Todesopfer > Schulze, Klaus

MfS-Bericht über den Fluchtversuch von Klaus Schulze

9. März 1972

[...]

Bericht

über ein Vorkommnis im Bereich des 54. Grenzregimentes Raum Falkensee, Ortsteil Falkenhöh

Am 7.3.1972 gegen 21.50 Uhr versuchte
    SCHULZE, Klaus
    geboren am 13.10.1953 in Falkensee
    ohne erlernten Beruf
    zuletzt Hilfsschlosser beim VEB Landmaschinenbau Falkensee
    wohnhaft: Falkensee, (...)
gemeinsam mit einer weiteren männlichen Person, vermutlich
    (...)
    geboren am (...) 1953 in Berlin (...)
    ohne erlernten Beruf
    zuletzt Arbeiter im VEB (...)
    wohnhaft: Falkensee, (...)
im Grenzabschnitt Falkenhöh mittels einer selbstgefertigten Holzleiter von ca. 2,50 m Länge die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik nach Westberlin zu überwinden.

Während SCHULZE nach Schußwaffenanwendung durch Angehörige der NVA-Grenze tödlich verletzt wurde, gelang (...) der Grenzdurchbruch nach Westberlin.

Die bisher durch Kräfte der Abteilung IX im Zusammenwirken mit der Abteilung VII der BVfS Potsdam durchgeführten Untersuchungen ergaben:

Die Grenzverletzer näherten sich am 7.3.1972 gegen 21.50 Uhr unter Mitführung einer selbstgefertigten Holzleiter mit schnellen Schritten im Grenzabschnitt Falkenhöh den als Grenzbefestigung dienenden Streckmetallzaun, wobei sie die Dunkelheit und das nebelig-regnerische Wetter aus nutzten. Bei ihrer Annäherung an die Grenzbefestigung wurden sie von dem Postenpaar auf dem B-Turm in der Pestalozzistraße als Schatten wahrgenommen.

Als die Grenzverletzer die Leiter an den Streckmetallzaun anlegten, brachte das Postenpaar von dem ca. 380 m von der Durchbruchstelle entfernten B-Turm aus ein LMG und eine MPi "Kalaschnikow" in Anwendung und gab insgesamt 83 Schuß ab, wobei der Grenzverletzer SCHULZE tödlich verletzt wurde.

(...) überwand mittels der angelegten Leiter den Streckmetallzaun und flüchtete auf Westberliner Gebiet.

Die Durchbruchstelle ist von Westberliner Gebiet aus nicht direkt einsehbar, da die Entfernung zwischen Streckmetallzaun und Grenzlinie ca. 700 bis 800 m beträgt und das Gelände teilweise stark mit Bäumen bewachsen ist.

Die Anwendung der Schußwaffen durch die Grenzsicherungskräfte der NVA wurde jedoch von den auf Westberliner Seite handelnden Polizeikräften wahrgenommen.

Gegen 23.25 Uhr wurden die Stützpunkte 7,8 und 9 auf Westberliner Territorium mit jeweils zwei Angehörigen der Westberliner Polizei besetzt. Darüber hinaus wurde das DDR-Gebiet unmittelbar an der Grenzlinie mehrmals abgeleuchtet.

In der Westberliner Presse erschien bisher ein kurzer Bericht über einen gelungenen Grenzdurchbruch eines 18-jährigen DDR-Bürgers unter den geschilderten Umständen. Den Pressemeldungen zufolge ist nicht bekannt, daß SCHULZE getötet wurde, da die Vermutung einer Festnahme des Genannten geäußert wird.

Die Annahme, daß es sich bei dem erwähnten 18-jährigen DDR-Bürger um (...) handelt, ergibt sich aus der Übereinstimmung der Altersangabe in der Presse mit dem tatsächlichen Alter des (...) sowie den Tatsachen, daß (...) mit SCHULZE sehr eng befreundet war und seit 7.3.1972 abgängig ist.

