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Friedhelm Ehrlich: Gedenktafel in Berlin-Frohnau

Friedhelm Ehrlich

geboren am 11. Juli 1950
angeschossen und verblutet am 2. August 1970


in der Nähe der Leipziger Straße/Staerkstraße
am Außenring in Glienicke/Nordbahn (Kreis Oranienburg)

Ehrlich, Friedhelm

Friedhelm Ehrlich, geboren am 11. Juli 1950 im thüringischen Nägelstedt, wächst in Gräfentonna als Einzelkind bei seinen Eltern auf und erlernt den Beruf eines Maschinenschlossers. Im Mai 1969 wird er zur Nationalen Volksarmee einberufen. Anfang August 1970, wenige Wochen vor seiner Entlassung, dient er in der Grenzkompanie Glienicke/Nordbahn des Grenzregiments Schildow. [37] In einem nachträglichen Bericht der Staatssicherheit heißt es, dass Friedhelm Ehrlich nach Einschätzung seiner Vorgesetzten im Dienst „befriedigende Leistungen" zeigte, angeblich jedoch „Mängel in der militärischen Disziplin" aufgetreten seien. [38] Sein „labiles Verhalten in ideologischen Grundfragen" sei darauf zurückzuführen, dass er „Westliteratur" lese, „Beatgruppen verherrliche" und westliche „Feindsender" höre. [39]

Zu seinen Eltern hat Friedhelm Ehrlich ein enges Verhältnis. Regelmäßig schreibt er ihnen; noch am Tag nach seinem Tod trifft ein Brief von ihm in seinem Elternhaus ein. Später werden seine Eltern gegenüber der Berliner Staatsanwaltschaft berichten, ihr Sohn sei nicht unbedingt gerne Soldat gewesen, nichts habe jedoch auf eine Fluchtabsicht hingedeutet, auch nicht in seinem letzten Brief. [40]

Am sommerlich warmen Nachmittag des 2. August 1970 hat Friedhelm Ehrlich eigentlich Ausgang in Schildow. Dessen Bewilligung jedoch verzögert sich: Wegen einer „geringfügigen Undiszipliniertheit", wie es heißt, wird er außer der Reihe zum „Revierreinigen" abkommandiert. [41] Entsprechend geladen trifft er anschließend Angehörige seiner Einheit in einer Gaststätte. Gemeinsam mit dem Stubenkameraden, der mit ihm Putzdienst leisten musste, ebenfalls „Entlassungskandidat" ist und, wie Friedhelm Ehrlich, die geltenden Dienstvorschriften nicht mehr allzu ernst nimmt, zieht er im Verlauf des Abends durch die Lokale der Ortschaft; Rache für die ihnen widerfahrene Erniedrigung möchten sie gern nehmen. [42]

Auf dem Rückweg läuft Friedhelm Ehrlich plötzlich seinem Kameraden davon. Der glaubt, dass es der Kamerad wohl eilig gehabt habe, in die Kaserne zu kommen. [43] Doch Friedhelm Ehrlich begibt sich gegen 22.15 Uhr ins Grenzgebiet. Wie ein Flüchtling verhält er sich jedoch nicht: Mit einem lauten Geräusch zerbricht der angetrunkene 20-Jährige die Holzlatten des Hinterlandzaunes [44] und dringt laut pfeifend [45] bis zum Kolonnenweg vor. Dabei wird er von einem Grenzposten gehört und aufgefordert, stehen zu bleiben. Beim zweiten Anruf gehorcht er, wird festgenommen und Richtung Hinterland abgeführt. Dort muss er sich mit dem Gesicht zum Boden auf die Straße legen. Vom Alarmsignal gerufen, kommen zwei weitere Posten mit dem Krad und übernehmen den Flüchtling, der sie beschimpft und dabei jene NVA-speziellen Schimpfworte („Du Dachs", „Du Rotarsch") gebraucht, mit welchen die Neuankömmlinge in den Kasernen von den Entlassungskandidaten rituell bedacht werden.

Die beiden Posten bewachen den bäuchlings auf der unbeleuchteten Straße Liegenden aus ca. fünf Meter Abstand mit gesicherter Waffe. Es ist so dunkel, dass der Gefreite T. seinen Unteroffizier immer wieder bittet, mit der Taschenlampe den Arretierten anzuleuchten. [46] Dann soll Ehrlich sich plötzlich im Liegen aufgerichtet und unter der Androhung: „Los schieß, schieß doch oder ich schieße", mit einer der zunächst vorgestreckten Hände an eine Gesäßtasche gegriffen haben. „Aus dieser Geste und den erregten Bemerkungen des Ehrlich", heißt es in dem Stasi-bericht weiter, zog der Gefreite T. „die Schlussfolgerung, dass der Grenzverletzer eine Waffe mit sich führt und im Begriff ist, diese gegen ihn anzuwenden." [47] Der Gefreite entsichert und gibt aus nächster Nähe auf den Liegenden einen Schuss ab. Er trifft den Oberschenkel und die Hauptschlagader des linken Beines. Der Unteroffizier inspiziert daraufhin den Verletzten, stellt fest, dass er keine Waffe trägt, und nimmt ihm die Papiere ab. Erste Hilfe leistet er offenbar nicht. Zwanzig Minuten später kommt der Krankentransport. Friedhelm Ehrlich wird ins Volkspolizei-Krankenhaus gebracht, wo er wenig später stirbt. Er ist verblutet. [48]

