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Todesopfer

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Johannes Lange: geboren am 17. Dezember 1940, erschossen am 9. April 1969 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer, Aufnahmedatum unbekannt
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Johannes Lange

geboren am 17. Dezember 1940
erschossen am 9. April 1969


nahe der Fritz-Heckert-Straße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Kreuzberg
Von zwei Postentürmen aus wird das Feuer auf ihn eröffnet, auch die gerade eingetroffene Wachablösung feuert auf den Flüchtenden. Acht Grenzsoldaten geben insgesamt 148 Schuss auf Johannes Lange ab. Unmittelbar vor dem letzten Hindernis, der dreieinhalb Meter hohen Betonmauer, wird er hinterrücks von fünf Kugeln in Kopf, Hals, Nacken und Oberschenkel getroffen und ist sofort tot.Johannes Lange, geboren am 17. Dezember 1940 in Dresden, erlernt den Beruf eines Dekorationsmalers, und er ist freiwilliger Helfer der Volkspolizei, bis er selbst mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Am 31. März 1959 flieht er in die Bundesrepublik. [1] Zwei Jahre später, noch vor dem Mauerbau, kehrt er zurück. Als Grund gibt er gegenüber den DDR-Behörden an, dass er dem Wehrdienst in der Bundesrepublik entgehen wollte. Seine Flucht aus der DDR wird ihm dennoch nicht verziehen: Ein DDR-Gericht verurteilt ihn 1962 zu einer einjährigen Gefängnisstrafe, weil er sich durch "illegales Verlassen der Republik" zwei Jahre zuvor der Wehrerfassung in der DDR entzogen habe. Nach seiner Freilassung wird er angeblich "aus seinem Elternhaus verwiesen", so behauptet es ein Bericht der Staatssicherheit. Er zieht zu seiner Lebensgefährtin und deren Kindern nach Dresden. [2]
Johannes Lange, erschossen an der Berliner Mauer: Tatortfoto der West-Berliner Polizei mit eingezeichneten Schusseinwirkungen in Richtung Berlin-Kreuzberg, 9. April 1969
Als im Sommer 1968 die Beziehung, aus der ein gemeinsames Kind hervorgegangen ist, zerbricht und seine Einberufung zur Nationalen Volksarmee unmittelbar bevorsteht, entschließt sich Johannes Lange abermals zur Flucht. Anfang August versucht er über die Grenze der CSSR in die Bundesrepublik zu gelangen. Tschechoslowakische Grenzposten nehmen ihn fest und liefern ihn an die DDR aus, wo er im Oktober zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt wird. Er unterliegt von nun an einer generellen Reisesperre und arbeitet als Hilfsarbeiter in einem Dresdener Baukombinat, in dessen Ledigenwohnheim er untergebracht ist. Am 30. März 1969 wird er dort zum letzten Mal gesehen.

Zehn Tage später, am 9. April 1969, wird Johannes Lange von Grenzsoldaten dabei beobachtet, wie er in der Adalbertstraße/Ecke Fritz-Heckert-Straße in Höhe des Krankenhauses Berlin-Mitte das dortige Grenzgebiet zu West-Berlin inspiziert und sich wieder zurückzieht. [3] Es ist fast dunkel, als er gegen 22.00 Uhr zurückkehrt. Unbemerkt klettert er über den Hinterlandzaun und die Panzersperren. Als er den Signalzaun übersteigt, löst er Alarm aus. Farbige Leuchten helfen den Grenzern im Wachturm den Flüchtling zu orten.

Von zwei Postentürmen aus wird das Feuer auf ihn eröffnet, auch die gerade eingetroffene Wachablösung feuert auf den Flüchtenden. Acht Grenzsoldaten geben insgesamt 148 Schuss auf Johannes Lange ab. Unmittelbar vor dem letzten Hindernis, der dreieinhalb Meter hohen Betonmauer, wird er hinterrücks von fünf Kugeln in Kopf, Hals, Nacken und Oberschenkel getroffen und ist sofort tot.

Die Grenzer eilen herbei und schleifen den Toten hinter einen der Postentürme, um ihn den Blicken aus West-Berlin zu entziehen. Ein Rettungssanitäter vom benachbarten Krankenhaus Mitte will Erste Hilfe leisten, wird aber von den Grenzposten "sehr schroff abgewiesen", wie dem Bericht eines inoffiziellen Stasi-Mitarbeiters zu entnehmen ist. [4] Einige Tage darauf werden die beteiligten Grenzer ausgezeichnet und befördert; drei Soldaten erhalten als "Sachprämie" eine Armbanduhr. Einer der Schützen wird fast 30 Jahre später vom Berliner Landgericht wegen versuchten Totschlags zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und drei Monaten zur Bewährung verurteilt, den anderen ist nicht nachzuweisen, dass sie gezielt auf Johannes Lange schossen. Den verurteilten, damals gerade 19 Jahre jungen Mann belastete das Geschehen seinerzeit seelisch so sehr, dass er sich in ärztliche Behandlung begeben musste. Aus Unzufriedenheit über fehlende Meinungsfreiheit, staatliche Bevormundung und schlechte Wohnverhältnisse stellte er 1985 mit seiner Ehefrau einen Ausreiseantrag aus der DDR; im Mai 1989 durfte die Familie in den Westen übersiedeln. [5]

