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Dorit Schmiel, geboren am 25. April 1941, erschossen am 19. Februar 1962 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer (Aufnahmedatum um 1961)
Dorit Schmiel, erschossen an der Berliner Mauer: Grabstein (Aufnahme um 1961)

Dorit Schmiel

geboren am 25. April 1941
erschossen am 19. Februar 1962


am Wilhelmsruher Damm
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Pankow und Berlin-Reinickendorf


Es ist kurz nach Mitternacht, als sich fünf Jugendliche bei diesig-trübem Wetter am Wilhelmsruher Damm der Grenze zum West-Berliner Bezirk Reinickendorf nähern. Mit einer Drahtschere schneiden sie ein Loch in den ersten Zaun und schlüpfen nacheinander in den dahinter befindlichen Sperrstreifen.Dorit Schmiel wird im Kriegsjahr 1941 in Berlin geboren. Ihr Vater stirbt als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Mit ihrem älteren Bruder wächst sie bei Mutter und Stiefvater im Ost-Berliner Stadtbezirk Pankow auf. Seit ihrer Kindheit fährt Dorit Schmiel regelmäßig in den Westteil der Stadt, um Verwandte zu besuchen, einzukaufen, ins Kino oder tanzen zu gehen. So erlebt sie die Abriegelung der Sektorengrenze und den damit verbundenen Verlust der gewohnten Bewegungsfreiheit als schmerzlichen Einschnitt. [1]

Dorle, wie sie von allen genannt wird, ist zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre alt. Von Beruf Schneiderin arbeitet sie in einem volkseigenen Industriebetrieb und wohnt seit kurzem bei ihrem Verlobten Detlef T. Zu ihrem Freundeskreis gehören auch die Brüder Eberhard und Dietrich B. sowie dessen Freundin Brigitte K. Mit den politischen Verhältnissen und den ideologischen Vorgaben, die im SED-Staat herrschen, kann sich keiner von ihnen identifizieren. Durch den Mauerbau wird die Situation für sie unerträglich. Allen Versprechungen von Partei und Regierung zum Trotz, - davon waren sie, wie Eberhard B. im Rückblick sagt, überzeugt -, würde es nun noch weniger Freiheit und wirtschaftlichen Aufschwung geben. [2] Als sich Anfang 1962 abzeichnet, dass die Teilung der Stadt von Dauer sein wird, entschließen sie sich, die DDR zu verlassen. Zu dieser Zeit machen nahezu täglich Nachrichten von erfolgreichen Fluchtaktionen die Runde. Einem Cousin von Dorit Schmiel ist es im Januar gelungen, die mit Stacheldraht bewehrte Grenze im Norden der Stadt zu überwinden. An der gleichen Stelle wollen auch sie in der Nacht vom 18. zum 19. Februar 1962 die Flucht wagen.

Es ist schon nach Mitternacht, als sich die fünf Freunde bei diesig-trübem Wetter im Pankower Ortsteil Rosenthal der Grenze zum West-Berliner Bezirk Reinickendorf nähern. Aus sicherer Entfernung beobachten sie eine zeitlang das Verhalten der Grenzposten, bevor sie an einem Friedhofsgelände entlang auf die Sperranlagen zulaufen. Mit einer Drahtschere schneiden sie ein Loch in den ersten Zaun und schlüpfen nacheinander in den dahinter befindlichen Sperrstreifen. Dann legen sie sich flach auf den mit Schnee und Schneematsch bedeckten Boden und bewegen sich kriechend weiter. Sie haben die letzten beiden Zaunreihen fast erreicht, als sie entdeckt und von drei Grenzposten beschossen werden. [3] Anders als die DDR-amtlichen Berichte behaupten, eröffnen die Grenzer das Feuer, ohne die wehrlos am Boden liegenden Flüchtlinge zuvor anzurufen oder einen Warnschuss abzugeben. [4] Dorit Schmiel wird von einer Kugel in den Bauch getroffen und schreit laut auf. Da erst stellen die Schützen das Feuer ein, nähern sich den Jugendlichen und fordern sie auf, sich zu erheben. Detlef T., Dieter B. und Brigitte K. kommen dieser Aufforderung nach. Auch der 16-jährige Eberhard B. kann, obwohl er eine Schussverletzung an der Schulter davon getragen hat, aus eigener Kraft aufstehen. Dorit Schmiel aber bleibt zum Entsetzen ihrer Freunde liegen. Sie blutet stark und weint vor Schmerzen. Schließlich habe man sie wie ein Stück Vieh an Armen und Beinen gepackt und weggetragen, erinnert sich Detlef T. [5]

