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Todesopfer

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Joachim Mehr: geboren am 3. April 1945, erschossen am 3. Dezember 1964 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer (Aufnahme um 1964)
Joachim Mehr: Erinnerungsstele in der Nähe des Naturschutzturmes der Deutschen Waldjugend

Joachim Mehr

geboren am 3. April 1945
erschossen am 3. Dezember 1964


bei Bergfelde
am Außenring zwischen Hohen Neuendorf (Kreis Oranienburg) und Berlin-Reinickendorf
In der Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 1964 wird im Norden von Berlin der Fluchtversuch von zwei jungen Männern mit Waffengewalt vereitelt. West-Berliner Polizei- und Presseberichten zufolge ist es 2.20 Uhr, als eine Zollstreife im Reinickendorfer Ortsteil Frohnau Feuerstöße hört und Leuchtkugeln aufsteigen sieht.„Im Scheine ihres Lichtes", so steht es tags darauf in der Zeitung, „entdeckten die Zöllner die beiden Flüchtlinge. Sie lagen flach im Todesstreifen." [1] Die Zollbeamten versuchen so nah wie möglich an den Stacheldrahtzaun heranzukommen und Kontakt aufzunehmen. Einer der Flüchtlinge gibt ihnen zu verstehen, dass sie verletzt seien und ihren Fluchtversuch abbrechen müssten, als noch einmal Schüsse fallen. [2] Was dann geschieht, entzieht sich den Blicken der westlichen Beobachter. Denn jenseits der Zaunreihen werden Nebelkörper gezündet, die dafür sorgen, dass Rauchschwaden die Sicht während des Abtransports der beiden Flüchtlinge behindern. [3]
Joachim Mehr, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto vom ausgeleuchteten Todesstreifen zwischen Hohen Neuendorf (Kreis Oranienburg) und Berlin-Reinickendorf, 3. Dezember 1964
Der 23 Jahre alte Hans-Jürgen K. wird mit Schussverletzungen an beiden Beinen in ein Hennigsdorfer Krankenhaus gebracht. Der 19-jährige Joachim Mehr aber stirbt noch an Ort und Stelle.

Joachim Mehr wird im April 1945 als zweites Kind von Ernst und Else Mehr im pommerschen Belgard geboren und wächst im Ost-Berliner Stadtbezirk Prenzlauer Berg auf. Sein Vater ist Tischlermeister und hat eine eigene Werkstatt. Der Sohn ergreift den gleichen Beruf. Er absolviert eine Tischlerlehre in einem staatlichen Betrieb und arbeitet nach bestandener Gesellenprüfung in der väterlichen Werkstatt. Mit 18 Jahren bezieht er eine eigene Wohnung in der Sonnenburger Straße, kommt aber zu den Mahlzeiten nach wie vor nach Hause. Seinen Eltern wird, als sie nach dem gewaltsamen Tod des Sohnes ins Fadenkreuz der MfS-Ermittler geraten, eine „negative Einstellung" zur DDR unterstellt. Joachim Mehr selbst ist in den Augen der Stasi ein unbeschriebenes Blatt. Weder westliche Einflüsse noch Fluchtgedanken lassen sich dem Jugendlichen nachsagen. [4]

Am 2. Dezember 1964 hat sein Sohn, so der Vater einem Stasi-Vernehmungsprotokoll zufolge, wie jeden Tag bis 17.00 Uhr gearbeitet und anschließend mit seinen Eltern zu Abend gegessen. Danach trifft er einige Freunde, mit denen er den Weihnachtsmarkt am Alexanderplatz besucht. Auch seine Freundin ist mit von der Partie. [5] Nachdem er sie nach Hause gebracht hat, schaut Joachim Mehr noch in der Gaststätte „Mila-Eck" vorbei, wo er Hans-Jürgen K. trifft, mit dessen jüngerem Bruder er gut befreundet ist. Der drei Jahre ältere K. ist 1962 schon einmal erfolgreich in den Westen geflüchtet, zwischenzeitlich aber wieder nach Ost-Berlin zurückgekehrt. Sie kommen ins Gespräch und K. erzählt, wie ihm damals am Stadtrand die Flucht gelang. Im Laufe der Unterhaltung beschließen sie, noch in der gleichen Nacht dorthin zu fahren. Wie Hans-Jürgen K. später gegenüber der Stasi beteuert, sei es ein spontaner Entschluss gewesen, den sie auf seinen Vorschlag hin gemeinsam gefasst hätten. [6] Als das Lokal schließt, fahren sie mit dem Moped aus der Stadt hinaus nach Hohen Neuendorf, einem nördlichen Vorort an der Grenze zum West-Berliner Ortsteil Frohnau. Dort lassen sie das Moped stehen und begeben sich zu Fuß ins Grenzgebiet zwischen Hohen Neuendorf und Bergfelde. Die Grenze verläuft an dieser Stelle mitten durch den Wald, der Grenzstreifen ist hell ausgeleuchtet. Sie steigen über den Hinterlandzaun, beobachten, sich vorsichtig im Dunkeln haltend, eine Weile die Grenzposten, bevor sie auf ein Zeichen von K. losrennen, auf das letzte Hindernis zu, den dreireihigen Stacheldrahtzaun.

