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Todesopfer

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Silvio Proksch: geboren am 3. März 1962, erschossen am 25. Dezember 1983 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer, Aufnahmedatum unbekannt
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Silvio Proksch

geboren am 3. März 1962
erschossen am 25. Dezember 1983


am Städtischen Friedhof Pankow
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Pankow und Berlin-Reinickendorf
Silvio Proksch übersteigt den an die Hinterlandmauer angrenzenden Friedhofszaun. Als er gegen 19.30 Uhr den Grenzsignalzaun überwindet, löst er Alarm aus. Ein Grenzposten auf einem Wachturm wird auf ihn aufmerksam, ruft den Flüchtenden an und gibt zwei Warnschüsse ab. Doch Silvio Proksch läuft unbeirrt weiter in Richtung Betonmauer.Silvio Proksch, geboren am 3. März 1962 in Ost-Berlin, absolviert nach der Schule eine Maurerlehre und arbeitet dann in einer Bautischlerei. Zusammen mit seinem Bruder lebt er noch bei seinen Eltern im Ost-Berliner Stadtteil Pankow, neun weitere Geschwister sind schon aus dem Haus. Schon lange fühlt Silvio Proksch sich eingeengt von den Verhältnissen in der DDR, dennoch hat er vor seinem Fluchtversuch mit niemandem über konkrete Fluchtabsichten gesprochen. [1]

Am 25. Dezember 1983 verlässt Silvio Proksch zusammen mit seinem Bruder gegen 19.00 Uhr das Elternhaus. Beide sind erheblich alkoholisiert. Ohne irgendwelche Vorbereitungen getroffen zu haben, will Silvio Proksch nach West-Berlin flüchten. „Er sagte, er wolle seine Freiheit haben, es kotzt ihn alles an", berichtet sein Bruder später. [2] Nur die wichtigsten persönlichen Unterlagen nimmt er mit: seinen Personalausweis, seinen Facharbeiterbrief und seinen Sozialversicherungsausweis. Das Wetter scheint günstig für sein Vorhaben: Es regnet, und diesig ist es auch. Möglicherweise haben familiäre Streitigkeiten während des Weihnachtsfestes den letzten Anstoß für seinen Fluchtversuch geliefert. [3] Der Bruder versucht unterwegs, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

Als die Brüder beim alten Pumpwerk Niederschönhausen, nahe der Panke, den Bürgerpark Pankow erreichen, bleibt Silvio Prokschs Bruder vor dem Friedhof zurück, der unmittelbar an der Grenze gelegen ist. Silvio Proksch übersteigt den an die Hinterlandmauer angrenzenden Friedhofszaun. Als er gegen 19.30 Uhr den Grenzsignalzaun überwindet, löst er Alarm aus. Ein Grenzposten auf einem Wachturm wird auf ihn aufmerksam, ruft den Flüchtenden an und gibt zwei Warnschüsse ab. Doch Silvio Proksch läuft unbeirrt weiter in Richtung Betonmauer. Währenddessen beginnt der Grenzsoldat gezielt auf den Flüchtenden zu schießen. Eine Kugel trifft Silvio Proksch in die Hüfte, zerreißt die rechte Hüftschlagader und Schenkelvene. Er läuft noch mehrere Meter weiter, bricht dann aber kurz vor der Betonmauer zusammen. [4]

Geraume Zeit wird dem 21-Jährigen keine medizinische Hilfe gewährt. Silvio Proksch verblutet im Todesstreifen. [5] Bei seiner Einlieferung in das Volkspolizei-Krankenhaus in Berlin-Mitte kann gegen 21.15 Uhr nur noch sein Tod festgestellt werden. [6] In einem medizinischen Gutachten des Franziskus-Krankenhauses aus dem Jahr 1992 heißt es: „Man kann nur soviel mit Sicherheit sagen: Wäre der angeschossene junge Mann unverzüglich in ein normales Krankenhaus mit einer normal ausgebildeten Anästhesie und Chirurgie eingeliefert worden, so hätte die Ligatur von Arterie und Vene im Zusammenhang mit dem fachgerechten Blutersatz ihm höchstwahrscheinlich das Leben gerettet." [7]

Kurze Zeit später wird der Todesschütze für sein „mutiges und entschlossenes Handeln" mit der Verdienstmedaille der NVA-Grenztruppen in Bronze ausgezeichnet. [8] Anfang November 1994 verurteilt ihn das Landgericht Berlin wegen Totschlages zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten zur Bewährung. [9]

