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Hans-Hermann Hertle, 4. November 1989, Demonstration in Ost-Berlin: Angst vor Mauerdurchbrüchen

Hans-Hermann Hertle
Sofort, unverzüglich
Die Chronik des Mauerfalls

Ch. Links Verlag, Berlin 2019

Mit der großen Demonstration am 4. November in Berlin und der Kundgebung auf dem Alexanderplatz ging die Initiative des politischen Handelns endgültig von der Volksbewegung auf der Straße aus. [1] So umfassend wie möglich hatte der SED-Machtapparat durch die ihm eigene Verschränkung von Partei und bewaffneten Organen versucht, auf diese Demonstration Einfluss zu nehmen, die auf Veranlassung des Politbüros als eine durch »die zuständigen Staatsorgane genehmigte Veranstaltung« durchgeführt wurde. [2] Dazu zählten einerseits defensive militärische und polizeiliche Maßnahmen: Staatssicherheitsminister Mielke, der Minister für Nationale Verteidigung, Keßler, und Innenminister Dickel wurden vom Politbüro für die Koordination »der erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen« verantwortlich gemacht, und der Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, Streletz, wurde beauftragt, »alle notwendigen Maßnahmen einzuleiten, um den Schutz der Arbeiter-und-Bauern-Macht der DDR zu gewährleisten« [3].

Wieder geisterte die Angst durch die SED-Spitze, die Demonstration könnte zu einem Sturm auf die Mauer führen. Auf diese Möglichkeit und die für diesen Fall geplanten Maßnahmen hatte Krenz am 1. November bereits vorsorglich Gorbatschow hingewiesen: Zwar sei er entschlossen, am 4. November keine Polizei gegen die Demonstranten einzusetzen. Wenn jedoch »ein Massendurchbruch durch die Mauer versucht werde, müßte die Polizei eingesetzt und müßten gewisse Elemente eines Ausnahmezustandes eingeführt werden«. [4]

Am Morgen des 4. November befand sich das Kommando der Landstreitkräfte in einem gedeckten Alarmzustand. Um die befürchteten Grenzdurchbrüche zu verhindern, erfolgte eine demonstrativ sichtbare Staffelung militärisch ausgerüsteter Kräfte vor allem im Umkreis des Brandenburger Tores, während die sonstigen Einsatzkräfte in deutlicher Distanz zum Demonstrationsort im Hintergrund gehalten wurden.

Daneben waren andererseits abgestufte Maßnahmen zur politischen Einflussnahme getroffen worden. Um eine republikweite Beteiligung zu verhindern, wurden die SED-Bezirksleitungen angewiesen, »Maßnahmen einzuleiten, damit die Teilnehmerzahlen von Bürgern ihrer Bezirke zur Teilnahme an der Demonstration in Berlin möglichst eingeschränkt werden«. [5] Die SED-Bezirksleitung Berlin und das MfS hatten Informanten im Vorbereitungskomitee der Veranstaltung, die sie auf dem Laufenden hielten und den organisatorischen und inhaltlichen Ablauf der Veranstaltung nach Möglichkeit beeinflussen sollten. Zu den weiteren Maßnahmen gehörten die Aufbietung sogenannter »gesellschaftlicher Kräfte« im Demonstrationszug seitens des MfS und der Berliner SED-Parteiorganisation sowie die Bereithaltung einer ideologischen Eingreifreserve von Parteimitgliedern im Palast der Republik. Schließlich war es der SED-Spitze gelungen, Politbüro-Mitglied Günter Schabowski auf die Rednerliste der Abschlusskundgebung zu setzen.

