Todesopfer > Schultz, Paul

Todesopfer

Zurück zur Übersicht
Paul Schultz, erschossen an der Berliner Mauer: Gedenkkreuz am Checkpoint Charlie (Aufnahme 18. Juni 2005)
Paul Schultz, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto des Mahnmals auf der West-Berliner Seite der Grenzmauer in Kreuzberg (Aufnahme 1975)

Paul Schultz

geboren am 2. Oktober 1945
erschossen am 25. Dezember 1963


an der Melchiorstraße/Ecke Bethaniendamm
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Kreuzberg

Schultz, Paul

Die beiden Jugendlichen haben die mit Stacheldraht bewehrte Mauerkrone schon erklommen, als Grenzposten das Feuer eröffnen. Während Hartmut D. unverletzt auf die andere Seite gelangt, wird Paul Schultz im Kugelhagel tödlich verletzt, bevor er auf West-Berliner Gebiet zu Boden fällt. Ein Polizeiwachtmeister, der am nahe gelegenen Mariannenplatz Dienst tut, eilt dem Flüchtling zu Hilfe. Am Rücken hätten sie ihn getroffen, gibt ihm Paul Schultz unter Schmerzen zu verstehen. [37] Er hat einen Lungendurchschuss erlitten und stirbt noch am gleichen Abend im Kreuzberger Bethanien-Krankenhaus. [38]

Der gewaltsame Tod des 18-jährigen Flüchtlings überschattet nicht nur das Weihnachtsfest, sondern auch die Passierscheinaktion, die es West-Berlinern im Dezember 1963 zum ersten Mal seit dem Mauerbau erlaubt, Verwandte im Ostteil der Stadt zu besuchen. Auf einen Schlag steht der vom Senat mühsam angebahnte Politikwandel, der Entspannung in die Ost-West-Konfrontation bringen soll, in Frage. [39] Allenthalben werden Zweifel laut, ob es richtig sei, mit Vertretern des für die Todesschüsse an der Mauer verantwortlichen SED-Regimes Verhandlungen zu führen. So bezeichnet es der Vizekanzler und FDP-Politiker Erich Mende als unfassbar, "dass am ersten Feiertag auf einen jungen Menschen gezielt und abgedrückt wurde, der in einer Großstadt das tun wollte, was in einer gesitteten Gesellschaft selbstverständlich ist – ohne Waffen und ohne Gepäck von einem Teil der Stadt in den anderen zu gelangen." [40] Am Mariannenplatz kommt es noch tagelang zu Protestkundgebungen. Gegner des SED-Regimes errichten an der Todesstelle ein Holzkreuz, das mit einem Foto von Paul Schultz versehen ist, und führen eine Fastenaktion durch, um die Missachtung von Menschenrechten durch die DDR-Führung anzuprangern. [41]

Paul sei sein bester Freund gewesen, gibt Hartmut D. bei der West-Berliner Polizei zu Protokoll. [42] Dass der Freund unmittelbar neben ihm zu Tode kommt, versetzt ihm einen schweren Schock. Jahrelang habe er dieses Erlebnis, wie er im Rückblick sagt, nicht verwinden können. [43] Sie sind zusammen in Neubrandenburg aufgewachsen. Hier wird Paul Schultz im Oktober 1945 als der Jüngste von drei Brüdern geboren. Seinen Vater, der als Soldat im Zweiten Weltkrieg fällt, hat er nie kennen gelernt. Wie Hartmut D. schließt er die Schule nach der 10. Klasse mit der Mittleren Reife ab und geht seit September 1962 bei einem privaten Elektrikermeister in die Lehre. Fast auf den Tag gleich alt, feiern sie im Oktober 1963 gemeinsam ihren 18. Geburtstag. Im Laufe dieses Abends, so erinnert sich Hartmut D., hätten sie den Plan gefasst, nach West-Berlin zu flüchten und von dort in die Bundesrepublik zu gehen. Das Risiko, an der Mauer beschossen zu werden, seien sie nach dem Motto "entweder ganz oder gar nicht" bewusst eingegangen. [44]
Unter dem Vorwand, zu Freunden fahren zu wollen, verlassen die beiden Jugendlichen am ersten Weihnachtsfeiertag früh morgens ihre Elternhäuser. Sie nehmen den Zug von Neubrandenburg nach Ost-Berlin und laufen, wie Hartmut D. berichtet, auf der Suche nach einer Fluchtgelegenheit stundenlang an den innerstädtischen Sperranlagen entlang. Als es schon zu dämmern anfängt, entscheiden sie sich für eine Stelle an der Melchiorstraße/Ecke Bethaniendamm, weil ihnen der Sperrstreifen dort weniger breit zu sein scheint. Um einen günstigen Moment abzupassen, beobachten sie eine Zeit lang die Grenzposten, die in diesem Bereich auf und ab gehen. Dann klettern sie über den Hinterlandzaun und versuchen die Absperrungen so schnell wie möglich zu durchqueren. "In dem Moment, in dem wir versuchten, in diesen letzten Zaun vor der Mauer einzudringen, hörten wir hinter uns Halt-Rufe der sowjetzonalen Grenzposten", sagt Hartmut D. Dann sei sofort scharf geschossen worden. [45]

