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Vereinbarung des Berliner Senats und der DDR- Regierung über Rettungsmaßnahmen bei Unfällen an der Berliner Sektorengrenze, 29. Oktober 1975

29. Oktober 1975

Vereinbarungen des Berliner Senats und der DDR-Regierung über Rettungsmaßnahmen bei Unfällen an der Berliner Sektorengrenze

Der bevollmächtigte Vertreter des Berliner Senats, Senatsrat Heinz Annußek, und der Beauftragte der Regierung der DDR, Joachim Mitdank, tauschten am 29. Oktober 1973 in Ost-Berlin Briefe aus, die die Zuständigkeit für Rettungsmaßnahmen bei Unglücksfällen in Gewässern an der Berliner Sektorengrenze regeln.

Schreiben der DDR-Regierung

Im Auftrage der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik beehre ich mich, Ihnen folgendes mitzuteilen:

1. Falls trotz der vom Senat auch weiterhin zu treffenden notwendigen unfallverhindernden Maßnahmen Personen (z. B. Kinder, alte und gebrechliche Menschen) von Berlin (West) aus auf den im folgenden genannten Grenzgewässern in eine akute Notlage geraten, ist die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik damit einverstanden, daß die gemäß Absatz 2 und 3 der Anlage zu diesem Schreiben befugten Personen unter den dort genannten Voraussetzungen und Bedingungen Rettungsmaßnahmen treffen können.

2. Die in Punkt 1 genannten Rettungsmaßnahmen können auf den Grenzgewässern

- Berlin - Spandauer Schiffahrtskanal, Humboldt-Hafen und Spree von Kieler Brücke (km 10,6) bis westlich Marschallbrücke (km 15,1) und - Spree von Schillingbrücke (km 19,3) bis Einmündung Flutgraben (km 21,3) getroffen werden.

3. Die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik geht dabei davon aus, daß der Senat im Rahmen seiner rechtlichen Möglichkeiten die erforderlichen Vorkehrungen trifft, um

- die Einhaltung der als Anlage zu diesem Schreiben genannten Voraussetzungen und Bedingungen für die Durchführung von Rettungsmaßnahmen zu gewährleisten;

- Handlungen zu verhindern, die einen Mißbrauch der in Absatz 6 der als Anlage zu diesem Schreiben genannten Einrichtungen zur Kenntlichmachung oder Durchführung von Rettungsmaßnahmen oder einen Verstoß gegen die allgemein üblichen Vorschriften bezüglich der öffentlichen Ordnung auf den bezeichneten Gewässerabschnitten darstellen;

- zu gewährleisten, daß die Durchführung von Rettungs- bzw. Bergungsmaßnahmen in den genannten Grenzgewässern von Berlin (West) aus nicht behindert wird.

4. Diese Festlegungen gelten vom heutigen Tage an und verlieren ihre Gültigkeit, wenn die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik dies dem Senat mitteilt.

Anlage zum Schreiben der DDR-Regierung

(1) Rettungsmaßnahmen können in solchen Ausnahmefällen eingeleitet werden, in denen zu solchen Maßnahmen befugte Personen von Berlin (West) vor den Organen der DDR am Unglücksort eintreffen. Erachten diese im Einzelfall eine Unterstützung bei Rettungsmaßnahmen durch befugte Personen aus Berlin (West) für erforderlich, wird das am Unglücksort mitgeteilt.

(2) Maßnahmen zur Rettung von Berlin (West) aus verunglückter Personen können durch Angehörige der Feuerwehr und der Arbeitsgemeinschaft Wasserrettungsdienst von Berlin (West) getroffen werden.

(3) Angehörige der Polizei, des Zolls sowie Privatpersonen von Berlin (West) können von Berlin (West) aus verunglückten Personen durch das Zuwerfen von Rettungsringen, Leinen u. a. Hilfsmitteln vom Ufer aus Hilfe leisten.

