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Herbert Mende: geboren am 9. Februar 1939, angeschossen am 8. Juli 1962 an der Berliner Mauer und am 10. März 1968 an den Folgen gestorben (Aufnahme etwa 1959/1960)
Herbert Mende: Erinnerungsstele westlich der Glienicker Brücke in Potsdam, gegenüber der Villa Schöningen

Herbert Mende

geboren am 9. Februar 1939
angeschossen am 8. Juli 1962

an der Glienicker Brücke
am Außenring in Potsdam

gestorben am 10. März 1968 an den Folgen der Schussverletzungen
Am ersten Samstag im Juli 1962 geht Herbert Mende abends zum Tanz aus. Vom Westen Potsdams zieht es den jungen Mann an das östliche Ende der Stadt: in das Jugendclubhaus "John Schehr", unweit des Todesstreifens und der streng bewachten, nur für alliiertes Militärpersonal passierbaren Glienicker Brücke. Auf deren anderer Seite – für die Potsdamer seit dem Mauerbau unerreichbar – liegt West-Berlin.Herbert Mende, geboren am 9. Februar 1939, wächst als jüngstes Kind der Eheleute Anastasia und Franz Mende mit seinen beiden älteren Schwestern im schlesischen Steinaugrund, dem heute polnischen Ligota Tulowicka, auf. Die Mutter flüchtet mit den Kindern 1945 nach Zieran in der Altmark, wo der Vater nach seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft zu ihnen stößt. Im Jahr 1957 zieht die Familie, die in der Zwischenzeit ein Kind von Ana Mendes Bruder als Pflegesohn aufgenommen hat, nach Potsdam um. Dort arbeitet Herbert Mende nach seiner Lehre im VEB Ausbau Potsdam als Fußbodenleger und Maurer. [1]

Am ersten Samstag im Juli 1962 geht Herbert Mende abends zum Tanz aus. Vom Westen Potsdams zieht es den jungen Mann an das östliche Ende der Stadt: in das Jugendclubhaus „John Schehr", unweit des Todesstreifens und der streng bewachten, nur für alliiertes Militärpersonal passierbaren Glienicker Brücke. Auf deren anderer Seite – für die Potsdamer seit dem Mauerbau unerreichbar – liegt West-Berlin.

Kurz nach Mitternacht verlässt er den Jugendclub, um noch den letzten Bus nach Hause zu erreichen. Am Schlagbaum der Glienicker Brücke sieht ein Zolloberassistent gegen 00.10 Uhr „eine männliche Zivilperson" auf sich zukommen. Er geht Herbert Mende entgegen. „Onkel, kannst Du mir nicht sagen, von wo der Bus nach Potsdam fährt", soll ihn der unter Alkoholeinfluss stehende junge Mann, nicht ohne Ironie, gefragt haben. Als der Zöllner ihm den Weg erklärt hat, geht Herbert Mende in Richtung Bushaltestelle – weg von der Grenze. Dabei soll er sich noch mehrfach umdreht und ihm zugerufen haben: „Dein Schießgewehr kannst Du herunternehmen und Deine Meinung auch ändern." [2]

Alles hätte ein gutes Ende nehmen können, wäre nicht zum gleichen Zeitpunkt eine Streife der Volkspolizei erschienen, die dem Unbekannten folgt, um ihn zu kontrollieren. Herbert Mende hat seinen Personalausweis nicht dabei und kann sich nur mit seiner Registrierkarte für den Wehrdienst ausweisen. Die Volkspolizisten beschließen, ihn „zwecks weiterer Überprüfung" ins Volkspolizeikreisamt bringen zu lassen. [3] Sie nehmen ihn zu einem Wachhäuschen mit, das unmittelbar am Schlagbaum der Glienicker Brücke gelegen ist, um ihn von dort abholen zu lassen. [4] Das kommt einer vorläufigen Festnahme gleich, was der 23-Jährige offenbar nicht realisiert. Herbert Mende hat vor dem Häuschen zu warten.

Als wenige Minuten später der von ihm erwartete Bus an seiner Endstation eintrifft und wendet, fragt der junge Mann die Volkspolizisten, ob sie noch etwas von ihm wollen. Und als er keine Antwort erhält, läuft er los, um seinen Bus zu erreichen. [5] Nun kommt einer der Volkspolizisten aus dem Wachhäuschen und ruft – so überliefert es Herbert Mende seinem Vater – in Richtung zweier in der Nähe patrouillierender Grenzposten: „Schießen! Schießen!" [6] Nach einem Warnschuss gibt einer der Grenzposten aus nur 30 Metern Entfernung zwei Schüsse auf den jungen Mann ab. [7]