Wie aus Grenztruppen- und Stasi-Akten hervorgeht, befindet sich ausgerechnet in dem Moment, als die beiden Jugendlichen den Sperrstreifen betreten, in der Nähe ein Postenpaar, das an diesem Abend als Kontrollstreife zwischen den einzelnen Grenzabschnitten unterwegs ist, und ohne zu zögern das Feuer eröffnet. [46] Sie werden für ihre Tat von NVA-Stadtkommandant Poppe mit einer Aktentasche bzw. Armbanduhr ausgezeichnet.

Beide Schützen seien entschlossen gewesen, den Fluchtversuch mit Waffengewalt zu verhindern, stellt das Landgericht Berlin 1995 fest, und hätten den Tod der Flüchtenden billigend in Kauf genommen. Während einer der Schützen mittlerweile verstorben ist, wird der zweite des gemeinschaftlich begangenen Totschlags schuldig gesprochen und zu einer Bewährungsstrafe von 18 Monaten verurteilt. [47]

Die Mutter und die Brüder von Paul Schultz geraten, kaum dass sie die Nachricht von seinem Tod im West-Berliner Radiosender RIAS gehört haben, ins Fadenkreuz des Staatssicherheitsdienstes. [48] Die Ermittlungen der DDR-Geheimpolizei fördern nichts zu Tage, was sich dem Jugendlichen oder seinen Angehörigen zur Last legen ließe. Stattdessen schlagen sich in den Stasi-Akten ideologische Voreingenommenheit und unbewiesene Annahmen nieder, wonach "das ständige Hören des Westrundfunks" Paul Schultz "negativ beeinflusst" habe und er von Hartmut D., den das MfS als "Initiator für den Grenzdurchbruch" ansieht, zur Flucht überredet worden sein soll. [49] Auch in den DDR-Medien werden die Dinge so dargestellt, als ob die beiden jugendlichen Flüchtlinge gleichsam ohne eigenen Willen vom RIAS, vom Westfernsehen und von westlichen Politikern verführt worden seien. [50]

Unterdessen wenden sich die West-Berliner Behörden wegen der Überführung des Leichnams an die Hinterbliebenen in der DDR. Die Stasi ist angesichts der Überwachung von Familie Schultz darüber im Bilde, schreitet aber nicht gegen eine Überführung ein. [51]

Am 28. Dezember geleitet eine Eskorte der West-Berliner Polizei den Leichenwagen bis zum Grenzübergang Heinrich-Heine-Straße und auch die Bevölkerung von West-Berlin nimmt Anteil an der "letzten Fahrt" des erschossenen Flüchtlings. [52] Die Beisetzung in Neubrandenburg zwei Tage später findet nicht, wie seinerzeit im Westen verbreitet wurde, unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. [53] Die Beisetzung war für den Vormittag angesetzt, dann offiziell auf den Nachmittag verschoben worden – aber nur als Täuschungsmanöver, um die Freunde von Paul Schultz von einer Teilnahme abzuhalten, wie diese auf Umwegen erfuhren. Und so fand die Beisetzung doch in Anwesenheit von Freunden und Arbeitskollegen statt. Die Rede habe ein Verwandter gehalten, nach seiner Erinnerung möglicherweise ein Mitglied der SED-Kreisleitung, berichtet einer seiner Freunde. Sie habe in dem Satz gegipfelt: »›Paul, wir vergeben Dir Deine Tat.‹ Dem Ermordeten sollte seine Tat – die Republikflucht – vergeben werden und nicht seinen Mördern. Diese hatten Sachprämien erhalten! Diesen Satz habe ich nie vergessen.« [54]

Text: Christine Brecht

Zum Seitenanfang