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Hans-Joachim Wolf: geboren am 8. August 1947, erschossen am 26. November 1964 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer (Aufnahme 1964)
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Hans-Joachim Wolf

geboren am 8. August 1947
erschossen am 26. November 1964


im Britzer-Zweigkanal
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln
Ohne den Flüchtenden zu warnen, beginnen sie mit dem Beschuss. Hans-Joachim Wolf wird sich der Gefahr bewusst: Er ruft den Posten zu, dass sie nicht mehr schießen sollen. Aber sein Versuch, den Fluchtversuch aufzugeben, wird von dem Postenpaar nicht beachtet. Von den insgesamt 61 Schüssen, die auf Hans-Joachim Wolf abgegeben werden, trifft ihn einer tödlich in die Brust.Der 17-jährige Hans-Joachim Wolf wird von seinen Eltern ein letztes Mal am 25. November 1964 gegen 8.00 Uhr gesehen. Die Eltern gehen zur Arbeit. Hans-Joachim Wolf muss zur Berufsschule, wo er an diesem Tag jedoch nicht erscheint. Stattdessen mietet er im Hotel Adlon ein Zimmer. [1]

In der Aktentasche, die er mit sich führt, befinden sich ein Schirm, Tabletten und ein Seil. Das Hotel Adlon liegt in unmittelbarer Nähe des Sperrgebiets am Brandenburger Tor. Offensichtlich denkt Hans-Joachim Wolf, dass er sich hier abseilen und über die Grenzanlagen nach West-Berlin gelangen kann. Seine Eltern machen sich derweil große Sorgen. Schon in dieser Nacht geben sie eine Vermisstenanzeige auf. [2]

Am darauf folgenden Tag entschließt sich Hans-Joachim Wolf gegen diesen vermutlichen Fluchtplan. Er hinterlegt seine Aktentasche in einem Schließfach am Alexanderplatz. [3] Am Abend wagt er an einer anderen Stelle die Flucht nach West-Berlin.

Von der Baumschulenstraße kommend, nähert er sich in Berlin-Treptow der Grenze, indem er die Kleingartenanlage „Silberlinde" durchquert und östlich des Heidekampgrabens den ca. 2,50 Meter hohen Stacheldrahtzaun am südlichen Ufer des Britzer-Zweigkanals überklettert. [4] Es ist 18.30 Uhr und bereits dunkel, als Hans-Joachim Wolf bei vier Grad Lufttemperatur in den Kanal springt. Vermutlich nimmt er an, dass zu dieser Jahreszeit keine Flucht durch das eiskalte Wasser erwartet wird und die Grenzsoldaten weniger achtsam sind.

Doch die Grenzposten, die sich unweit des Ufers befinden, entdecken ihn. Ohne den Flüchtenden zu warnen, beginnen sie mit dem Beschuss. Hans-Joachim Wolf wird sich der Gefahr bewusst: Er ruft den Posten zu, dass sie nicht mehr schießen sollen. Aber sein Versuch, den Fluchtversuch aufzugeben, wird von dem Postenpaar nicht beachtet. Von den insgesamt 61 Schüssen, die auf Hans-Joachim Wolf abgegeben werden, trifft ihn einer tödlich in die Brust. [5]

Auf der West-Berliner Seite wird der Vorgang gehört. Aufgrund des starken Beschusses sieht sich die West-Berliner Polizei gezwungen, den nahegelegenen Grenzübergang an der Sonnenallee von 18.30 bis 19.00 Uhr zu sperren, um so die an dem Übergang auf angehörige Rentner aus Ost-Berlin wartenden West-Berliner nicht zu gefährden. Am Tag darauf ist in der Presse zu lesen, dass ein unbekannter Flüchtling im Kugelhagel umgekommen ist. [6]

Hans-Joachim Wolf wohnt bis zu seinem Fluchtversuch bei seinen Eltern, einem Tankwart und einer Verkäuferin, in Berlin-Friedrichshain. Seit September 1964 absolviert er eine Lehre bei den Kabelwerken in Berlin-Köpenick. Seine Mutter gibt später als vermutlichen Grund für das Fluchtvorhaben an, dass ihr Sohn trotz guter Zeugnisse nicht die von ihm gewünschte Lehrstelle als Funk- und Fernmeldetechniker antreten durfte, da er sich nicht in den staatlichen Jugendverbänden engagierte. [7]

