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Dieter Wohlfahrt: geboren am 27. Mai 1941, erschossen am 9. Dezember 1961 bei einer Fluchthilfeaktion an der Berliner Mauer
Dieter Wohlfahrt, erschossen an der Berliner Mauer: Gedenkkreuz in Staaken, Bergstraße (Aufnahme 2004)

Dieter Wohlfahrt

geboren am 27. Mai 1941
erschossen am 9. Dezember 1961


in der Bergstraße/Ecke Hauptstraße
am Außenring zwischen Staaken (Kreis Nauen) und Berlin-Spandau
West-Berliner Polizisten, die ebenso wie Angehörige der britischen Militärpolizei bald darauf vor Ort eintreffen, wollen sich ihm nähern. Doch ihre Rettungsversuche werden von DDR-Grenzposten unter Androhung von Waffengewalt vereitelt. Von östlicher Seite wird dem Sterbenden keinerlei Hilfe zuteil. Über eine Stunde bleibt er zwischen den Stacheldrahtreihen liegen, bis er abtransportiert wird, ohne noch einmal ein Lebenszeichen von sich gegeben zu haben.In Berlin-Schöneberg 1941 geboren, ist Dieter Wohlfahrt seit frühester Jugend ein Grenzgänger zwischen Ost und West. Er stammt aus einem bildungsbürgerlichen, katholischen Elternhaus und wächst als ältestes von drei Kindern in Hohen Neuendorf, einem nördlichen Vorort von Berlin, auf. Wie sein 1955 verstorbener Vater und seine Geschwister ist er österreichischer Staatsbürger und darf die Grenzen zu West-Berlin und der Bundesrepublik ohne Einschränkungen passieren. Als ihm in der DDR mit 14 Jahren der Besuch der Oberschule verwehrt wird, kann er daher ohne Schwierigkeiten zu seiner Tante nach West-Berlin ziehen. [1] Dort besucht er die Bertha-von-Suttner-Schule in Reinickendorf, die in eigens eingerichteten »Ostklassen« Schülern aus Ost-Berlin und dem Brandenburger Umland die Möglichkeit gibt, das Abitur abzulegen. Wie Dieter Wohlfahrt pendeln – solange die Sektorengrenze offen ist – viele seiner Mitschüler regelmäßig, manche sogar täglich, zwischen Ost und West. Das SED-Regime lehnen die meisten von ihnen aufgrund eigener Erfahrungen ab, der Zusammenhalt untereinander ist daher besonders groß. So beteiligt sich Dieter Wohlfahrt, der mittlerweile ein Chemie­studium an der Technischen Universität aufgenommen hat, nach der endgültigen Abriegelung der Sektorengrenze im August 1961 wie selbstverständlich daran, ehemaligen Mitschülern, deren Freunden und Angehörigen zur Flucht nach West-Berlin zu verhelfen. [2]
Dieter Wohlfahrt, erschossen an der Berliner Mauer: Klassenfoto (zweiter v.l. in der ersten Reihe, Aufnahme um 1960)
Er schließt sich der studentischen Fluchthilfegruppe um Detlev Girrmann, Dieter Thieme und Bodo Köhler an, die mit viel Geschick und Umsicht immer wieder neue Wege auftut, um Absperrungen und Kontrollen zu unterlaufen. [3] So gelingt es ihr in den ersten Wochen nach dem Mauerbau, zahlreiche Flüchtlinge durch Abwasserkanäle zu führen. Dass sich Dieter Wohlfahrt dank seines österreichischen Passes nach wie vor ungehindert zwischen beiden Teilen der Stadt hin- und herbewegen kann, spielt dabei eine entscheidende Rolle. Seine Aufgabe ist es, nach Ost-Berlin einzureisen und als sogenannter Deckelmann unauffällig die Gullydeckel zu öffnen und zu schließen, durch die die Fluchtwilligen in die Kanalisation einsteigen. Auch Karin Albert, eine ehemalige Mitschülerin, und ihr späterer ­Ehemann sind auf diese Weise in den Westen gelangt.

