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Klaus Schulze: geboren am 13. Oktober 1953, erschossen am 7. März 1972 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer (Aufnahmedatum unbekannt)

Klaus Schulze

geboren am 13. Oktober 1953
erschossen am 7. März 1972


in der Nähe von Falkenhöh, gegenüber der Exklave Eiskeller
am Außenring zwischen Falkensee (Kreis Nauen) und Berlin-Spandau
Mit Hilfe der Leiter überwinden Klaus Schulze und Dieter Krause den Signalzaun und lösen dabei, ohne es zu bemerken, Alarm aus. Klaus Schulze, der gebückt am hinteren Leiterende läuft, fällt über einen Stolperdraht. Dieter Krause erreicht als erster den letzten Zaun, einen circa 2,50 Meter hohen Streckmetallzaun auf einem Betongegensteilhang, und stellt die Leiter an. Vom Wachturm aus beginnt der Postenführer Dauerfeuer zu schießen.Klaus Schulze, geboren am 13. Oktober 1953 im westlich an Berlin angrenzenden Falkensee, versucht schon mit vierzehn Jahren, nach West-Berlin zu fliehen. Weil er noch nicht volljährig ist, wird gegen ihn kein Ermittlungsverfahren eingeleitet. [1] Die Gründe für diesen frühen Fluchtversuch können in den schwierigen Verhältnissen liegen, in denen er aufwächst. Von 1960 bis 1968 besucht Klaus Schulze die Geschwister-Scholl-Schule in Falkenhöh, bleibt aber in seinen schulischen Leistungen zurück. Die anschließende Berufsausbildung zum Rinderzüchter bricht er ab und schlägt sich mit Hilfsarbeiten durch. [2] Dort, wo er aufwächst, hat er keine beruflichen Ambitionen. Sein eigentliches Leben findet in einer Clique Gleichaltriger statt, die der Stasi als „Gammlergruppen" oder „negative Gruppierungen Jugendlicher" [3] gelten, die es zu dieser Zeit überall in der DDR gibt, und die alles Mögliche wollen, nur nicht so leben wie ihre Eltern. Einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen, gilt vielen in diesen Gruppen als spießig.

Wer jedoch in der DDR keiner „geregelten Arbeit" nachgeht, bekommt es mit dem Staat zu tun: Als Klaus Schulze und sein Freund Dieter Krause im Sommer 1971 aus dem VEB Stahl- und Walzwerk Hennigsdorf ausscheiden und drei Wochen lang keiner Arbeit nachgehen, werden sie vom Rat der Stadt Falkensee gemaßregelt und ultimativ aufgefordert, sich umgehend eine Arbeit zu suchen. Das sei ihre letzte Chance, „anständige Bürger zu bleiben und ordentlich zu arbeiten". [4] Am 5. März 1972 erhält Klaus Schulze erneut einen strengen Verweis wegen „Arbeitsbummelei". [5] Da die DDR-Behörden sowohl ihm als auch Dieter Krause bereits im Jahr zuvor mit der Einweisung in ein Arbeitserziehungslager gedroht haben, wollen sie nun so schnell wie möglich die DDR verlassen. [6]

Das Grundstück eines Freundes im benachbarten Falkenhöh liegt direkt an der Grenze. Nachdem die beiden jungen Männer den Grenzabschnitt von dort aus einmal bei Tag und einmal bei Nacht in Augenschein genommen haben, ist der Fluchtplan gefasst. Sie stellen fest, dass der Grenzstreifen hier zwar vom ca. 300 Meter entfernten Wachturm einsehbar zu sein scheint, aber durch Bewuchs auch Deckung bietet und obendrein eine Lampe der Kontrollstreifenbeleuchtung ausgefallen ist. [7]

Am späten Nachmittag des 7. März 1972 ziehen Klaus Schulze und Dieter Krause durch mehrere Falkenseer Lokale. Gegen 20.00 Uhr brechen sie zu Fuß nach Falkenhöh auf. Nachdem sie mehrere grenznahe Grundstücke überquert haben, erreichen sie auf dem Grundstück jenes Freundes, der nicht anwesend und in ihr Fluchtvorhaben nicht eingeweiht ist, den Hinterlandsicherungszaun aus Maschendraht. Eine 2,70 Meter lange Sprossenleiter finden sie im Schuppen. Die Leiter schieben sie durch den aufgebogenen Maschendraht, bevor sie sich selbst in die eigentlichen Grenzanlagen begeben. Mit Hilfe der Leiter überwinden sie den Signalzaun und lösen dabei, ohne es zu bemerken, Alarm aus. Klaus Schulze, der gebückt am hinteren Leiterende läuft, fällt über einen Stolperdraht. Dieter Krause erreicht als erster den letzten Zaun, einen ca. 2,50 Meter hohen Streckmetallzaun auf einem Betongegensteilhang, und stellt die Leiter an. Vom Wachturm aus beginnt der Postenführer Dauerfeuer zu schießen, sein Posten schließt sich kurz darauf der Feuerführung an. Dieter Krause gelingt es, im Kugelhagel den letzten Zaun zu überwinden. [8] Klaus Schulze, der durch seinen Sturz etwas zurückgeblieben ist, erleidet einen Steckschuss in die Brust, der ihm die Hauptschlagader und die Lungen zerfetzt. [9]

