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Todesopfer

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Reinhold Huhn: geboren am 8. März 1942, als Grenzposten erschossen am 18. Juni 1962 an der Berliner Mauer, Aufnahmedatum unbekannt
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Reinhold Huhn

geboren am 8. März 1942
erschossen am 18. Juni 1962


in der Jerusalemer Straße/Ecke Zimmerstraße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Kreuzberg

Huhn, Reinhold

Reinhold Huhn wird als jüngstes Kind einer Bauernfamilie im ostpreußischen Braunsberg geboren. Im Alter von drei Jahren verliert er seine Mutter durch einen tödlichen Unfall. Ende 1946 wird die Familie aus Ostpreußen, das inzwischen zu Polen gehört, vertrieben. Sie findet in Adorf im Vogtland eine neue Bleibe. Nach dem Schulabschluss lernt Reinhold Huhn den Beruf eines Rinderzüchters und arbeitet anschließend auf einem Volkseigenen Gut im Kreis Plauen. Mit 18 Jahren lässt er sich für die Bereitschaftspolizei werben, seinen Dienst tritt Reinhold Huhn im September 1960 in Karl-Marx-Stadt, dem heutigen Chemnitz, an. Im Juni 1961 wird seine Einheit nach Ost-Berlin verlegt und zum Bau der Mauer herangezogen. Danach gehört er der Ost-Berliner Grenzbrigade an. [39]

Reinhold Huhn, erschossen an der Berliner Mauer: Aufnahme der West-Berliner Polizei vom Fluchthaus in der Zimmerstraße, 18. Juni 1962
Am Nachmittag des 18. Juni 1962 ist Reinhold Huhn als Posten der 4. Grenzabteilung im Zentrum der Stadt an der Jerusalemer Straße/Ecke Zimmerstraße eingesetzt. Die Sperranlagen verlaufen hier mitten durch das alte Berliner Zeitungsviertel. Nicht weit entfernt baut auf der West-Berliner Seite der Springer-Verlag sein neues Verlagshaus. An diesem Tag steht Reinhold Huhn mit dem Gefreiten H., der sein Postenführer ist, seit 15.00 Uhr auf dem Grenzstreifen Wache. [40] Gegen 17.20 Uhr sehen sie einen Mann aus dem Ost-Berliner Grenzhaus Zimmerstraße 56 kommen. [41] Das von Stacheldrahtsperren abgeriegelte Haus ist in den oberen Stockwerken noch bewohnt, während das Erdgeschoss schon geräumt und die Haustür zugemauert ist. Der Zugang zum Gebäude ist nur noch über den Hinterhof von der Jerusalemer Straße aus möglich. Da der Mann Richtung Ost-Berliner Innenstadt davon geht, schöpfen die beiden Grenzposten zunächst keinen Verdacht. Doch als er eine Stunde später mit zwei Frauen und zwei Kindern zurückkommt, erhält Reinhold Huhn von seinem Postenführer den Auftrag, eine Personenkontrolle durchzuführen. Er geht im Grenzstreifen auf die Passanten zu und fordert sie durch den Sperrzaun hindurch auf, sich auszuweisen.
Der Mann, den die Grenzposten beobachtet haben, ist Rudolf Müller. Als ehemaliger Grenzgänger lebt er seit dem Mauerbau von seiner Familie getrennt in West-Berlin. An diesem Nachmittag will er seine Frau, seine beiden Kinder und seine Schwägerin durch einen Tunnel in den Westteil der Stadt holen. Nachdem andere Fluchtpläne gescheitert sind, hat er gemeinsam mit seinen Brüdern und weiteren Helfern wochenlang gegraben, bis der Tunnel, der vom Gelände des Springerkonzerns zum Keller des Hauses Zimmerstraße 56 verläuft, fertig ist. [42] Als Reinhold Huhn auf die kleine Gruppe zukommt, lässt Rudolf Müller, so schildert er es später, seine Angehörigen weitergehen. Um den jungen Grenzposten von der Kontrolle abzubringen, habe er ihm erklärt, dass sie nur zu einer Geburtstagsfeier gehen würden. [43] Als der Posten seinem Auftrag gemäß dennoch kontrollieren will, fasst Rudolf Müller in die Innentasche seiner Jacke, zieht eine Pistole und schießt. Aus nächster Nähe in die Brust getroffen bricht Reinhold Huhn zusammen und verblutet. [44] Unterdessen eröffnet Postenführer H. das Feuer auf die Flüchtlinge, denen es jedoch gelingt, unverletzt durch den Tunnel West-Berlin zu erreichen.