(4) Falls die unter Absatz 3 genannten Maßnahmen nicht zum Erfolg führen oder erkennbar nicht zum Erfolg führen können und weder die in Absatz 1 genannten Organe noch die in Absatz 2 genannten Personen von Berlin (West) rechtzeitig am Unglücksort eingetroffen sind, dürfen die in Absatz 3 genannten Personen (in Zivil oder Uniform) zeitweilig erste Rettungsmaßnahmen auf den Grenzgewässern durchführen.

(5) Die zu Rettungsmaßnahmen gemäß den vorstehenden Absätzen befugten Personen handeln auf den genannten Grenzgewässern ohne hoheitsrechtliche Befugnisse.

(6) Zu Rettungsmaßnahmen befugte Personen haben vor der Einleitung von Rettungsmaßnahmen diese durch die Betätigung von Rettungssäulen, die entlang der genannten Grenzgewässer am Ufer von Berlin (West) in günstigen Abständen entsprechend den örtlichen Gegebenheiten durch den Senat gut sichtbar aufgestellt werden, kenntlich zu machen bzw. anzukündigen. Es wird davon ausgegangen, daß

- die Rettungssäulen ausgerüstet werden mit

a) einem elektroakustischen Signalç b) einem optischen Signal (Rundum-Kennleuchte rot) sowie
c) einem Rettungsring mit Leine

- entsprechend den technischen Möglichkeiten das akustische und optische Signal so gekoppelt werden, daß sie durch die Betätigung eines gesicherten Alarmauslösers ausgelöst werden.

Bis zur Fertigstellung der durch den Senat zu errichtenden Rettungssäulen, längstens jedoch für die Dauer von 6 Monaten, sind Rettungsmaßnahmen durch Signale mit blauer Rundumleuchte und Einsatzhorn sowie einer Mitteilung durch Megaphon kenntlich zu machen bzw. anzukündigen.

(7) Zu Rettungsmaßnahmen befugte Personen werden sich auf Aufforderung der Organe der DDR unverzüglich vom Unglücksort zurückziehen und sich jeder Eingriffe in deren Tätigkeit enthalten. Beim Eintreffen der Organe der DDR am Unfallort werden diese, sofern bereits Rettungsmaßnahmen durch befugte Personen von Berlin (West) durchgeführt wurden, über die Lage am Unfallort in Kenntnis gesetzt.

(8) Bei Rettungsmaßnahmen auf den genannten Grenzgewässern können die in Absatz 2 genannten Organe von Berlin (West) für die Dauer der Rettungsmaßnahmen am Unglücksort (bis zu 15 Minuten)

- Rettungskräfte bis zu 4 Personen (davon bis zu 2 Taucher)

- ein Rettungsboot (Schlauchboot oder Aluminiumboot)

- Hilfsmittel zur Rettung Verunglückter einsetzen.

(9) Maßnahmen zur Auffindung und Bergung Ertrunkener werden allein von den Organen der DDR durchgeführt. Falls im Einzelfall eine Unterstützung durch die zu Rettungsmaßnahmen befugten Personen von Berlin (West) für erforderlich erachtet wird, wird das durch die am Unglücksort anwesenden Organe der DDR mitgeteilt.

(10) Personen aus Berlin (West), die auf den genannten Grenzgewässern von Organen der DDR gerettet werden, werden nach ärztlicher Feststellung ihrer Transportfähigkeit nach Berlin (West) zurückbefördert.

(11) Die Regierung der DDR ist damit einverstanden, daß Personen aus Berlin (West), die von den mit Rettungsmaßnahmen befaßten Personen von Berlin (West) auf Grenzgewässern gerettet werden, nach Zustimmung der Organe der DDR sofort nach Berlin (West) transportiert werden. In Ausnahmefällen, in denen Organe der DDR nicht am Unglücksort eingetroffen sind, können gerettete Personen aus Berlin (West) sofort ohne vorherige Zustimmung nach Berlin (West) transportiert werden.

Antwortschreiben des Berliner Senats

1. In Übereinstimmung mit den Regelungen des Abkommens zwischen den Regierungen der Französischen Republik, der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland und der Vereinigten Staaten von Amerika vom 3. September 1971 und aus humanitären Gründen nimmt der Senat die praktischen Rettungsmaßnahmen zur Kenntnis, die im Auftrag der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik in Ihrem Schreiben vom 29. Oktober 1975 mitgeteilt sind.