In einer Unfallmeldung für seine Versicherungsanstalt hält Herbert Mende eine Woche später im Krankenbett den Ablauf der Ereignisse aus seiner Sicht fest: „Bin vom 7.7. – 8.7., 00.20 Uhr, im Jugendklubhaus zum Tanz gewesen. Hatte Alkohol zu mir genommen und wollte um 00.20 Uhr nach Hause mit dem Autobus. Als ich da die Haltestelle suchte, kamen die zwei Volkspolizisten und frugen, wohin ich wolle; ich sagte darauf: zur Bushaltestelle. Als die Polizei den Personalausweis verlangte, stellte ich fest, dass ich ihn vergessen hatte. Die Polizei nahm mich mit in das Sperrgebiet bis zum Schlagbaum und telefonierte; sie hatten meine Personalien schon vorher abverlangt und alles aufgeschrieben. Als ich den Bus kommen sah, lief ich mit der Hoffnung los, dass alles für mich erledigt war und wollte den Bus noch erreichen. Ich habe den Bus noch vor mir gesehen und da hat es geschossen und ich sank zusammen. Vor meiner Ohnmacht hörte ich noch eine Stimme, die sagte, das Schwein hat noch zu wenig abgekriegt." [8]

Herbert Mende wird in das Bezirkskrankenhaus in Potsdam eingeliefert. Dem energischen Widerspruch eines Oberarztes verdankt es der Schwerverletzte, dass er am darauf folgenden Tag nicht an das Armeelazarett in Drewitz ausgeliefert wird. Monatelang kann er die Schmerzen seiner Verletzungen kaum ertragen. Seine Becken- und Unterleibs-Schussverletzungen machen ihn mit 23 Jahren zum Invaliden. 124 Mark Rente monatlich werden ihm Anfang 1963 zuerkannt. [9]

Volks- und Grenzpolizei räumen gegenüber den Eltern offen einen „Unfall" ein. Der Vater darf sogar die Akten zum Vorfall einsehen. Ihnen entnimmt er, dass die Volkspolizei seinen Sohn gar nicht erst ins Sperrgebiet hätte bringen dürfen. [10] Ein interner Untersuchungsbericht des zu dieser Zeit noch für die Grenzpolizei zuständigen DDR-Innenministeriums kritisiert das „untaktische Verhalten" und das „ungenügende Zusammenwirken der Kräfte untereinander" und kommt zu dem Schluss, dass die Anwendung der Schusswaffe „nicht erforderlich" gewesen sei. [11]

Gegenüber Herbert Mende und seiner Familie fehlt es den bewaffneten Organen an dieser Offenheit. Die „beim Unfall zugegen gewesenen VP-Angehörigen" treffe „keine Schuld", teilt die Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Potsdam dem Rechtsanwalt der Familie Mende mit; möge er sich doch an den Militärstaatsanwalt der 2. Grenzbrigade in Groß Glienicke wenden. [12] Der dort zuständige Militärstaatsanwalt H. wiederum bestreitet gegenüber der Familie jegliches schuldhafte Handeln des Schützen. Deshalb habe er auch kein Ermittlungsverfahren eingeleitet und sehe er keine Veranlassung, den Namen des betreffenden Grenzsoldaten mitzuteilen. [13]

Herbert Mende hat 1960 einen Vertrag mit der Deutschen Versicherungs-Anstalt (DVA) über eine kombinierte Unfall- und Krankentagegeldversicherung abgeschlossen. Für ihn und seine Eltern beginnt ein jahrelanger Kampf um die Auszahlung der Versicherungsleistungen, der erst im Juni 1966 mit der Begleichung der rechtsanwaltlichen und gerichtlichen Verfahrenskosten durch die DVA ein Ende findet. 10.000 Mark Schmerzensgeld und 16.000 Mark Invaliditätssumme wegen vollständiger Erwerbsunfähigkeit werden ihm zugesprochen.

