Todesopfer > Walzer, Anton

Todesopfer

Zurück zur Übersicht
Anton Walzer: geboren am 27. April 1902, erschossen am 8. Oktober 1962 bei einem Fluchtversuch im Berliner Grenzgewässer (Aufnahmedatum unbekannt)
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Anton Walzer

geboren am 27. April 1902
erschossen am 8. Oktober 1962


in der Spree nahe der Oberbaumbrücke
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Friedrichshain und Berlin-Kreuzberg
Am Abend des 8. Oktober 1962 versucht er nach West-Berlin zu flüchten. Nachdem er sich Mut angetrunken hat, nähert sich der 60-Jährige an der Oberbaumbrücke im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain der Sektorengrenze. Er betritt ein Betriebsgelände am Spreeufer und klettert unbemerkt auf einen Lastkahn, der dort festgemacht hat. Im Schutz der Dunkelheit springt er gegen 22.15 Uhr vom Schiff ins Wasser und schwimmt auf das gegenüberliegende West-Berliner Ufer zu.Anton Walzer ist 60 Jahre alt, als er im Oktober 1962 von Ost- nach West-Berlin flüchten will. Geboren am 27. April 1902 im oberschwäbischen Weiler bei Ravensburg, lebt er mit seiner ersten Frau seit Mitte der 1920er Jahre in Berlin-Weißensee. Aus der Ehe gehen zwei Töchter hervor. Von Beruf Lacksieder arbeitet der Familienvater viele Jahre bei der Weißenseer Farbenfabrik Warnecke & Böhm. In der NS-Zeit erlebt er, wie das Unternehmen arisiert wird und später jüdische Zwangsarbeiter einsetzt. [1] Nach 1945 folgen die Enteignung und die Verstaatlichung des Betriebes, der nun im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin liegt. In dieser Zeit heiratet Anton Walzer zum zweiten Mal. 1955 kehrt er wie viele qualifizierte Facharbeiter der DDR den Rücken und flüchtet mit seiner zweiten Frau und den gemeinsamen Kindern nach Westdeutschland. In Offenbach am Main lassen sie sich nieder. Doch als Anton Walzers Schwiegermutter schwer erkrankt, geht die Familie auf Wunsch seiner Frau 1958 nach Ost-Berlin zurück. [2]

Für Anton Walzer ist dieser Schritt mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Sogenannte „Rückkehrer" gelten den DDR-Behörden als politisch unzuverlässig. Dieses Misstrauen wirkt sich unmittelbar auf seine berufliche Tätigkeit aus. Zwar kann er wieder in seinem früheren Betrieb in Weißensee arbeiten, aber nicht in einer Funktion, die dem Wissen und Können eines erfahrenen Lacksiedemeisters entspricht. Vielmehr sieht er sich gezwungen, eine unqualifizierte und schlecht bezahlte Tätigkeit anzunehmen. Mit dieser Form der Erniedringung kommt Anton Walzer offenbar nicht zurecht. Immer öfter greift er zum Alkohol. Auch die Beziehung zu seiner Frau geht in die Brüche: Ein Scheidungstermin ist bereits anberaumt.

Am Abend des 8. Oktober 1962 versucht er nach West-Berlin zu flüchten. Nachdem er sich Mut angetrunken hat, nähert sich der 60-Jährige an der Oberbaumbrücke im Ost-Berliner Bezirk Friedrichshain der Sektorengrenze. Er betritt ein Betriebsgelände am Spreeufer und klettert unbemerkt auf einen Lastkahn, der dort festgemacht hat. Im Schutz der Dunkelheit springt er gegen 22.15 Uhr vom Schiff ins Wasser und schwimmt auf das gegenüberliegende West-Berliner Ufer zu. [3]
Anton Walzer, erschossen im Berliner Grenzgewässer: Tatortfoto der DDR-Grenztruppen vom Fluchtweg in der Spree nahe der Oberbaumbrücke zwischen Berlin-Friedrichshain und Berlin-Kreuzberg, 8. Oktober 1962
Nicht weit entfernt befindet sich ein Beobachtungsstand der DDR-Grenztruppen. Das Postenpaar, das dort zur Überwachung von Ufer und Fluss im Einsatz ist, entdeckt den Fluchtversuch sofort. „Da haut einer ab", soll der Postenführer gerufen haben, als Anton Walzer ins Wasser springt. [4] Dann eröffnen beide Grenzposten das Feuer. Mehrere Geschosse schlagen am West-Berliner Gröbenufer ein, wo Passanten gerade noch rechtzeitig in Deckung gehen können. Ein West-Berliner Streifenpolizist erwidert angesichts der eigenen Gefährdung daraufhin das Feuer. Auf der Spree, die dort in ganzer Breite zu Ost-Berlin gehört, nähert sich unterdessen ein Boot der DDR-Grenztruppen dem Flüchtling. Einer Festnahme hätte er sich jetzt kaum noch entziehen können. Doch der Postenführer am Ufer hört nicht auf zu schießen. Insgesamt gibt er 18 gezielte Schüsse ab. Eine Kugel trifft Anton Walzer in den Hinterkopf. Er erleidet er einen Kopfdurchschuss, der unmittelbar tödlich ist, und versinkt im Wasser. [5]

Kaum sind die nächtlichen Schüsse verhallt, versammeln sich zahlreiche Anwohner am Kreuzberger Gröbenufer. Mit „Mörder-Mörder"-Rufen bringen sie ihre Empörung zum Ausdruck, während Grenzsoldaten die Spree nach dem Toten absuchen. Am nächsten Morgen setzen Wasserschutzpolizei und Feuerwehr die Suche unter den Augen vieler West-Berliner fort. Als die Leiche gegen 8.30 Uhr gefunden und aus dem Wasser gezogen wird, schieben sich Boote vor die Taucher, um den West-Berliner Beobachtern die Sicht zu versperren. Denn seit im August 1962 die Bilder des sterbenden Peter Fechter um die Welt gingen, legt die DDR-Führung großen Wert darauf, getötete Flüchtlinge den Blicken der Öffentlichkeit zu entziehen. Tatsächlich bekommen westliche Fotografen das Todesopfer diesmal nicht ins Bild. „Vopo-Mörder wollten keine Augenzeugen", lautet der Kommentar einer Tageszeitung. [6] Auch der Name des Toten, den die DDR-Behörden nach der Bergung als den 60-jährigen Anton Walzer identifizieren, bleibt im Westen vorerst unbekannt.