Silvio Prokschs Bruder wird Ohrenzeuge der Todesschüsse. Nach dem Abtransport seines Bruders sucht er die älteren Geschwister auf und erzählt ihnen, was geschehen ist. Nun warten die Angehörigen mit Bangen auf eine offizielle Benachrichtigung, doch niemand kommt mit der Todesnachricht zu ihnen. [10] Inzwischen hat eine Spezialkommission der Staatssicherheit den Fall übernommen. Da der Vorfall in West-Berlin nicht bemerkt worden ist, beschließt sie, die Todesschüsse zu verschleiern. Am 28. Dezember 1983 gibt eine der Schwestern von Silvio Proksch bei der Kriminalpolizei in Berlin-Pankow eine Vermisstenanzeige auf. Doch erst am 20. Januar 1984 erfolgt eine Reaktion. Eine andere Schwester und ihr Ehemann werden von der Staatssicherheit aufgesucht und zehn Stunden im Ost-Berliner Polizeipräsidium verhört, selbst ihren 14-jährigen Sohn unterzieht man in seiner Schule einem Verhör. In der Folgezeit werden auch alle anderen Familienangehörigen vernommen. Obwohl sie durch den Bruder wissen, was vorgefallen ist, leugnen die Stasi-Mitarbeiter einen Fluchtversuch am 25. Dezember 1983 und behaupten, es gäbe weder einen Toten noch einen Verletzten oder Inhaftierten namens Silvio Proksch. Zugleich droht das MfS den Angehörigen bei weiteren Nachforschungen strafrechtliche Schritte an: Sie würden sich der „Staatsverleumdung" schuldig machen. [11]

Kurz darauf wird Silvio Prokschs Bruder wegen Bagatellvergehen von der Staatssicherheit festgenommen und insgesamt mehr als zwei Jahre inhaftiert. Er muss sich schriftlich verpflichten, über den Fluchtversuch seines Bruders Stillschweigen zu wahren. Nach seiner Haftentlassung erhält er „Berlin-Verbot" und muss nach Eisenhüttenstadt an der Oder ziehen. [12]

Erst im August 1990 erfahren die Angehörigen nach zahlreichen Anzeigen und Eingaben auch offiziell vom DDR-Militärstaatsanwalt, was am 25. Dezember 1983 tatsächlich geschehen ist. Den Leichnam von Silvio Proksch übernahm am zweiten Weihnachtsfeiertag die Staatssicherheit. Sie brachte ihn ins militärgerichtsmedizinische Institut nach Bad Saarow. Er ist in keinem Sterberegister der DDR eingetragen und bleibt seit dem 30. Dezember 1983 spurlos verschwunden. [13]

Text: Udo Baron

[1] Vgl. zum Folgenden: Irene Agotz, Die Lügen der Stasi, in: Werner Filmer/Heribert Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, München 1991, S. 22. Zum folgenden Geschehensablauf siehe die Sachverhaltsfeststellungen in: Urteil des Landgerichts Berlin vom 9.11.1994, in: StA Berlin, Az. 2 Js 98/90, Bd. 5, Bl. 14 ff. Vgl. auch: Protokoll der Zeugenvernehmung des Bruders von Silvio Proksch durch die Berliner Polizei, 12.9.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 98/90, Bd. 2, Bl. 171/1-172/2. [2] Ebd., Bl. 172/2.
[3] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 9.11.1994, in: StA Berlin, Az. 2 Js 98/90, Bd. 5, Bl. 14-15; Irene Agotz, Die Lügen der Stasi, S. 22. [4] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 9.11.1994, in: StA Berlin, Az. 2 Js 98/90, Bd. 5, Bl. 15-21. [5] Vgl. ebd., Bl. 21-22.
[6] Vgl. Agotz, Die Lügen der Stasi, S. 25. [7] Gutachten des Franziskus-Krankenhauses zum Tötungsdelikt zum Nachteil Silvio Proksch, 18.2.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 98/90, Bd. 4, Bl. 7. [8] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 9.11.1994, in: StA Berlin, Az. 2 Js 98/90, Bd. 5, Bl. 22.
[9] Vgl. ebd., Bl. 1-2; zu den Prozessen vgl. Roman Grafe, Deutsche Gerechtigkeit. Prozesse gegen DDR-Grenzschützen und ihre Befehlsgeber, Berlin 2004, hier insbes. S. 197-200. [10] Vgl. Agotz, Die Lügen der Stasi, S. 22.
[11] Vgl. ebd., S. 22-24. [12] Vgl. Protokoll der Zeugenvernehmung des Bruders von Silvio Proksch durch die Berliner Polizei, 12.9.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 98/90, Bd. 2, Bl. 175-175/2. [13] Vgl. Agotz, Die Lügen der Stasi, S. 25.
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