Dieter Wohlfahrt: geboren am 27. Mai 1941, erschossen am 9. Dezember 1961 bei einer Fluchthilfeaktion an der Berliner Mauer: Studentenausweis der TU Berlin (März 1961)
Dieter Wohlfahrt, dem sie aufgrund seiner bescheidenen und unauffälligen Art so viel Mut und Entschlossenheit gar nicht zugetraut hätten, sei damals ganz in der Arbeit als Fluchthelfer aufgegangen, sagen sie im Rückblick. [4] Daher habe er auch nicht gezögert, der 17 Jahre alten Elke C. seine Hilfe anzubieten. Diese ist erst kurz zuvor von Staaken nach West-Berlin geflüchtet und will nun an derselben Stelle ihre Mutter über die Grenze holen. Karl-Heinz Albert und ein weiterer Freund sagen ebenfalls ihre Unterstützung zu. Am festgesetzten Termin, dem 9. Dezember 1961, fahren sie mit Elke C. und deren Freundin in einem geliehenen VW-Bus an den Spandauer Stadtrand und begeben sich zur verabredeten Stelle an der Bergstraße / Ecke Hauptstraße.

Dieter Wohlfahrt, erschossen an der Berliner Mauer: Tatortfoto der West-Berliner Polizei von der Grenze am Außenring zwischen Staaken und Berlin-Spandau, 9. Dezember 1961
Dieter Wohlfahrt, erschossen an der Berliner Mauer: Das Loch im Stacheldraht, das eine Flucht ermöglichen sollte – und stattdessen Dieter Wohlfahrt in den Tod führte (Aufnahme des MfS), 9. Dezember 1961
Während die anderen zurückbleiben, steigen Dieter Wohlfahrt und Karl-Heinz Albert gegen 19.00 Uhr über das Seil, das den Grenzverlauf markiert. Im Schutz der Dunkelheit machen sie sich mit Bolzenschneider und Kombizange an dem dreireihigen Stacheldrahtzaun zu schaffen, der an dieser Stelle die Grenzabsperrung bildet. Von der anderen Seite sei plötzlich Frau C. auf sie zugekommen und habe aufgeregt nach ihrer Tochter gerufen, erinnert sich Karl-Heinz Albert. [5] Kurz darauf habe jemand »Halt! Grenzpolizei!« gerufen und kaum, dass er sich zu Boden werfen konnte, seien schon die ersten Schüsse gefallen. Ohne getroffen zu werden, kriecht Albert hinter die Absperrung nach West-Berlin zurück. Dieter Wohlfahrt aber bleibt regungslos auf DDR-Gebiet liegen, nur fünf oder sechs Meter von der Grenzlinie entfernt. West-Berliner Polizisten, die ebenso wie Angehörige der britischen Militärpolizei bald darauf vor Ort eintreffen, wollen sich ihm nähern. Doch ihre Rettungsversuche werden von DDR-Grenzposten unter Androhung von Waffengewalt vereitelt. Von östlicher Seite wird dem Sterbenden keinerlei Hilfe zuteil. Über eine Stunde bleibt er zwischen den Stacheldrahtreihen liegen, bis er abtransportiert wird, ohne noch einmal ein Lebenszeichen von sich gegeben zu haben. [6]

Dieter Wohlfahrt, erschossen an der Berliner Mauer: MfS-Foto von angeblich bei Dieter Wohlfahrt sichergestellten Gegenständen, 9. Dezember 1961
Die DDR erhebt verleumderische Anschuldigungen gegen Dieter Wohlfahrt und seine Freunde. Die offiziellen Verlautbarungen besagen, es habe sich um einen bewaffneten Anschlag auf die »Staatsgrenze« gehandelt, bei dem die jugendlichen Fluchthelfer das Feuer eröffnet hätten. Zum Beweis werden Schusswaffen und Sprengstoff, die angeblich bei dem Toten gefunden worden sein sollen, als »Verbrecherwerkzeuge des Provokateurs Wohlfahrt« öffentlich zur Schau gestellt. [7] Da seine Freunde glaubhaft versichern, dass keiner von ihnen bewaffnet gewesen sei, weisen westliche Ermittlungsbehörden diese Vorwürfe als Propagandalüge zurück. »Die Behauptung, die Jugendlichen hätten Pistolen und Plastikbomben bei sich gehabt«, wird ein Polizeisprecher in der Presse zitiert, »haben sich die Kommunisten eindeutig aus den Fingern gesogen. Es ist ihre alte Methode zu sagen: Der Tote ist schuld.« [8]