Der so von der Stasi überlieferte Tathergang lässt einige Fragen offen: Wie konnte der Gefreite T. in der Dunkelheit sehen, was der vor ihm liegende Gefreite Ehrlich tat? Und: Musste er nicht wissen, dass ein Gefreiter im Ausgang nie und nimmer eine Waffe bei sich tragen konnte? Und: Warum wurde dem Verletzten keine Erste Hilfe geleistet? Die starke Blutung, an der er zuletzt gestorben ist, hätte sich vermutlich vor Ort unterbinden lassen. Und: Wenn der Entlassungskandidat Ehrlich hätte fliehen wollen, wäre dafür während eines Einsatzes an der Grenze nicht die günstigere Gelegenheit gewesen?

Weder die Briefe an seine Eltern noch die Gespräche mit seinen Stubenkameraden geben Hinweise auf Fluchtabsichten von Friedhelm Ehrlich. Auch im Rückblick halten seine Angehörigen und Freunde einen Fluchtversuch schon allein deshalb für ausgeschlossen, weil seine Dienstzeit nicht einmal mehr drei Monate betrug. Sie vermuten vielmehr, dass der 20-Jährige die Grenzposten nur provozieren wollte oder sich möglicherweise auch nur verlaufen haben könnte, befand sich doch seine Kaserne nur gut 100 Meter von der Grenze entfernt. [49]

Ein Militärstaatsanwalt unterrichtet am 3. August 1970 die Eltern über den Tod von Friedhelm Ehrlich und übergibt ihnen neben der Sterbeurkunde dessen persönliche Unterlagen. In der darauf folgenden Nacht erscheinen zwei Männer, die sich als Angehörige der NVA ausgeben. Sie überbringen den Eltern eine Überführungsmitteilung zusammen mit einem Vorschuss in Höhe von 250,- Mark für die anstehenden Beerdigungskosten, die von der NVA übernommen werden.

Obwohl die offizielle Version „vereitelte Fahnenflucht" lautet, wird weder die elterliche Wohnung durchsucht, in der auch der Sohn wohnte, noch werden die Eltern vernommen, was in anderen Fällen unausweichlich war. Dieser merkwürdig schonende Umgang macht die Eltern stutzig. In den folgenden Jahren versuchen sie, die Hintergründe des Todes ihres Sohnes in Erfahrung zu bringen. Alles, was ihnen offiziell mitgeteilt wird, ist, dass der Fall abgeschlossen sei. Doch diese Auskunft befriedigt sie nicht. Ende 1990 erstatten sie bei der Staatsanwaltschaft in Berlin Strafanzeige und bitten um Aufklärung der Todesumstände. [50] Das daraufhin eingeleitete Ermittlungsverfahren wird Mitte Juni 1994 eingestellt, da dem Todesschützen, dem ehemaligen Gefreiten T., der zugleich inoffizieller Mitarbeiter der Staatssicherheit war, zugebilligt wird, in einer irrigerweise als Notwehr empfundenen Situation gehandelt zu haben. Dass für ihn von Friedhelm Ehrlich objektiv keine Gefahr für Leib und Leben ausging, sei dem Schützen nicht bekannt gewesen, meint die Staatsanwaltschaft. [51]

Die Ereignisse dieser Nacht bleiben auch auf West-Berliner Seite nicht unbemerkt. Rufe wie „Ihr seid alle Mörder, wir registrieren alles!", schallen den Grenzposten des Grenzregiments Schildow in der Nacht entgegen. [52]

Die Kameraden von Friedhelm Ehrlich werden von ihren Vorgesetzten zu einer Stellungnahme aufgefordert, die seine Erschießung rechtfertigt. Was wirklich vorgefallen ist und warum, wissen sie nicht. Dennoch verurteilen sie seinen angeblichen „Verrat" aufs Schärfste, zu dem es nur habe kommen können, weil er „der feindlichen Ideologie erlag. Er hat den freiwillig übernommenen Fahneneid […] gebrochen und dafür seine gerechte Strafe erhalten." [53]

Am 6. August 1970 wird der Leichnam von Friedhelm Ehrlich von Berlin nach Gräfentonna überführt. Kurz vor der Beerdigung dürfen die Eltern den Leichnam ihres Sohnes in der Leichenhalle des Friedhofs sehen. [54] Er ist so weit hergerichtet, dass äußerlich keine Verletzungen erkennbar sind.

Text: Martin Ahrends/Udo Baron

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