Am Gröbenufer kommt es im Anschluss an die Bergungsaktion tagelang zu Protestbekundungen. An der gleichen Stelle war bereits ein Jahr zuvor der Tod von Udo Düllick zu beklagen. Ein Holzkreuz und ein Gedenkstein halten seither die Erinnerung an seinen gescheiterten Fluchtversuch wach. Direkt daneben stellen zwei Jugendliche nun ein weiteres Holzkreuz auf. Andere West-Berliner Demonstranten entrollen ein Transparent, auf dem in großen Buchstaben die „Todesstrafe für Ulbricht und seine Mordhelfer" gefordert wird. Davon wiederum distanzieren sich die Jugendlichen, die das Holzkreuz errichtet haben. Sie wollen die Spirale der Gewalt durchbrechen und machen sich die Parole „Auch ohne Gewalt können wir stark sein" zu eigen. [7]

Die DDR-Behörden haben die Erschießung von Anton Walzer mittlerweile zu einer „bewaffneten Provokation des Gegners" erklärt, bei der ein „Grenzverletzer" von westlicher Seite Feuerschutz erhalten habe. [8] Diese Sicht der Dinge schlägt sich auch in den Berichten der Grenztruppenführung nieder, die das Verhalten der Schützen vorbehaltlos rechtfertigen. Die eingesetzten Posten hätten, so formuliert es der Ost-Berliner Stadtkommandant Poppe, "trotz des gezielten gegnerischen Feuers initiativreich und taktisch richtig gehandelt und dadurch den erteilten Kampfauftrag vorbildlich erfüllt." [9]

Als 30 Jahre später die Gewalttaten an der Berliner Mauer strafrechtlich verfolgt werden, bekennt sich der damalige Postenführer zu seiner Tat. Er sagt aus, dass er sich deshalb in einem Gewissenskonflikt befinde, mit dem er nicht mehr leben könne. [10] Allerdings bestreitet er, in jener Nacht gezielt geschossen zu haben, sondern behauptet, dass er sein Opfer durch die Schüsse zur Umkehr bewegen wollte. Im August 1994 spricht das Landgericht Berlin Arno O. des Totschlags schuldig und verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Zwar berücksichtigt das Gericht strafmildernd, dass der Todesschütze Reue zeigt. An seiner persönlichen Verantwortung für den Tod von Anton Walzer lässt es indes keinen Zweifel, wenn es in der Urteilsbegründung heißt: „Die Tötung eines erkennbar wehrlosen, schwimmenden Menschen, von dem keinerlei Gefahr für den Schützen ausging, nur im Interesse der Staatsraison der DDR, verstieß derart eklatant gegen die elementaren Grundsätze der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit, denen sich auch die DDR (…) zumindest verbal verpflichtet hatte, dass das hierin liegende Unrecht für jedermann zu erkennen war und auch von den meisten anerkannt wurde." [11]

Text: Christine Brecht

[1] Vgl. Bezirksamt Pankow von Berlin (Hg.), Zwangsarbeit und „Arisierung". Warnecke & Böhm – ein Beispiel, Berlin 2004. [2] Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung der Tochter von Anton Walzer durch die Berliner Polizei, 17.3.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 41/90, Bd. 1, Bl. 98-102, sowie Niederschrift der Zeugen-Vernehmung der Ehefrau von Anton Walzer durch die Berliner Polizei, 25.3.1992, in: Ebd., Bl. 144-150. [3] Vgl. Bericht der NVA/1.GB/IV. Grenzabteilung/Stv. Kdr. über den verhinderten Grenzdurchbruch einer männlichen Person, 8.10.1962, in: BArch, VA-07/16930, Bl. 36-40. [4] Anklageschrift der Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht Berlin [Az. 2 Js 41/90], 5.2.1993, in: StA Berlin, Az. 2 Js 41/90, Bd. 2, Bl. 68-87, Zitat Bl. 69. [5] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 12.8.1994, in Ebd., Bd. 3, Bl. 57a-57y, hier Bl. 57h-57i. [6] Berliner Morgenpost, 10.10.1962. [7] Vgl. Berliner Morgenpost, 11.10.1962; Der Kurier, 12.10.1962. [8] Rapport Nr. 281 des PdVP Berlin/Operativstab, 9.10.1962, in: PHS, Bestand PdVP-Rapporte, o.Pag. [9] Bericht der NVA/Stadtkommandant Poppe über den verhinderten Grenzdurchbruch am 8.10.1962, 9.10.1962, in: BStU, MfS, HA XX Nr. 5310, Bl. 6-8, hier Bl. 8. [10] Vgl. Niederschrift der Vernehmung eines Beschuldigten durch die Berliner Polizei, 18.3.1992, in: StA Berlin, Az. 2 Js 41/90, Bd. 1, Bl. 103-120. [11] Urteil des Landgerichts Berlin vom 12.8.1994, in: Ebd., Bd. 3, Bl. 57a-57y, hier Bl. 57o.
Zum Seitenanfang