Dennoch wirkt diese Unterstellung aus den Zeiten des Kalten Krieges auch nach dem Ende der DDR fort. Denn zuvor geheim gehaltene Militär- und Stasi-Berichte zeigen zwar, dass Dieter Wohlfahrt an jenem Abend von Angehörigen der DDR-Grenzpolizei in einen Hinterhalt gelockt wurde, sie stellen die Ereignisse jedoch ebenfalls so dar, als sei er bewaffnet gewesen und hätte zuerst geschossen. [9] Der Verdacht, dass diese Dokumente seinerzeit zu Propagandazwecken gefälscht oder manipuliert wurden, liegt nahe, lässt sich aber nicht beweisen. Die strafrechtlichen Ermittlungen gegen die ehemaligen Grenzpolizisten, die Dieter Wohlfahrt erschossen haben, werden daher 1996 mit der Begründung eingestellt, im Zweifel hätten die mutmaßlichen Täter in Notwehr gehandelt. [10]

Der gewaltsame Tod des 20 Jahre alten Dieter Wohlfahrt ist für alle, die ihn kannten, ein großer Schock. Seine Mutter und seine Geschwister in Hohen Neuendorf werden vom Staatssicherheitsdienst vernommen und angewiesen, ihren Wohnort vorübergehend nicht zu verlassen. An der Beerdigung, die von der Stasi organisiert am 14. Dezember in Nauen stattfinden muss, darf außer ihnen niemand teilnehmen. [11] In West-Berlin reicht die Anteilnahme am Schicksal von Dieter Wohlfahrt unterdessen weit über seinen Freundeskreis hinaus. Auf Initiative der katholischen Studentengemeinde findet in der Schöneberger St. Matthias Kirche ein Requiem statt, Professoren der Technischen Universität gedenken seiner in ihren Vorlesungen, und die Todesstelle wird durch ein Holzkreuz kenntlich gemacht.

Dieter Wohlfahrt, erschossen an der Berliner Mauer: Kranzniederlegung am Gedenkkreuz für Dieter Wohlfahrt, 13. August 1963
Die Wut der West-Berliner richtet sich aber nicht allein gegen die Verantwort­lichen in der DDR. Es ist vielmehr das erste Mal, dass ein Todesfall an der Berliner Mauer Proteste gegen die eigene politische Führung auslöst, wie Sebastian Haffner als zeitgenössischer Beobachter schon damals hervorhob. [12] Studentenvertreter bringen ihre Kritik in einem offenen Brief an die alliierten Stadtkommandanten, den Regierenden Bürgermeister und den Innensenator zum Ausdruck: »Angesichts der Unmenschlichkeit, den Angeschossenen zwei Stunden ohne jede Hilfe liegenzulassen, ist es uns unverständlich, daß weder unsere Polizei noch die britische Schutzmacht einen Weg fand, dem Verletzten zu helfen«, erklären sie und schließen daraus: »Durch die Zurückhaltung auf unserer Seite werden die östlichen Machthaber weiter ermuntert, keine Rücksicht auf Menschenleben zu nehmen.« [13]

Neben dem Gedenkkreuz für Dieter Wohlfahrt in der Berg-/Ecke Hauptstraße in Staaken wurde 2011 eine Erinnerungsstele errichtet. An seinem 50. Todestag wurde in der Bertha-von-Suttner-Oberschule Berlin-Reinickendorf, seinem damaligen Gymnasium, eine Tafel zum ehrenden Gedenken an Dieter Wohlfahrt angebracht.
Dieter Wohlfahrt, erschossen an der Berliner Mauer: Inschrift am Gedenkkreuz in Staaken, Bergstraße (Aufnahme 2004)


