Todesopfer > Krüger, Ingo

Todesopfer

Zurück zur Übersicht
Ingo Krüger: geboren am 31. Januar 1940, ertrunken am 11. Dezember 1961 bei einem Fluchtversuch im Berliner Grenzgewässer (Aufnahme um 1955)
Ingo Krüger, ertrunken im Berliner Grenzgewässer: Gedenkkreuz am Checkpoint Charlie (Aufnahme 2005)

Ingo Krüger

geboren am 31. Januar 1940
ertrunken am 11. Dezember 1961


in der Spree nahe der Marschallbrücke
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Tiergarten
Da er Sporttaucher ist, liegt der Gedanke nahe, mit Hilfe einer Taucherausrüstung durch eines der vielen Grenzgewässer zu flüchten. Diese Idee scheint damals viele Anhänger gehabt zu haben, denn Ost-Berliner Taucherclubs verzeichnen seit dem 13. August 1961 sprunghaft steigende Mitgliederzahlen. Seit Anfang November bereitet Ingo Krüger seine Flucht vor. Dabei wird er von Stasi-Mitarbeitern auf Schritt und Tritt verfolgt, wie Observationsberichte dokumentieren.Ingo Krüger wird am 31. Januar 1940 in Berlin-Dahlem geboren. Sein Vater stirbt als Soldat im Zweiten Weltkrieg. Nachdem seine Mutter wieder geheiratet hat, wohnt die Familie im Ostteil der Stadt. Dort, im Treptower Ortsteil Niederschöne­weide, wächst Ingo Krüger auf. [1] Sein Stiefvater arbeitet beim DDR-Fernsehen und seine Mutter ist als »Volksrichterin« tätig. [2] Ingo Krüger absolviert nach dem Schulabschluss eine Lehre als Koch und ist seither in einem staatlichen Betrieb angestellt, dem die gastronomische Versorgung der Gästehäuser der DDR-Regierung obliegt. Auf den ersten Blick linientreu und angepasst, verzichtet die Familie allerdings keineswegs darauf, den Kontakt mit Verwandten und Bekannten in West-Berlin zu pflegen. Auch Ingo Krügers Verlobte Ingrid R. ist im anderen Teil der Stadt zu Hause. Sie kennen sich seit ihrer Kindheit, als sie in Berlin-Johannisthal zusammen zur Schule gingen. Obwohl Ingrid und ihre Mutter inzwischen in West-Berlin leben, werden die beiden Jugendlichen 1958 ein Paar. Schon vor dem Mauerbau bekommt Ingo Krüger deshalb Probleme im Betrieb. Seine Westkontakte werden von Kollegen, die für die Stasi Spitzeldienste leisten, minutiös dokumentiert und zur »Agententätigkeit« aufgebauscht. [3] Als er deshalb zur Rede gestellt wird, gibt Ingo Krüger vor, seine Verlobte wolle nach der Hochzeit nach Ost-Berlin ziehen, und stellt einen Antrag auf eine eigene Wohnung. [4]

Samstag, den 12. August 1961, verbringen Ingo Krüger und Ingrid R. gemeinsam mit Freunden in Ost-Berlin, übernachten danach in der Wohnung der Verlobten in West-Berlin. In Unkenntnis der Abriegelungsmaßnahmen fährt Ingo Krüger in den Morgenstunden zurück in den Ostsektor, um seine Sonntagsschicht im Gästehaus der DDR-Regierung anzutreten; am Vormittag, erinnert sich Ingrid R., habe es dort ein Bankett für hohe Partei- und Staatsfunktionäre gegeben, unter ihnen Walter Ulbricht. [5]

Durch die Sperrmaßnahmen sind Ingo Krüger und Ingrid R. fortan voneinander getrennt. Sie suchen nach Möglichkeiten, sich dennoch zu sehen, und verabreden Treffpunkte an abgelegenen Stellen am Stadtrand, wo sie über den Stacheldraht hinweg heimlich Briefe und Geschenke austauschen. Im Laufe der Zeit gestalten sich diese Treffen jedoch immer schwieriger. Bei einem Kontaktversuch wird Ingo Krüger sogar vorübergehend festgenommen und ermahnt, der Grenze fernzubleiben. [6] Um sich weiterhin sehen zu können, entwickeln sie eine neue Strategie. Ingrid R. lässt sich bei Verwandten in der Bundesrepublik polizeilich registrieren. Denn Westdeutsche dürfen – anders als West-Berliner – auch nach dem Mauerbau nach Ost-Berlin einreisen. [7] Auf diese Weise kann sie ihren Verlobten wieder besuchen. Doch als das Paar erkennt, dass die geschlossene Grenze zum Dauerzustand wird, beginnt Ingo Krüger, seine Flucht vorzubereiten.