In einem Stasi-Bericht heißt es über Hans-Joachim Wolf: „Der Leumund des W. ist gut. Er tritt im Wohngebiet höflich, freundlich und entgegenkommend auf. Er wird als ein sehr sauberer und ordentlicher junger Mensch bezeichnet, der in seiner Kleidung sehr eigen ist. Er treibt sich nicht herum und wird als Einzelgänger bezeichnet. (…) Für unseren Arbeiter-und-Bauern-Staat zeigt er keine Sympathien. Er wäre, wenn die Grenzen noch offen wären, schon längst republikflüchtig geworden." [8] Zum Einzelgänger, so vermutet die Schwester, habe Hans-Joachim Wolf vermutlich sein Fluchtvorhaben gemacht. Sie erinnert sich an ihren Bruder als ausgesprochen kontaktfreudigen und fröhlichen Menschen, der viele persönliche und briefliche Freundschaften gepflegt habe. Auch sei sein Verhältnis zu den Eltern immer offen und gut gewesen. [9] Auch bei Diskussionen mit seinen Eltern vertritt Hans-Joachim Wolf die Meinung, dass die Lebensverhältnisse in West-Berlin und Westdeutschland besser seien als in der DDR. Er äußert aber keine konkreten Fluchtgedanken. [10] Vermutlich will er seine Eltern vor den Repressionen durch die Stasi bewahren, denen sie bei einer Mitwisserschaft ausgesetzt wären. Zudem möchte er sie sicher auch nicht beunruhigen, da seine vier Jahre ältere Schwester, die bereits 1961 nach West-Berlin geflüchtet war, noch immer unter den gesundheitlichen Folgen der Flucht leidet. Nur der Großmutter gegenüber erwähnt er im Sommer 1964, „dass er mal versuchen könnte, am Reichstagsufer nach West-Berlin zu gelangen." [11] Kurz vor seinem Verschwinden im November 1964 bereitet sich Hans-Joachim Wolf offensichtlich auf sein Fluchtvorhaben vor. Die Mutter beobachtet, wie ihr Sohn seine Sachen aufräumt und sämtliche Briefe seiner West-Berliner Freunde verbrennt. [12]

Sicher ist, dass Hans-Joachim Wolf bereits am 9. Dezember 1963 einen ersten Fluchtversuch unternimmt. Er versucht, mit einem Zug nach West-Berlin zu gelangen. Als er am Bahnhof Friedrichstraße aufgegriffen wird, gibt er an, dass er versehentlich in den falschen Zug gestiegen sei. Offensichtlich wird dieser Ausrede Glauben geschenkt, da die Angelegenheit nicht strafrechtlich verfolgt wird. [13]

Die Eltern erfahren erst zwei Tage nach dem Fluchtversuch vom Tod ihres Sohnes. Ihnen wird mitgeteilt, dass er durch einen Unglücksfall – „Ertrinken bei Verletzung der Staatsgrenze" – umgekommen sei. [14] Der genaue Todesort wird ihnen nicht genannt. Sie dürfen den Sohn weder ein letztes Mal sehen noch wird ihnen erlaubt, eine größere Trauerfeier abzuhalten. Hans-Joachim Wolf wird in Berlin-Baumschulenweg eingeäschert. Die Urnenbeisetzung findet auf dem Parochial-Friedhof in Berlin-Friedrichshain statt. [15]

Die Eltern schenken der ihnen mitgeteilten Version keinen Glauben. Sie wissen, dass ihr Sohn ein guter Schwimmer war. Zudem findet der Vater Blutspuren an der ihm übergebenen Uhr seines Sohnes. [16] Die Mutter versucht über eine in West-Berlin lebende Cousine zu erfahren, wie ihr Sohn tatsächlich umgekommen ist. [17] Auch die in München lebende Schwester von Joachim Wolf geht der Angelegenheit nach. Aus den Briefen ihrer Mutter erfährt sie, was sich zugetragen hat. Sie teilt die Vermutung ihrer Eltern, dass ihr Bruder bei dem Fluchtversuch nicht ertrunken, sondern erschossen worden ist. Die Schwester informiert den Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen in Berlin von dem Vorfall und macht im Februar 1965 eine Aussage bei der Münchner Polizei, die sie aber wenig später zurückzieht. Sie befürchtet, dass die in der DDR lebenden Eltern Schwierigkeiten bekommen. [18]