Text: Christine Brecht

[1] Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung der Tante von Dieter Wohlfahrt durch die West-Berliner Polizei, 9.12.1961, in: StA Berlin, Az. 27 / 2 Js 145 / 90, Bd. 1, Bl. 13. Zu familiärer Herkunft und zum Werdegang vgl. auch den Bericht [des MfS] / Abt. VII / Potsdam betr. Dieter Wohlfahrt, 11.12.1961, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 1753 / 62, Bl. 272, sowie die Abschrift der Tel.-Mitteilung des Leiters der MfS / KD Oranienburg betr. Vorkommnisse im Zusammenhang mit der Familie Wohlfahrt, 11.12.1961, in: Ebd., Bl. 273–274. [2] Vgl. Zeitzeugeninterview von Maria Nooke mit Dr. Ruth Wellmer-Hesse, einer ehemaligen Lehrerin von Dieter Wohlfahrt, 15.4.1999, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer. [3] Vgl. Marion Detjen, Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961– 1989, München 2005, S. 95– 115. [4] Vgl. Gespräch von Christine Brecht mit Karin und Karl-Heinz Albert, der ehemaligen Mitschülerin von Dieter Wohlfahrt und seinem Fluchthilfepartner, 30.4.2007 – Siehe dazu auch die Schilderung von Karl-Heinz Albert, in: Maria Nooke (Hg.), Mauergeschichten von Flucht und Fluchthilfe. Begegnung mit Zeitzeugen, Berlin 2017, S. 41f. [5] Vgl. ebd., sowie die Niederschrift der Zeugenvernehmung eines ehemaligen Flüchtlings, Fluchthelfers und Freundes von Dieter Wohlfahrt durch die West-Berliner Polizei, 9.12.1961, in: StA Berlin, Az. 27 / 2 Js 145 / 90, Bd. 1, Bl. 7– 10, sowie die Niederschrift der Zeugenvernehmung eines ehemaligen Flüchtlings, Fluchthelfers und Freundes von Dieter Wohlfahrt durch die Berliner Polizei, 19. 5. 1993, in: Ebd., Bd. 2, Bl. 364–373. [6] Vgl. Abschrift der West-Berliner Polizei aus dem Tgb. des RKB 146, lfd. Nr. 453 / 62, 9.12.1961, in: StA Berlin, Az. 27 / 2 Js 145 / 90, Bd. 1, Bl. 2, sowie Zwischenbericht der West-Berliner Polizei, 16.12.1961, in: Ebd., Bl. 22– 23. [7] »Grenzsicherungskräfte der DDR beschossen«, in: Neues Deutschland, 11.12.1961; vgl. auch »Hintergründe der Anschläge aufgedeckt«, in: Neues Deutschland, 12.12.1961. [8] »Rote Mordschützen fanden neues Opfer«, in: Der Kurier, 11.12.1961. [9] Vgl. Bericht des MdI / Bepo / 2.GB (B) / Der Kommandeur betr. Provokation am 9.12.1961, 10.12.1961, in: BArch, DY 30 / IV 2 / 12 / 74, Bd. 1, Bl. 91–96, sowie Einzel-Information des MfS / ZAIG über Grenzprovokation an der Staatsgrenze nach Westberlin am 9.12.1961, 10.12.1961, in: BStU, MfS, Z 525, Bl. 40–46. [10] Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin [27 / 2 Js 145 / 90], 4.12.1996, in: StA Berlin, Az. 27 Js 145 / 90, Bd. 3, Bl. 648–674. [11] Vgl. Protokoll des MfS / BV Potsdam / U-Abt. betr. Einsargung und Beerdigung des beim Grenzdurchbruch tödlich verletzten Dieter Wohlfahrt, 14.12.1961, in: BStU, Ast. Potsdam, AU 1753 / 62, Bl. 270, sowie Mitteilung des [MfS] / Abt. XII betr. Grenzverletzung, 11.12.1961, in: Ebd., Bl. 275. [12] Vgl. Sebastian Haffner, Der Mord an der Mauer. Ost und West sahen zu, wie Dieter Wohlfahrt starb, in: Christ und Welt, 15.12.1961. [13] »TU-Studenten fragen: Warum wurde Dieter Wohlfahrt nicht geholfen?«, in: Der Tagesspiegel, 12.12.1961; vgl. auch »Studenten kritisieren die Polizei«, in: Die Welt, 12.12.1961.

Dokumente

RIAS-Reportage über die Tötung des studentischen Fluchthelfers Dieter Wohlfahrt durch DDR-Grenzpolizisten (mit Mitschnitten aus einer Ost-Berliner Pressekonferenz sowie einem Interview mit einer Augenzeugin), 12. Dezember 1961
(Quelle: Archiv Deutschlandradio, Sendung: Die Zeit im Funk, Reporter: Helmut Fleischer)
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