Ingo Krüger, ertrunken im Berliner Grenzgewässer: MfS-Foto von der Taucherausrüstung, Dezember 1961
Da er Sporttaucher ist, liegt der Gedanke nahe, mit Hilfe einer Taucherausrüstung durch eines der vielen Grenzgewässer zu flüchten. Diese Idee scheint damals viele Anhänger gehabt zu haben, denn Ost-Berliner Taucherclubs verzeichnen seit dem 13. August 1961 sprunghaft steigende Mitgliederzahlen. [8] Seit Anfang November bereitet Ingo Krüger seine Flucht vor. Dabei wird er von Stasi-Mitarbeitern auf Schritt und Tritt verfolgt, wie Observationsberichte dokumentieren. [9] Sein Fluchtweg soll im Stadtzentrum beginnen und durch die Spree bis zum Reichstagsgebäude führen. Mehrere Freunde helfen ihm bei den Vorbereitungen. Auch seine Verlobte ist eingeweiht. Am 10. Dezember 1961 gegen 23.00 Uhr fährt Ingo Krüger mit zwei Freunden per Taxi zum Spreeufer am Schiffbauerdamm. Unter seinem Mantel hat er den Taucheranzug schon angelegt. Eine Freundin, die den Bootsverkehr auf der Spree beobachtet, erwartet sie. Um den Booten des in die Grenzbewachung einbezogenen DDR-Zolls auszuweichen, so lautet ihr Rat, solle er unterhalb des Bahnhofs Friedrichstraße in den Fluss steigen. [10] So könnten ihn die Bootsbesatzungen nicht entdecken. Ingo Krüger legt das Atemgerät an und begibt sich ins Wasser. Seine Freunde bleiben am Ufer zurück und versuchen, seinen Weg zu verfolgen. Schon bald merken sie, dass etwas schiefgegangen sein muss.

Am gegenüberliegenden West-Berliner Ufer wartet Ingrid R. vergebens auf ihren Verlobten. Entsetzt muss sie mit ansehen, wie Angehörige des DDR-Zolls von einem Boot aus das Wasser mit Haken und Scheinwerfern absuchen und schließlich einen Körper aus dem Wasser ziehen. [11] Trotz der schlechten Sichtverhältnisse besteht für Ingrid R. kein Zweifel, dass es sich um ihren Verlobten handelt, dessen Fluchtversuch gescheitert ist. Während sie hofft, dass er mit dem Leben davongekommen sein möge, ist der 21 Jahre alte Flüchtling Meldungen der Ost-Berliner Grenzpolizei zufolge bereits tot, als er an der Marschallbrücke aus dem Wasser geborgen wird. [12] Dann wäre der 10. Dezember sein Todestag. Laut Leicheneingangsbuch des Gerichtsmedizinischen Instituts der Humboldt-Universität ist der Tod am 11. Dezember um 0.10 Uhr eingetreten. [13] Als Todesursache wird im Obduktionsbuch »wahrscheinlich Tod durch Ertrinken« vermerkt. [14]

Gegenüber den Eltern und Arbeitskollegen von Ingo Krüger behaupten die DDR-Behörden, die Schuld an seinem Tod trügen seine Verlobte und Freunde, die ihm bei den Vorbereitungen geholfen hätten. [15] Einer seiner Freunde wird wegen Beihilfe zur »Republikflucht« verhaftet, ein anderer vom MfS zur Mitarbeit erpresst. [16] Während am 23. Dezember auf dem Ost-Berliner Friedhof Baumschulenweg die Beerdigung stattfindet, ist Ingrid R. noch immer im Ungewissen über das Schicksal ihres Verlobten. Auf die Briefe, die sie an die Mutter von Ingo Krüger schreibt, erhält sie wochenlang keine Antwort. Erst auf Umwegen erfährt sie im Januar die schreckliche Wahrheit. [17]

Ingo Krüger, ertrunken im Berliner Grenzgewässer: Tot geborgen an der Marschallbrücke, MfS-Aufnahme 1961
Die genauen Umstände des Todes von Ingo Krüger bleiben ungeklärt. Vermutungen, er sei gewaltsam zu Tode gekommen, lassen sich nicht bestätigen. Untersuchungen des MfS sollen ergeben haben, »daß der Tod bei K[rüger] auf Grund Versagen des (Atem)Gerätes herbeigeführt wurde«. [18] Ermittlungen, die in den 1990er Jahren im Zuge der strafrechtlichen Verfolgung von Gewaltakten an Mauer und Grenze aufgenommen werden, kommen hingegen zu dem Schluss, dass er in jener Dezembernacht infolge eines Kälteschocks tödlich verunglückt ist. [19]