2. Der Senat wird unverzüglich die erforderlichen Vorkehrungen dafür treffen, daß die in Ihrem Schreiben und seiner Anlage enthaltenen Voraussetzungen und Bedingungen eingehalten werden können.

3. Diese Festlegungen gelten vom heutigen Tage an und verlieren ihre Gültigkeit, wenn der Senat dies der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik mitteilt.

„Neues Deutschland", Berlin (Ost), vom 30. Oktober 1975

Gemeinsame Erklärung der Alliierten Kommandantur und des Berliner Senats

Der Senat von Berlin und die Alliierte Kommandantur veröffentlichten am 29. Oktober 1975 zu dem Briefwechsel folgende gemeinsame Erklärung:

1. Bei der vor vier Jahren am 3. September 1971 erfolgten Unterzeichnung des Viermächte-Abkommens erklärten die vier beteiligten Regierungen, daß sie es sich zur Aufgabe machen würden, die Beseitigung von Spannungen und die Vermeidung von Komplikationen in dem betreffenden Gebiet zu fördern. Sie wiesen deshalb die betreffenden deutschen Behörden an, detaillierte Regelungen zu treffen, um praktische Verbesserungen für die Berliner zwischen den westlichen Sektoren Berlins und den daran angrenzenden Gebieten herbeizuführen.

2. In diesem Geiste äußerte der Senat vor mehr als zwei Jahren den Wunsch, daß die zuständigen Stellen im sowjetischen Sektor Berlins davon absehen sollten, etwaigen Maßnahmen im Notfall entgegenzutreten, die Helfer aus den Westsektoren der Stadt unternehmen könnten, um zur Rettung menschlichen Lebens vor Eintreffen von Helfern aus dem Ostteil der Stadt in nützlicher Weise einzugreifen.

3. Im gleichen Geiste ermächtigte die Alliierte Kommandantur den Senat, jede Verpflichtung, die die Sicherheit der Helfer gewährleisten und die Erleichterung ihrer Aufgabe bedeuten könnte, zu akzeptieren und - falls erforderlich - zur Kenntnis zu nehmen. Nachdem es nun sicher ist, daß die sowjetischen Stellen ihrerseits praktische Maßnahmen dieser Art nicht behindern würden, hegen die Kommandantur und der Senat die Hoffnung, daß in Zukunft Helfer aller Seiten imstande sein werden, einen gemeinsamen Beitrag zu ihrem natürlichen menschlichen Auftrag zu leisten.

Erläuterungen

Von sofort an sind auf dem

- Berlin-Spandauer Schiffahrtskanal, Humboldt-Hafen und Spree von Kieler Brücke (km 10,6) bis westlich Marschallbrücke (km 15,1) und

- Spree von Schillingbrücke (km 19,3) bis Einmündung Flutgraben (km 21,3) für von Berlin (West) aus in eine akute Notlage geratene Personen auch von Berlin (West) aus Rettungsmaßnahmen möglich, sofern nicht bereits Kräfte aus Ostberlin am Unglücksort eingetroffen sind.

1. In erster Linie ist die Berliner Feuerwehr befugt, Rettungsmaßnahmen durchzuführen. Sie darf dazu auf und in den Gewässern auch ein Rettungsboot, Taucher und sonstige Hilfsmittel zur Rettung Verunglückter einsetzen.

2. Auch Angehörige der Polizei und des Zolls sowie Passanten dürfen vom Ufer aus durch das Zuwerfen von Rettungsringen, Leinen und anderen Hilfsmitteln Hilfe leisten. Sofern derartige Hilfeleistungen nicht zum Erfolg führen oder erkennbar nicht zum Erfolg führen können und die Berliner Feuerwehr noch nicht am Unglücksort eingetroffen ist, dürfen diese Personen auf und in den Gewässern auch erste Rettungsmaßnahmen durchführen. 3. Rettungsmaßnahmen sind kenntlich zu machen bzw. anzukündigen. Hierfür werden innerhalb eines halben Jahres am Westberliner Ufer Rettungssäulen aufgestellt werden, die mit einem elektroakustischen und einem optischen Signal ausgerüstet sowie mit einem Rettungsring mit Leine versehen werden.