Im Frühjahr 1991 wenden sich die Geschwister von Klaus Schulze mit der Bitte an die Berliner Justizsenatorin, den Tod ihres Bruders aufzuklären. [10] Das daraufhin eingeleitete Ermittlungsverfahren führt im Herbst 1994 zur Anklageerhebung gegen die beiden Schützen. Wegen dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit wird das Verfahren gegen den Postenführer schließlich eingestellt. Der zweite Schütze macht im Prozess geltend, er habe absichtlich über die Leiter hinweg geschossen. Da ihm eine Tötungsabsicht und die Beteiligung an einem gemeinschaftlichen Totschlag nicht nachzuweisen sei, spricht das Landgericht Potsdam den Posten Anfang 1997 frei. [11]

Einen Tag nach dem Tod von Klaus Schulze wird seine Schwester zum Verhör einbestellt. Dabei wird ihr lediglich mitgeteilt, ihr Bruder wäre „unehrenhaft" verstorben. [12] Drei Tage nach den Ereignissen vom 7. März 1972 erfahren die Eltern durch einen Staatsanwalt und Mitarbeiter der Staatssicherheit, dass ihr Sohn „bei einem von ihm verschuldeten Grenzdurchbruchversuch tödlich verunglückt" sei. [13] Sie werden genötigt, sich mit einer Feuerbestattung einverstanden zu erklären. Gegen Quittung werden den Eltern als persönliche Gegenstände ihres Sohnes ausgehändigt: „1 Paar schwarze Herrenhalbschuhe". [14] Zugleich werden inoffizielle Mitarbeiter auf die Familie angesetzt und wird ihre Post kontrolliert, um „mögliche negative Reaktionen" in Erfahrung zu bringen und gegebenenfalls unterbinden zu können. [15]

Am 3. April 1972 wird die Urne mit der Asche von Klaus Schulze auf dem Friedhof in Falkensee beigesetzt. [16] Die Jugendlichen in Falkensee erfahren den Termin nicht: Sie wollten die Beerdigung zu einer Protestaktion gegen den Schießbefehl nutzen. [17]

Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle

[1] Vgl. Bericht des MfS/HA IX/4 über ein Vorkommnis im Bereich des 34. Grenzregimentes im Raum Falkensee/Ortsteil Falkenhöh, 9.3.1972, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 1038, Bl. 159-163, hier Bl. 161. [2] Vgl. hierzu und zum Folgenden: Abschlussbericht des MfS/KD Nauen zur VAO "Leiter", 13.6.1973, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 777/73, Bd. 2, Bl. 41-52, hier Bl. 46. [3] Sachstandsbericht des MfS/KD Nauen zum OVA "Leiter", 30.8.1972, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 777/73, Bd. 2, Bl. 5. [4] Schreiben des Rates der Stadt Falkensee/Abt. Inneres an den VEB Quarzschmelze, 12.8.1971, in: StA Neuruppin Az. 61 Js 39/94 (vormals StA Berlin, Az. 27 Js 134/90), Sonderheft, Bl. 33. [5] Vgl. Abschlussbericht des MfS/KD Nauen zur VAO „Leiter", 13.6.1973, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 777/73, Bd. 2, Bl. 44. [6] Vgl. MfS-Vernehmungsprotokoll des Beschuldigten Dieter K., 5.5.1974, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 485/75, STA 1645, Bd. 1, Bl. 45-46. – Nach seiner Verhaftung im Jahr 1974 gab Dieter Krause in einer „Stellungnahme zur Straftat" gegenüber der Stasi private und politische Motive für seine Flucht an, von denen einige typisch für seine Generation sein mögen: ständige Schwierigkeiten mit seinem Stiefvater; Probleme mit seinem Betrieb, von dem er sich als „Mädchen für alles" missbraucht fühlte; Ablehnung des Wehrdienstes in der NVA, „da ich niemals auf einen Menschen schießen könnte"; Hoffnung auf ein besseres Leben in Berlin-West bzw. in der Bundesrepublik; Wunsch nach Nähe zu seinem leiblichen Vater, der in West-Berlin wohnte (Dieter Krause, „Stellungnahme zur Straftat", Potsdam, 31.7.1974, in: Ebd., Bl. 93). [7] Vgl. ebd., Bl. 46-47. [8] Vgl. ebd., Bl. 47-48. – Dieter Krause fällt es schwer, im Westen Fuß zu fassen. Zwei Jahre nach seiner Flucht nach West-Berlin überwältigt ihn der Wunsch, seine Mutter wiederzusehen; zu seinem Vater und dessen zweiter Frau hat sich kein dauerhafter Kontakt entwickelt. Als er am 4. Mai 1974 „testweise" zu einem Tagesaufenthalt nach Ost-Berlin einreisen will, wird er am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße von der Stasi festgenommen. Das Kreisgericht Nauen verurteilt ihn am 19. September 1974 wegen „Republikflucht" zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten. Im Juni 1975 kauft ihn die Bundesregierung frei. Auch danach reist er häufiger von West- nach Ost-Berlin, wo er sich im November 1975 in die 24-jährige Marlis V. verliebt. Nicht weniger als 240 Mal besucht er sie 1976 in Ost-Berlin; Mitte des Jahres verloben sie sich. Offiziell dürfen West-Berliner nur an 30 Tagen in die DDR einreisen, doch die DDR-Behörden nehmen es offenbar zu dieser Zeit nicht so genau. Im August 1976 stellt Marlis V. beim Rat des Stadtbezirkes Pankow einen Antrag auf Eheschließung mit Dieter Krause und auf Wohnsitzwechsel nach West-Berlin. Im Dezember 1976 verhängen die DDR-Behörden plötzlich eine Einreise- und Transitsperre gegen Dieter Krause. Das Paar scheint getrennt, jedoch gelingen noch Treffen in Polen, bis Dieter Krause schließlich zurückgewiesen und kurze Zeit darauf der Personalausweis seiner Verlobten eingezogen wird. Dieter Krause wendet sich an das DDR-Innenministerium und an den Bundeskanzler – doch kurzfristige Hilfe scheint nicht in Sicht. Eine Trennung aber halten beide nicht aus. Ende Februar 1977 gelingt es ihm, mit einem von der polnischen Militärmission in West-Berlin ausgestellten Visum für Polen ein Transitvisum für die DDR zu erhalten, in Ost-Berlin den Zug zu verlassen und seine Verlobte aufzusuchen. Das Paar ist verzweifelt, weiß keinen Ausweg mehr. Zusammen begehen sie Selbstmord. Marlis V. ist im fünften Monat schwanger und hinterlässt aus erster Ehe einen achtjährigen Sohn (vgl. die ZDF-Sendung „Kennzeichen D", 22.3.1977, Typoskript in: BStU, MfS, HA IX Nr. 15591, Bl. 184-188; Bericht des MfS/HA IX/7 über den Stand der Untersuchungen zum Selbstmord der DDR-Bürgerin V., Marlis, und des Bürgers von Berlin (West) Krause, Dieter, Berlin, 14.3.1977, in: BStU, MfS, AS 420/80, Bd. 1, Bl. 266-272). [9] Vgl. Bericht des MfS/HA IX/4 über ein Vorkommnis im Bereich des 34. Grenzregimentes im Raum Falkensee/Ortsteil Falkenhöh, 9.3.1972, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 1038, Bl. 159-160; Obduktionsgutachten des GMI der Humboldt-Universität zu Berlin zu Klaus Schulze, Potsdam, 9.3.1972, in: BStU, Ast. Potsdam, AP 1113/76, Bl. 18-19. [10] Vgl. Schreiben des Bruders von Klaus Schulze an die Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach, 21.4.1991, in: StA Neuruppin, Az. 61 Js 39/94 (vormals StA Berlin, Az. 27 Js 134/90), Bd. 1, Bl. 82-84. [11] Urteil des Landgerichts Potsdam vom 5.2.1997, in: StA Neuruppin, Az. 61 Js 39/94 (vormals StA Berlin, Az. 27 Js 134/90), Bd.1, Bl. 373. [12] Vgl. Schreiben des Bruders von Klaus Schulze an die Berliner Justizsenatorin Jutta Limbach, 21.4.1991, in: StA Neuruppin, Az. 61 Js 39/94 (vormals StA Berlin, Az. 27 Js 134/90), Bd. 1, Bl. 83. [13] Den Eltern von Klaus Schulze von der Stasi abgenötigte „Erklärung", Potsdam, 10.3.1972, in: BStU, Ast. Potsdam, AP 1113/76, Bl. 40. [14] Ebd. [15] Bericht des MfS/HA IX/4 über ein Vorkommnis im Bereich des 34. Grenzregimentes im Raum Falkensee/Ortsteil Falkenhöh, 9.3.1972, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 1038, Bl. 163. [16] Vgl. Grabstellen-Ausweis für Klaus Schulze, in: StA Neuruppin Az. 61 Js 39/94 (vormals StA Berlin, Az. 27 Js 134/90), Bd. 1, Bl. 87. [17] Vgl. Bericht des MfS/KD Nauen zum Vorkommnis an der Staatsgrenze am 7.3.1972 und die dazu bemerkten Diskussionen, 8.4.1972, in: BStU, Ast. Potsdam, 777/73, Bd. 1, Bl. 155.
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