Zwei Tage später beantragen die Ost-Berliner Behörden die Auslieferung Rudolf Müllers. [45] Sie haben keinen Zweifel daran, dass er die alleinige Schuld am Tod von Reinhold Huhn trägt. Der West-Berliner Senat stellt sich jedoch hinter den Fluchthelfer, der mit seiner Familie sofort nach Westdeutschland ausgeflogen wird. [46]

Im Westen glaubt man der Version von Rudolf Müller, der gegenüber der West-Berliner Polizei angibt, er habe dem Grenzposten lediglich einen Schlag versetzt, so dass er zu Boden ging. Tödlich getroffen habe ihn der zweite Grenzsoldat, der den Flüchtenden hinterher schoss. So kommt es, dass die westlichen Medien den Tod des Grenzpolizisten seinem Kameraden anlasten und ihn als „schießwütigen Vopo" darstellen. [47] Das in West-Berlin eröffnete Ermittlungsverfahren gegen Rudolf Müller wird im November 1962 eingestellt. [48]

In der DDR geht man dagegen von einem hinterhältigen Mord aus; Reinhold Huhn wird zum Opfer westlicher Kriegstreiber erklärt. [49] In allen Ost-Berliner Grenzeinheiten lässt die SED Appelle und Meetings durchführen, auf denen behauptet wird, der „feige und hinterhältige Mordanschlag" sei im direkten Auftrage Adenauers und Brandts erfolgt und komme "auf das Schuldkonto des blutbesudelten deutschen Militarismus." [50]

Die Führung der Grenztruppen hat die politisch demonstrativ ausgerichteten Trauerfeierlichkeiten zu organisieren. [51] Der Leichnam Reinhold Huhns wird in der Garnison seiner Einheit in Berlin-Rummelsburg aufgebahrt. Soldaten und Offiziere sowie Delegationen aus Betrieben und Schulen sind aufgefordert, am offenen Sarg von ihm Abschied zu nehmen. In seiner sächsischen Heimat in Adorf wird der Tote mit allen militärischen Ehren beigesetzt. [52]

Ein Jahr später weiht der Ost-Berliner Stadtkommandant Poppe eine Gedenktafel an der Stelle ein, an der Reinhold Huhn erschossen wurde. [53] In den 1970er Jahren wird dieser Ort an der Jerusalemer Straße zur zentralen Gedenkstätte für Grenzsoldaten ausgebaut, die im Dienst an der Berliner Mauer ums Leben kamen. Die nahe gelegene Schützenstraße wurde schon 1966 in Reinhold-Huhn-Straße umbenannt. Nach dem Ende der DDR werden die Gedenkzeichen aus dem öffentlichen Raum entfernt; aus der Reinhold-Huhn-Straße wird wieder die Schützenstraße.

Ende der 1990er Jahre sorgt der Tod von Reinhold Huhn noch einmal für Schlagzeilen. Nach einem langwierigen Prozess wird Rudolf Müller im April 1999 vom Landgericht Berlin wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt. [54] In der Hauptverhandlung gesteht er, Reinhold Huhn erschossen zu haben, macht dafür jedoch Notwehr geltend. Das Gericht kommt dagegen zu dem Schluss, dass die Tat nicht durch Notwehr oder Nothilfe gerechtfertigt war. Denn von Reinhold Huhn sei, wie es in der Urteilsbegründung heißt, seinerzeit kein Angriff auf die Gesundheit oder das Leben Rudolf Müllers und seiner Familie ausgegangen. Gegen dieses Urteil gehen sowohl der Verurteilte als auch die Angehörigen von Reinhold Huhn in Berufung. Rudolf Müller will einen Freispruch erreichen, die Angehörigen, wie sie sagen, die gerechte Beurteilung der Tat. Im Jahr 2000 revidiert der Bundesgerichtshof das Urteil und spricht Rudolf Müller des Mordes schuldig, belässt es aber beim ursprünglichen Strafmaß. „In der konkreten Tatsituation der von dem Grenzposten allein vorgenommenen Kontrolle" stellt das Gericht „die objektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals der Heimtücke" fest und verweist auf die „überragende Bedeutung des Rechtsgutes Leben". [55]

Die Entscheidung des Gerichts ist bis heute umstritten. Rudolf Müller sieht sich durch das Urteil mit kaltblütigen Mördern gleichgestellt. Die Angehörigen von Reinhold Huhn problematisieren, ob der Drang nach Freiheit höher zu bewerten sei als das Leben eines Menschen. [56] Die Erwartung der Vorsitzenden Richterin, eine rechtsstaatliche „Ahndung, die befrieden soll", gefunden zu haben, geht nicht in Erfüllung. [57]

Text: Christine Brecht/Maria Nooke

RIAS-Bericht über eine Tunnelflucht, bei der der DDR-Grenzsoldat Reinhold Huhn getötet wird (mit einem Statement von Senatspressesprecher Egon Bahr), 19. Juni 1962
(Quelle: Archiv Deutschlandradio, Sendung: Die Zeit im Funk, Reporter: Erich Nieswandt, Helmut Fleischer)
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