Sie wird bis zur nächsten Straße, dem Wilhelmsruher Damm, gebracht und auf den Boden gelegt. Mindestens 30 Minuten vergehen, bis ein Krankenwagen eintrifft und die beiden Verletzten ins Volkspolizei-Krankenhaus nach Berlin-Mitte bringt. „Muss ich sterben, muss ich sterben," habe Dorit Schmiel unterwegs immerzu gefragt, berichtet Eberhard B., im Krankenhaus angekommen aber keinen Laut mehr von sich gegeben und nur noch schwach geatmet. [6] Sie hat, wie aus den Krankenhausunterlagen hervorgeht, einen Bauchdurchschuss erlitten und erliegt wenig später den dadurch verursachten inneren Blutungen. [7]

Die anderen Flüchtlinge werden noch in der gleichen Nacht stundenlangen Verhören unterzogen. Einen Monat darauf werden sie vor Gericht gestellt. Ihr gemeinsamer Fluchtversuch, so heißt es in der Anklageschrift, stelle eine Handlung „von erheblicher Gesellschaftsgefährlichkeit" dar und hätte „Provokationen durch den Klassengegner" herbeiführen und den Frieden gefährden können. [8] Das Stadtbezirksgericht Pankow verurteilt sie dafür zu Gefängnisstrafen zwischen 10 Monaten und zwei Jahren.

30 Jahre später verfolgen die Freunde von Dorit Schmiel als Zeugen und Nebenkläger, wie sich die drei Grenzposten, die damals auf sie geschossen haben, für diese Tat vor Gericht verantworten müssen. Wer die Schüsse abgegeben hat, die Dorit Schmiel tödlich trafen und Eberhard B. verletzten, kann im Laufe des Prozesses nicht geklärt werden. Das Gericht gelangt aber zu der Überzeugung, dass alle drei Angeklagten den Tod der Flüchtlinge billigend in Kauf genommen haben. Des gemeinschaftlichen Totschlags in Verbindung mit versuchtem Totschlag schuldig gesprochen, erhalten sie Freiheitsstrafen von 18 Monaten, die zur Bewährung ausgesetzt werden. [9]

Der Tod von Dorit Schmiel ist für alle, die sie kannten, ein schwerer Schock. Ihre Mutter gibt zeitlebens dem Cousin eine Mitschuld - in der falschen Annahme, er habe ihre Tochter und deren Freunde zur Flucht verleitet. [10] Doch über die Umstände, unter denen die 20-Jährige ums Leben gekommen ist, bestehen im Familien- und Freundeskreis keine Zweifel. Durch verwandtschaftliche Kontakte gelangt die Nachricht vom gewaltsamen Tod der jungen Ost-Berlinerin auch in den Westteil der Stadt, wo zu Mauerzeiten mehrere Gedenkzeichen die Erinnerung an ihr Schicksal wach halten. [11]

Text: Christine Brecht

[1] Vgl. Gespräch von Christine Brecht mit Marianne K., der Cousine von Dorit Schmiel, 15.11.2006. [2] Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung eines Mitflüchtlings von Dorit Schmiel durch die Berliner Polizei, 29.8.1991, in StA Berlin, Az. 27/2 Js 146/90, Bd. 1, Bl. 195-202, hier Bl. 195. [3] Vgl. Abschlussbericht des MdI/Bepo/1.GB (B)/1. Grenzabteilung betr. Versuchter Grenzdurchbruch, 19.2.1962, in: BArch, VA-07/8461, Bl. 1-4. [4] Gespräch von Christine Brecht mit Dietrich B., 1.12.2008; Gespräch von Maria Nooke mit Eberhard B., 3.12.2008. Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin, 23.3.1994, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 146/90, Bd. 4, Bl. 46-99, hier Bl. 65. [5] Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung eines Mitflüchtlings von Dorit Schmiel durch die Polizei in Esslingen, 16.8.1991, in: Ebd., Bd. 1, Bl. 180-182, hier Bl. 181. [6] Gespräch von Maria Nooke mit Eberhard B., 3.12.2008. Vgl. auch Niederschrift der Zeugen-Vernehmung eines Mitflüchtlings von Dorit Schmiel durch die Berliner Polizei, 29.8.1991, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 146/90, Bd. 1, Bl. 195-202, hier Bl. 197. [7] Eintragung im Krankenblatt, Krankenhaus der Volkspolizei, Chirurgische Abteilung, 19.2.1962, in: Ebd., Bd. 1, Bl. 144-145. [8] Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Berlin-Pankow, (I Pa 195/62), 7.3.1962, in: Ebd., Bd. 1, Bl. 206-208, hier Bl. 207. [9] Urteil des Landgerichts Berlin vom 23.3.1994, in: Ebd., Bd. 4, Bl. 46-99. [10] Gespräch von Christine Brecht mit Marianne K., der Cousine von Dorit Schmiel, 15.11.2006. [11] Vgl. „Junge Union für Gedenkstein für Maueropfer", Berliner Morgenpost, 20.2.1987.
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