Erst im Jahre 1994, in einem Prozess vor dem Landgericht Berlin gegen die Todesschützen, wird der Tathergang aufgeklärt. Während das Verfahren gegen einen der ehemaligen Grenzsoldaten nach dessen Tod im März 1996 eingestellt wird, verhängt das Gericht gegen den zweiten Angeklagten im September des gleichen Jahres eine Strafe wegen Totschlags von einem Jahr und vier Monaten auf Bewährung. [19] Zu diesem Zeitpunkt sind die Eltern von Hans-Joachim Wolf bereits verstorben. [20]

Text: Lydia Dollmann

[1] Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. VIII über die Überprüfung des Gästebuches im Hotel Adlon, 27.11.1964, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 18287, Bl. 26; Kopie der Hotelrechnung, in: Ebd., Bl. 46. [2] Vgl. Anzeige über eine vermisste Person [Hans-Joachim Wolf] bei der Volkspolizei-Inspektion Friedrichshain/VPR 91, 26.11.1964, in: Ebd., Bl. 15-18. [3] Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung der Mutter von Hans-Joachim Wolf durch die Kriminalpolizeiinspektion Ingolstadt, 20.3.1981, in: StA Berlin, Az. 27 Js 87/90, Bd. 1, Bl. 83; Bericht der West-Berliner Polizei, 9.12.1964, in: Ebd., Bl. 50. [4] Vgl. Bericht des MfS/HA I/Abwehr/U. Abt. 1./GB/GR 37 über einen verhinderten Grenzdurchbruch am 26.11.1964, 26.11.1964, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 18287, Bl. 10-11. [5] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 27. 9.1996, in: StA Berlin, Az. 27 Js 87/90, Bd. 6, Bl. 6-7; Sektionsbericht in der Leichensache Hans-Joachim Wolf, 28.11.1964, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 18287, Bl. 52-66. [6] Vgl. Nacht-Depesche, 27.11.1964. [7] Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung der Mutter von Hans-Joachim Wolf durch die Kriminalpolizeiinspektion Ingolstadt, 20.3.1981, in: StA Berlin, Az. 27 Js 87/90, Bd. I, Bl. 87. Die Mutter von Hans-Joachim Wolf siedelte 1977 als Rentnerin in die Bundesrepublik über und sagte 1981 bezüglich des Todes ihres Sohnes gegenüber der Ingolstädter Polizei aus. [8] Ermittlungsbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. VIII/Referat II, 28.11.1964, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 18287, Bl. 27. [9] Vgl. Schreiben der Schwester von Hans-Joachim Wolf an Hans-Hermann Hertle, August 2008. [10] Vgl. Ergänzungsbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zur Grenzprovokation mit tödlichem Ausgang, 30.11.1964, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 18287, Bl. 75. [11] Bericht der West-Berliner Polizei, 8.12.1964, in: StA Berlin, Az. 27 Js 87/90, Bd. 1, Bl. 48. [12] Vgl. ebd., Bl. 47. [13] Vgl. Strafkartei-Überprüfung Hans-Joachim Wolf betreffend, 27.11.1964, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 18287, Bl. 25. [14] Vgl. Ergänzungsbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zur Grenzprovokation mit tödlichem Ausgang, 30.11.1964, in: Ebd., Bl. 75. [15] Vgl. ebd., Bl. 74-78. [16] Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung der Mutter von Hans-Joachim Wolf durch die Kriminalpolizeiinspektion Ingolstadt, 20.3.1981, in: StA Berlin, Az. 27 Js 87/90, Bd. 1, Bl. 83. [17] Vgl. Kopie des handschriftlichen Briefes der Mutter von Hans-Jürgen Wolf, 28.11.1964, in: Ebd., Bl. 44-45. [18] Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung der Schwester von Hans-Joachim Wolf durch die Polizeiinspektion München, 3.2.1965, in: Ebd., Bl. 59; Niederschrift der Zeugen-Vernehmung der Mutter von Hans-Joachim Wolf durch die Kriminalpolizeiinspektion Ingolstadt, 20.3.1981, in: Ebd., Bl. 84. [19] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 27.9.1996, in: Ebd., Bd. 6, Bl. 1-13. [20] Der Vater von Hans-Joachim Wolf starb 1966. Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung der Mutter von Hans-Joachim Wolf durch die Kriminalpolizeiinspektion Ingolstadt, 20.3.1981, in: Ebd., Bd. 1, Bl. 85; Anfrageschreiben der Schwester von Hans-Joachim Wolf an die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin, 4.8.1992, in: Ebd., Bd. 5, Bl. 1. – Die Mutter verstarb 1987 in Ingolstadt.
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