagepunkte in den Verfahren gegen die Mitglieder des SED-Politbüros und des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, die zum Teil zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt werden. Ein Ermittlungsverfahren gegen die Verantwortlichen der DDR-Staatsanwaltschaft und des MfS wegen Rechtsbeugung und Begünstigung/Strafvereitelung jedoch muss mangels ausreichender Beweismittel im Jahr 1998 eingestellt werden. [20]

Begraben wird Michael Schmidt am 10. Dezember 1984 unter Aufsicht der Staatssicherheit auf dem Friedhof in Buch. Außer seinen Angehörigen und engen Freunden sind auch seine Arbeitskollegen beinahe vollzählig erschienen. Das MfS empfindet dies als Provokation und lässt sie maßregeln. [21]

Text: Udo Baron

[1] Vgl. Horst Schmidt, Kaltblütiger Mord, in: Werner Filmer/Heribert Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, München 1991, S. 35.
[2] Vgl. ebd. [3] Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung eines Freundes und Arbeitskollegen von Michael Schmidt durch die Berliner Polizei, 19.6.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 2, Bl. 113 b; Protokoll der Zeugenvernehmung eines Arbeitskollegen von Michael Schmidt durch die Berliner Polizei, 1.8.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 3, Bl. 96-97. [4] Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung eines Freundes und Arbeitskollegen von Michael Schmidt durch die Berliner Polizei, 19.6.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 2, Bl. 113-113 b.
[5] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Udo W. und Uwe H., Az. 2 Js63/90 KLs (57/91), vom 5.2.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 4, Bl. 234-236.
[6] Zit. nach: Ebd., Bl. 237. [7] Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung einer ehem. Anwohnerin des Grenzgebietes durch die Berliner Polizei, 16.4.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 2, Bl. 61-62; Protokoll der Zeugenvernehmung eines ehem. Anwohners des Grenzgebietes durch die Berliner Polizei, 25.4.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 2, Bl. 81-82. [8] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Udo W. und Uwe H., Az. 2 Js63/90 KLs (57/91), vom 5.2.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 4, Bl. 237-239.
[9] Vgl. ebd., Bl. 239. [10] Gutachten des Universitätsklinikums Steglitz betr. Ermittlungsverfahren gegen ehemalige Grenzsoldaten wegen Verdachts des Mordes, hier: Begutachtung von Schussverletzungen beim Opfer Michael Schmidt, 26.6.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 2, Bl. 34.
[11] Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin, Az. 2 Js 222/91, 26.3.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 222/91, Bd. 3, Bl. 171-185. [12] Vgl. Bericht der West-Berliner Polizei zum Ermittlungsverfahren wegen Totschlags durch unbekannte Angehörige der NVA, hier: Zwischenfall an der DL gegenüber der Einmündung Berlin 65, Nordbahnstraße/Wilhelm-Kuhr-Straße am 1.12.1984, 1.12.1984, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 1, Bl. 8-10.
[13] Welt am Sonntag, 2.12.1984; Berliner Morgenpost, 2.12.1984. [14] Vgl. Horst Schmidt, Kaltblütiger Mord, S. 36-38. [15] Ebd., S. 38. [16] Vgl. ebd, S. 39. [17] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Udo W. und Uwe H., Az. 2 Js63/90 KLs (57/91), vom 5.2.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 4, Bl. 239-240. Der Revisionsantrag der Verurteilten gegen dieses Urteil wird im November 1992 vom Bundesgerichtshof verworfen (Az. 5 StR 370/92 vom 3.11.1992). Beide Urteile sind dokumentiert in: Klaus Marxen/Gerhard Werle, Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Bd. 2, 1. Teilband, Berlin 2002, S. 103-155. – Zu den verschiedenen Prozessen im Fall Michael Schmidt vgl. Roman Grafe, Deutsche Gerechtigkeit. Prozesse gegen DDR-Grenzschützen und ihre Befehlsgeber, Berlin 2004, insbes. S. 85-88, 220-221, 300-302, 331-337.
[18] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin in der Strafsache gegen Udo W. und Uwe H., Az. 2 Js63/90 KLs (57/91), vom 5.2.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 63/90, Bd. 4, Bl. 220-221. [19] Vgl. ebd., Bl. 236. [20] Verfügung der Staatsanwaltschaft Berlin, Az. 28 Js 23/96, 25.6.1998, in: StA Berlin, Az. 28 Js 23/96, Bd. 2, Bl. 20-31. [21] Vgl. Horst Schmidt, Kaltblütiger Mord, S. 40.
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