Im Prozess, der den Schützen 1994 vor dem Landgericht Potsdam gemacht wird, stellt sich heraus, dass zwei Grenzsoldaten, die sich auf einem 160 Meter entfernten Wachturm befanden, die beiden Flüchtenden entdeckten. [7]
Joachim Mehr, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto vom Fluchtort zwischen Hohen Neuendorf und Berlin-Reinickendorf, 3. Dezember 1964
Der Postenführer eröffnet vom Turm herab das Feuer, während die Waffe seines Postens angeblich Ladehemmungen hat. Kurz vor dem Stacheldrahtzaun brechen Joachim Mehr und Hans-Jürgen K. verletzt zusammen. Inzwischen hat der Posten den Turm verlassen und befiehlt den beiden Jugendlichen liegen zu bleiben. Sie kriechen jedoch trotz ihrer Verletzungen bäuchlings weiter, bis sie unmittelbar vor dem Stacheldrahtzaun angelangt sind. Dort verständigen sie sich angesichts ihrer schweren Verletzungen darauf, aufzugeben. Unterdessen kommt der Unteroffizier K., der als Kontrollstreife unterwegs ist, an den Ort des Geschehens. Obwohl beide Flüchtlinge nur 100 Meter vor ihm verletzt am Boden liegen und sich bereits hoffnungslos im Stacheldraht verfangen haben, gibt er auf Joachim Mehr, da dieser sich bewegt, weitere Schüsse ab. Dabei wird der Jugendliche, der zuvor keine lebensgefährlichen Verletzungen erlitten hat, tödlich getroffen.

Das Gericht spricht den ehemaligen Grenztruppen-Unteroffizier für diese Tat des Totschlags schuldig und verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten auf Bewährung. Die gleiche Strafe wird wegen versuchten Totschlags in zwei Fällen gegen den damaligen Postenführer ausgesprochen, dessen Schüsse Joachim Mehr und Hans-Jürgen K. zuerst trafen.

Die DDR-Behörden lassen seinerzeit weder gegenüber Hans-Jürgen K., der durch die Schussverletzungen bleibende Schäden davonträgt, noch gegenüber den Angehörigen von Joachim Mehr Milde oder Nachsicht walten. Der 23-Jährige wird trotz seiner schweren Verletzung schon am Tag nach dem gescheiterten Fluchtversuch ins Haftkrankenhaus des MfS nach Berlin-Hohenschönhausen verlegt. Nach monatelanger Untersuchungshaft verurteilt ihn das Stadtgericht Groß-Berlin im August 1965 zu drei Jahren Zuchthaus, eine Strafe, die er fast bis zum Ende absitzen muss. [8] Die Eltern von Joachim Mehr werden, während die Ermittlungen des MfS laufen, über das Schicksal ihres Sohnes im Ungewissen gelassen. Kaum dass sie die Todesnachricht erhalten haben, wird ihnen eine schriftliche Erklärung abgenötigt, wonach er „an den Folgen von Verletzungen durch eine von ihm selbst herbeigeführte Grenzverletzung verstorben" sei. [9] Gleichzeitig werden sie verpflichtet, den Tod ihres Sohnes offiziell als Verkehrsunfall darzustellen. Die Besichtigung der Leiche bleibt ihnen, obwohl sie einen Rechtsanwalt einschalten, verwehrt. Als der Vater von Joachim Mehr sich damit nicht abfinden will, wird er einer „Aussprache" mit der zuständigen Staatsanwältin und einer Vernehmung durch Mitarbeiter der Berliner Stasi-Bezirksverwaltung unterzogen. [10]

Trotz dieses Drucks verzichten die Eltern nicht darauf, den Tod ihres Sohnes als „tragischen Unglücksfall" in einer lokalen Zeitung bekannt zu geben. Die Beerdigung findet am 30. Dezember 1964 auf dem Städtischen Friedhof Berlin-Weißensee statt.

Text: Christine Brecht

[1] "Tragödie im Todesstreifen", BZ, 4.12.1964. [2] Vgl. Bericht der West-Berliner Polizei/Inspektion Reinickendorf betr. vermutlicher Fluchtversuch von zwei NVA-Angehörigen in Uniform, 3.12.1964, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse, o. Pag. [3] Vgl. Operative Tagesmeldung Nr. 338/64 der NVA/Stadtkommandantur Berlin/Operative Abteilung, 4.12.1964, in: BArch, VA-07/6030, Bl. 148-152. [4] Vgl. Ergänzungsbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zur Grenzprovokation mit tödlichem Ausgang im Grenzgebiet Bergfelde, Krs. Oranienburg, 11.12.1964, in: BStU, Ast. Berlin, 9017/91, Bl. 113-119, hier Bl. 116. [5] Vgl. Niederschrift der Vernehmung des Vaters von Joachim Mehr [durch das MfS], 16.12.1964, in: Ebd., Bl. 109-112. – Vgl. zum folgenden Geschehensablauf die Sachverhaltsfeststellungen im Urteil des Landgerichts Potsdam vom 27.9.1994, in: StA Neuruppin, Az. 60/1 Js 6/93, Bd., 4, Bl. 408-437, hier insbes. Bl. 417-422. [6] Vgl. Niederschrift der Beschuldigten-Vernehmung des Mitflüchtlings von Joachim Mehr [durch das MfS], 10.12.1964, in: BStU, Ast. Berlin, 9017/91, Bl. 28-30. [7] Vgl. Urteil des Landgerichts Potsdam vom 27.9.1994, in: StA Neuruppin, Az. 60/1 Js 6/93, Bd., 4, Bl. 408-437, hier Bl. 422. [8] Vgl. Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Potsdam (60/1 Js 6/93), 26.7.1993, in: StA Neuruppin, Az. 60/1 Js 6/93, Bd. 3, Bl. 122-156, hier Bl. 146-147. [9] Von der Stasi abgenötigte Erklärung der Mutter von Joachim Mehr, 11.12.1964, in: BStU, Ast. Berlin, 9017/91, Bl. 105. [10] Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, 15.12.1964 zur Leichensache Joachim Mehr, in: Ebd., Bl. 134-137, sowie Niederschrift der Vernehmung des Vaters von Joachim Mehr [durch das MfS], 16.12.1964, in: Ebd., Bl. 109-112.
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