Aufgeschreckt vom Feuergefecht, beobachten in der Tatnacht zahlreiche Menschen in West- und Ost-Berlin die Ereignisse. Patienten des nahe gelegenen Krankenhauses Berlin-Mitte beschimpfen die Grenzposten als "Lumpen, Verbrecher, Mörder". [6] Die Staatssicherheit wird später versuchen, diejenigen, die "aus dem Krankenhaus geschimpft haben", ausfindig zu machen. [7] Zahlreiche Kugeln schlagen beiderseits des Grenzstreifens ein, der hier in einem Bogen verläuft. Im Ost-Berliner Krankenhaus Mitte klirrt eine Scheibe und ein Projektil fällt auf den Tisch im Aufenthaltsraum der Schwestern. Auch das West-Berliner Bethanienkrankenhaus im Stadtteil Kreuzberg wird getroffen, Fensterscheiben von nahe gelegenen Wohnungen gehen zu Bruch. Die Staatssicherheit registriert alle Einschüsse und resümiert: "Personenschaden entstand bei den gesamten Handlungen nicht." [8]

Einen Tag nach den tödlichen Schüssen auf Johannes Lange errichten West-Berliner am Ereignisort ein Holzkreuz und legen einen Kranz nieder. Die Inschrift der Schleife lautet: "Wir freien Bürger Berlins trauern um Dich. Wir vergessen Dich nicht". [9] Das "Studio am Stacheldraht" stellt ein für die Grenzer sichtbares Schild auf: "Soldat, mit deiner Schuld bleibst du allein." Ein Bundesbürger erstattet bei der DDR-Militärstaatsanwaltschaft gegen die Grenzposten Anzeige wegen Mordes. Einen Erfolg verspreche er sich dadurch nicht, teilt er der Zentralen Erfassungsstelle in Salzgitter mit, aber die DDR-Verantwortlichen sollten zumindest zur Kenntnis nehmen, "wie man in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik solche Taten betrachtet." [10] Neben der Bundesregierung und dem Berliner Senat verurteilen auch die drei alliierten Stadtkommandanten "diesen Fall erbarmungsloser Härte und Nichtachtung menschlichen Lebens." [11]

Am 15. April 1968 wird der Leichnam von Johannes Lange im Krematorium Baumschulenweg eingeäschert und kurze Zeit später auf dem Neustädtischen Friedhof in Dresden an der Urnenstelle seines Vaters beigesetzt [12]

Text: Udo Baron

[1] Vgl. Abschlußbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, Berlin, 2.5.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr. 4, Bl. 81-86. [2] Ebd., Bl. 83. [3] Vgl. hierzu und zum Folgenden: Urteil des Landgerichts Berlin vom 1.12.1998, in: StA Berlin, Az. 27 Js 80/92, Protokoll- und Urteilsband, Bl. 64a – 64o. [4] Information der VfS Groß-Berlin/Abt. VII/2, 2.5.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr. 4, Bl. 8. [5] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 1.12.1998, in: StA Berlin, Az. 27 Js 80/92, Protokoll- und Urteilsband, Bl. 64a – 64o. [6] Einzel-Information Nr. 355/69 des MfS/ZAIG über einen verhinderten Grenzdurchbruch mit tödlichem Ausgang für den Grenzverletzer im Bereich der Staatsgrenze Berlin-Mitte, Abschnitt Fritz-Heckert-Straße, am 9.4.1969, 11.4.1969, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 1779, Bl. 1-4, Zitat Bl. 2. [7] Maßnahmeplan des MfS, 10.4.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr. 4, Bl. 45. [8] Bericht des MfS/HA I/Abwehr/Unterabteilung 1. Grenzbrigade, 10.4.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr. 4, Bl. 33-36, Zitat Bl. 36. [9] Vgl. Telegramm der West-Berliner Polizei vom 11.4.1969, in: StA Berlin, Az. 27 Js 80/92, Bd.3, Bl. 78; BZ, 11.4.1969. [10] Vgl. Schreiben von Dieter W. an die DDR-Militärstaatsanwaltschaft und die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter, 12.4.1969, in: StA Berlin, Az. 27 Js 80/92, Bd. 3, Bl. 3 und 4. [11] Berliner Morgenpost, 10.4.1969. [12] Vgl. Abschlußbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, Berlin, 2.5.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr. 4, Bl. 84.
RIAS-Kommentar zur Erschießung eines Flüchtlings an der Mauer (Johannes Lange), 10. April 1969
(Quelle: Archiv Deutschlandradio, Sendung: RIAS-Aktuell/Rundschau am Abend, Kommentar: Friedrich Noppert)
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