Text: Christine Brecht

[1] Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung der Mutter von Ingo Krüger durch die West-Berliner Polizei, 9.11.1977, in: StA Berlin, Az. 2 Js 147 / 90, Bl. 42–45. [2] Im Zuge von Entnazifizierung und Stalinisierung wurden nach 1945 in der SBZ / DDR Laien, die als unverdächtig und zuverlässig angesehen wurden, in Schnellkursen zu sogenannten Volksrichtern ausgebildet. Vgl. Hermann Wentker, Volksrichter in der SBZ-DDR 1945 bis 1952. Eine Dokumentation, München 1997. [3] Vgl. Abschrift eines GI-Berichtes [des MfS] / HA PS / Abt. I, 21.1.1960, in: BStU, MfS, AOPK 20505 / 62, Bd. 1, Bl. 62; Aktenvermerk der Kaderleiterin / VEB Gästehäuser der Regierung [für das MfS] betr. Ingo Krüger, 30.12.1960, in: Ebd., Bl. 249. [4] Vgl. Aktenvermerk der Kaderleiterin / VEB Gästehäuser der Regierung [für das MfS] betr. Ingo Krüger, 9.1.1961, in. Ebd., Bl. 250. [5] Gespräch von Maria Nooke mit Ingrid R., 29.3.2011, sowie Zeitzeugeninterview von Maria Nooke und Clemens Villinger mit Ingrid R., 23.3.2012, Archiv der Gedenkstätte Berliner Mauer. [6] Vgl. Handschriftlicher Festnahmebericht der Bepo / 4. Komp., 25.10.1961, in: Ebd., Bl. 310. [7] West-Berlinern war die Einreise nach Ost-Berlin ab dem 24.8.1961 verboten. Dabei blieb es bis zum ersten Passierscheinabkommen für die Weihnachtsfeiertage im Dezember 1963. [8] Vgl. Protokoll der Ost-Berliner Volkspolizei, 7.4.1962, in: LAB, C Rep 303-26-01, Nr. 495, o. Pag. Demnach wurden alle Tauchsportler polizeilich überprüft, nachdem die Tauchclubs nach dem Mauerbau einen enormen Zulauf zu verzeichnen hatten. [9] Vgl. Abschrift eines GI-Berichtes [des MfS] / HA PS / Abt. I betr. Ingo Krüger – Koch Thälmannplatz, in: BStU, MfS, AOPK 20505 / 62, Bd. 1, Bl. 337 –338, sowie Beobachtungsbericht des MfS / Verwaltung HA VIII / Abt. I / Referat 3 zu Ingo Krüger, 29.11.1961, in: Ebd., Bl. 370–378. [10] Vgl. Manfred Suwalski, Die Entwicklung der Zollverwaltung der DDR (1945– 1990), in: Torsten Diedrich / Hans Ehlert / Rüdiger Wenzke (Hg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998, S. 577 –592. [11] Vgl. auch Ereignismeldung der West-Berliner Polizei, 11.12.1961, in: PHS, Bestand Ereignismeldungen der West-Berliner Schutzpolizei, o.Pag. [12] Rapport Nr. 342 der HV DVP / Operativstab, 11.12.1961, in: BArch, DO1 / 11.0 / 1358, Bl. 192. [13] Bericht der Berliner Polizei, 29.10.1991, in: StA Berlin, Az. 2 Js 147 / 90, Bl. 67. [14] Ebd. [15] Vgl. Auswertung des MfS / HA PS von einem Vorgang im Gästehaus der Regierung am Thälmannplatz, 12.7.1962, in: BStU, MfS, AOPK 20505 / 62, Bd. 2, Bl, 214–224, hier Bl. 214, 223– 224. [16] Vgl. Abschrift eines Befragungsberichtes [des MfS] / HA PS / Abt. I, 23. 3. 1962, in: BStU, MfS, 3245 / 65, Bd. 1, Bl. 91, 113, 114, 117, 168– 169. [17] Vgl. Brief der Großmutter von Ingo Krüger an dessen Verlobte, 4.1.1962, in: StA Berlin, Az. 2 Js 147 / 90, Bl. 13– 17. [18] Auswertung [des MfS] / HA PS / Abt. I betr. Vorgang Ingo Krüger, 20.8.1962, in: BStU, MfS, AOPK 20505 / 62, Bd. 2, Bl. 216–225, Zitat Bl. 224. [19] Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft II bei dem Kammergericht Berlin (27 AR 74 / 97), 4.3.1998, in: StA Berlin, Az. 2 Js 147 / 90, Bl. 170– 171.

Dokumente

RIAS-Interview mit einer Augenzeugin über den tödlichen Fluchtversuch von Ingo Krüger, 1. Februar 1962
(Quelle: Archiv Deutschlandradio, Sendung: Die Zeit im Funk, Reporter: Helmut Fleischer)
Zum Seitenanfang