4. Bis zur Inbetriebnahme der Rettungssäulen sind die Rettungsmaßnahmen durch Signale mit blauer Rundumleuchte und Einsatzhorn sowie einer Mitteilung durch Megaphon kenntlich zu machen bzw. anzukündigen.

Privatpersonen alarmieren deshalb bei Wahrnehmung eines Unglücks - sofern möglich - sofort die Berliner Feuerwehr - Notruf 112 - oder den Polizeipräsidenten in Berlin - Notruf 110 -. Bis die Rettungssäulen in Betrieb gesetzt werden können, ist es daher Privatpersonen praktisch nicht möglich, über die Hilfeleistungen vom Ufer aus hinausgehende Rettungsmaßnahmen durchzuführen.

5. Bei Eintreffen von Kräften aus Ostberlin am Unfallort sind diese - sofern bereits Rettungsmaßnahmen durchgeführt wurden - über die Lage am Unfallort in Kenntnis zu setzen. Sie werden Mitteilung machen, wenn sie im Einzelfall eine Unterstützung bei eigenen Rettungsmaßnahmen für erforderlich halten. Auf ihre Aufforderung hin haben sich zu Rettungsmaßnahmen befugte Personen vom Unglücksort zurückzuziehen. Gerettete Personen dürfen mit Zustimmung der Kräfte aus Ostberlin - wenn diese am Unglücksort nicht anwesend sind, auch ohne eine solche Zustimmung - sofort nach Berlin (West) transportiert werden.

Pressemitteilung des Presse- und Informationsamtes des Landes Berlin vom 29. Oktober 1975

Stellungnahme der sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin

Die DDR-Nachrichtenagentur ADN veröffentlichte am 31. Oktober 1975 folgenden Bericht über die Stellungnahme der sowjetischen Botschaft in Ost-Berlin zu dem Briefwechsel:

Im Zusammenhang mit der in der Westpresse veröffentlichten Erklärung des Westberliner Senats und der Behörden der drei Mächte in Westberlin anläßlich des Briefwechsels zwischen der Regierung der DDR und dem Senat von Berlin (West) über die Maßnahmen zur Rettung bei Unfällen in den Grenzgewässern der DDR zu Westberlin wurde ein Korrespondent des ADN in der Botschaft der UdSSR in der DDR über den Standpunkt der sowjetischen Seite zu dieser Erklärung informiert. Die sowjetische Seite schätzt die konstruktiven Anstrengungen der DDR hoch ein, die in Ausübung ihrer souveränen Rechte und ausgehend von humanitären Überlegungen guten Willen für die Erreichung der oben erwähnten Vereinbarung mit dem Senat von Westberlin gezeigt hat. Damit hat die Regierung der DDR erneut ihr Bestreben demonstriert, in sachlichem Geiste die Entspannung und Normalisierung ihrer Beziehungen zu Westberlin zu fördern.

Die Botschaft der UdSSR in der DDR kann diese Entscheidung der Regierung der DDR, die unzweifelhaft Billigung auch bei der Bevölkerung Westberlins finden wird, nur begrüßen. Jedoch müssen die naiven Versuche der westlichen Seite Verwunderung hervorrufen, in ihrer oben erwähnten Erklärung die Verwirklichung der Vereinbarung zwischen der Regierung der DDR und dem Senat von Westberlin von irgendeiner Zustimmung der sowjetischen Organe des bekanntlich längst nicht mehr existierenden „sowjetischen Sektors" abhängig zu machen. Diese Versuche können nichts an der unbestreitbaren Tatsache ändern, daß Berlin die Hauptstadt der DDR war und bleibt.

29. Oktober 1975 „Neues Deutschland", Berlin (Ost), vom 31. Oktober 1975

Quelle: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Zehn Jahre Deutschlandpolitik, Bonn 1980, S. 454-460
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