Nach 1990 löst Herbert Mendes Vater ein Ermittlungsverfahren gegen den Schützen aus. Für einen „Grenzverletzer" konnte der Grenzposten den jungen Mann schwerlich gehalten haben, da er sich nicht in Richtung West-Berlin, sondern in Richtung Potsdam bewegte. Weil dem Schützen eine Tötungsabsicht aber nach Ansicht der Staatsanwaltschaft nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, wird das Verfahren im Herbst 1996 eingestellt. [14] Auf Beschwerde des Vaters werden die Ermittlungen noch einmal aufgenommen. Neuerliche Einlassungen des Schützen, dass er Herbert Mende nicht erschießen, sondern ihm nur einen Schrecken einjagen wollte, er aus der Hüfte geschossen, aber die Waffe in Richtung Boden gehalten habe, veranlassen die Staatsanwaltschaft, ihm zuzubilligen, „daß er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die Gefährlichkeit seines Verhaltens nicht einmal erkannt, geschweige denn ernst genommen hat". [15] Mit Schreiben vom 25. Februar 1997 stellt sie deshalb das Verfahren zugunsten des Täters zum zweiten Mal ein. Doch Franz Mende lässt dagegen erneut Beschwerde einlegen und erinnert daran, dass im Fall seines Sohnes von einem Fluchtversuch, der „irgendeinen Einsatz einer Schusswaffe gerechtfertigt" haben könnte, keine Rede sein könne. [16] Der Generalstaatsanwalt des Landes Brandenburg ist anderer Meinung: Dem Schützen sei nicht zu widerlegen, schreibt er Franz Mende, dass er „Ihren Sohn – fälschlicherweise – für einen damals sog. ‚Grenzverletzer’ hielt, noch ist beweisbar, dass er den Tod Ihres Sohnes billigend in Kauf nahm, das heißt, vorsätzlich tötete." [17] Die Staatsanwaltschaft erhebe nur Anklage, wenn eine Verurteilung mit Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, nicht aber, wenn der Ausgang des Verfahrens unsicher sei und lediglich eine bloße Möglichkeit einer Verurteilung bestehe. Das Geschehen sei von „außergewöhnlicher Tragik und ich kann Ihren Schmerz darüber erahnen"; mangels Aussichten auf eine Verurteilung lehne er jedoch eine Anklageerhebung ab. [18]
Herbert Mende, angeschossen an der Berliner Mauer und an den Folgen gestorben: Grabstein auf dem Neuen Friedhof in Potsdam, Aufnahme Oktober 2008
Nach zweijährigem ununterbrochenem Krankenhausaufenthalt wird Herbert Mende im Sommer 1964 als Pflegefall nach Hause entlassen; seine Mutter muss ihre Berufstätigkeit aufgeben, um ihren Sohn versorgen zu können. [19] Nach langem qualvollem Leiden verstirbt Herbert Mende am 10. März 1968 im Potsdamer St. Josefs-Krankenhaus – einen Monat nach seinem 29. Geburtstag.

Text: Hans-Hermann Hertle

[1] Gespräch von Hans-Hermann Hertle mit Erika Neumann, der Schwester von Herbert Mende, 6.10.2008. [2] Untersuchungsbericht des DDR-Ministeriums des Innern/Bereitschaftspolizei/2. Grenzbrigade (b) zum Schusswaffengebrauch mit schwerer Körperverletzung am 8.7.1962 gegen 00.20 Uhr im Abschnitt der 1./I./2. Grenzbrigade an der Brücke der Einheit, 9.7.1962, in: BArch, DY 30/IV 2/12/76, Bd. 3, Bl. 286-290, Zitat Bl. 286/87. [3] Ebd., Bl. 287. [4] Ebd., Bl. 287. [5] Vgl. Vermerk der Staatsanwaltschaft Potsdam über eine Vorsprache von Franz Mende, 18.6.1991, in: Nachlass Franz Mende. [6] Protokoll der Zeugenvernehmung von Franz Mende durch die Berliner Polizei vom 8.4.1992, in: Nachlass Franz Mende. [7] Verfügung der Staatsanwaltschaft Neuruppin, 16.10.1996, in: Nachlass Franz Mende. [8] Unfallschaden-Anzeige von Herbert Mende an die Deutsche Versicherungs-Anstalt, 16.7.1962, in: Nachlass Franz Mende. [9] Vgl. Rentenbescheid für Herbert Mende ab 7.1.1963, in: Nachlass Franz Mende. [10] Protokoll der Zeugenvernehmung von Franz Mende durch die Berliner Polizei, 8.4.1992, in: Nachlass Franz Mende. [11] Untersuchungsbericht der MdI-Bereitschaftspolizei, 9.7.1962, in: BArch, DY 30/IV 2/12/76, Bd. 3, Bl. 286-290. [12] Schreiben der BdVP Potsdam an den Rechtsvertreter von Franz Mende, Rechtsanwalt Günter B., 9.10.1963, in: Nachlass Franz Mende. [13] Schreiben des Militärstaatsanwalts H. (Groß Glienicke) an den Rechtsvertreter von Franz Mende, Rechtsanwalt Günter B., 21.10.1963, in: Nachlass Franz Mende. [14] Verfügung der Staatsanwaltschaft Neuruppin, 16.10.1996, in: Nachlass Franz Mende. [15] Verfügung der Staatsanwaltschaft Neuruppin, 25.2.1997, in: Nachlass Franz Mende. [16] Beschwerde von Franz Mende gegen die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Neuruppin vom 25.2.1997, 1.4.1997, in: Nachlass Franz Mende. [17] Schreiben des Generalstaatsanwalts des Landes Brandenburg an Franz Mende, 27.2.1998, in: Nachlass Franz Mende. [18] Ebd. [19] Gespräch von Hans-Hermann Hertle mit Erika Neumann, der Schwester von Herbert Mende, 6.10.2008.
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