Der Grenzdurchbruch wurde unter anderem dadurch begünstigt, daß die Sicherungen des Signalzaunes sowie der vorhandenen Signalgeräte nicht funktionstüchtig waren. Darüber hinaus war die an der Durchbruchstelle installierte Quecksilberdampfleuchte seit zehn Tagen defekt, weil die funktionsuntüchtige Patentsicherung nicht ausgewechselt worden war. Über die festgestellten begünstigenden Bedingungen wurden die HA I und die Abteilung VII der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam zwecks Einleitung von Maßnahmen der Veränderung informiert.

Zur Person des SCHULZE wurde bisher ermittelt:

Er entstammt einer Arbeiterfamilie. Sein Vater ist als Arbeiter im VEB (...) tätig. Seine Mutter ist Hausfrau.

SCHULZE, [...], absolvierte die Polytechnische Oberschule mit Abschluß der 5. Klasse.

In seinen bisherigen Arbeitsstellen zeigte er wenig Interesse an der Arbeit und mußte bisher dreimal (...) disziplinarisch zur Verantwortung gezogen werden.

Im Jahre 1967 versuchte er im Raum Potsdam die Deutesche Demokratische Republik aus bisher nicht bekannten Gründen illegal zu verlasen. Ein Ermittlungsverfahren wurde auf Grund seines Alters nicht durchgeführt. Westverbindungen konnten bisher nicht festgestellt werden.

Zur Person des (...) wurde bisher festgestellt:

(...) lebte bisher bei Pflegeeltern, die im VEB (...) tätig sind und bisher noch nicht negativ aufielen.

Bei dem leiblichen Vater des (...) handelt es sich um einen ehemaligen Grenzgänger, der 1966 wegen staatsfeindlicher Hetze zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und im Jahre 1967 nach Westberlin ausgewiesen wurde. Seit diesem Zeitpunkt ist er bei der Westberliner BVG (...) tätig.

(...) stand mit seinem Vater in brieflicher Verbindung. Es wurde weiterhin ermittelt, daß (...) häufig die Arbeitsstellen wechselte, mehrfach wegen Arbeitsbummelei disziplinarisch bestraft werden mußte und im Jahre 1969 durch die Konfliktkommission seines Betriebes zur Verantwortung gezogen wurde, [...]

Seit 1969 stand er unter Kontrolle des Referates Jugendhilfe/Heimerziehung.

Bei Bestätigung der Identität des (...) mit dem zweiten Grenzverletzer ist seitens der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen diese Person vorgesehen.

Die weiteren Untersuchungen werden nach folgenden Schwerpunkten durchgeführt:

- Aufklärung möglicher Westverbindungen unter dem Aspekt der Prüfung des Vorliegens einer vom Gegner organisierten Grenzprovokation;

- Klärung des Persönlichkeitsbildes des SCHULZE und (...) insbesondere zur Feststellung der Motive und Ursachen des Grenzdurchbruches;

- Prüfung möglicher Zusammenhänge mit anderen in der Vergangenheit im Grenzabschnitt Falkenhöh durchgeführten Grenzdurchbrüchen;

- Einleitung von Maßnahmen der operativen Absicherung der Einäscherung des SCHULZE durch die KD Falkensee.

Die Eltern des SCHULZE wurden am 10. 3. 1972 durch den zuständigen Staatsanwalt und einem verantwortlichen Mitarbeiter der Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Potsdam davon unterrichtet, daß ihr Sohn im Zusammenhang mit der Abwehr eines von ihm gegen die Sicherheit der Deutschen Demokratischen Republik unternommenen Angriffes tödlich verletzt wurde.

Seitens der Kreisdienststelle Nauen wurden unter Einbeziehung des inoffiziellen Netzes Maßnahmen getroffen, um mögliche negative Reaktionen der Angehörigen des SCHULZE in Erfahrung zu bringen und diesen durch entsprechende Argumentation entgegenwirken zu können.

Darüber hinaus leitete die Kreisdienststelle Nauen über die Eltern des SCHULZE und (...) Postkontrolle ein und traf Maßnahmen zur operativen Absicherung der Urnenbeisetzung.

T(...) Hauptmann

[...]

Quelle: BStU, MfS, HA IX Nr. 1038, Bl. 159-163
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