Auf einer Sondersitzung veranlasste das Politbüro am Nachmittag des 3. November letzte organisatorische Maßnahmen: Krenz und Stoph sowie die für die bewaffneten Organe zuständigen Politbüro-Mitglieder und Minister übernahmen die militärische und polizeiliche Einsatzleitung im MdI, die Führungsstelle der Berliner Parteiorganisation wurde ins Präsidium der Volkspolizei verlegt, das Rest-Politbüro sowie alle Mitarbeiter des Zentralkomitees wurden zur Anwesenheit im ZK-Gebäude verpflichtet [6] und für alle Ministerien Dienstbereitschaft angeordnet. [7] Danach versicherte Egon Krenz am Vorabend der Demonstration in einer Fernseh- und Rundfunkansprache den Erneuerungswillen der SED (»Ein Zurück gibt es nicht«), versprach unter anderem die baldige Veröffentlichung des Reisegesetz-Entwurfes, kündigte den Rücktritt der fünf Politbüro-Veteranen Hermann Axen, Kurt Hager, Erich Mielke, Erich Mückenberger und Alfred Neumann an und wies auf einige Punkte des in Vorbereitung befindlichen Aktionsprogrammes der SED hin. Krenz rief die Ausreisewilligen auf, im Land zu bleiben, und appellierte an alle »Mitbürgerinnen und Mitbürger, zusammenzustehen, um das zu erhalten, was wir in Jahrzehnten an Werten geschaffen haben. Gemeinsam wollen wir auch das Neue in Angriff nehmen. Nur so wird es möglich sein, Schritt für Schritt unsere Gesellschaft neu zu ordnen. Lassen Sie uns in diesem Sinne entschlossen und vor allem besonnen ans Werk gehen und in harter Arbeit die vielen Probleme lösen, die vor uns stehen. Wünschen wir uns dabei Erfolg, Schaffenskraft und Gesundheit.« [8]

MfS-Information, 3. 11. 1989

»Reformen oder Massaker«

»Gegnerische Kräfte aus dem politischen Bereich charakterisieren die aktuelle Lage in der DDR als ›revolutionär‹ bzw. ›bürgerkriegsähnlich‹. In diesem Sinne äußerten sich beispielsweise der Vorsitzende der Fraktion Die Grünen im hessischen Landtag, Fischer, und der Parlamentarische Staatssekretär im BMB, Hennig. Nach Einschätzung von Fischer gäbe es für die DDR gegenwärtig nur zwei Alternativen, ›völlige Reformen oder Massaker, einen ungarischen oder einen chinesischen Weg‹.« MfS-HA III, Lageübersicht für den Berichtszeitraum 2./3. 11. 1989, Berlin, 3. 11. 1989, BStU, ZA, MfS-HA III 858, Bl. 22 (Auszug)


Von den Fenstern des ZK-Gebäudes mussten Politbüro-Mitglieder und ZK-Mitarbeiter am nächsten Morgen den wenige Hundert Meter entfernten Vorbeimarsch der Demonstranten wie aus einem Versteck beobachten, statt wie gewohnt den defilierenden Massen von der Ehrentribüne aus zuwinken zu können. Demonstration und Kundgebung wurden live im DDR-Fernsehen übertragen. Einige Politbüro-Mitglieder ergriff nackte Furcht: Rings um den Alexanderplatz versammelten sich bis 10 Uhr mehrere Hunderttausend Menschen, die Presse- und Meinungsfreiheit, Parteienvielfalt, freie Wahlen und die Abschaffung aller Privilegien der SED-Nomenklatura forderten sowie Reisefreiheit (»Pässe für alle«, »Visafrei bis Hawaii«). [9] Die von Krenz am Vorabend angekündigten Reformvorschläge des SED-Aktionsprogramms blieben damit bereits im Denkansatz weit hinter den Forderungen der Demonstranten zurück. Einer von neun Sprechchören, der an diesem Tag nur von den Mitarbeitern der Staatssicherheit registriert wurde, lautete: »Deutschland – einig Vaterland«.

Als Schalck am 6. November erneut mit Seiters und Schäuble zusammentraf, hatte sich seine Verhandlungsposition weiter verschlechtert. Schon bei der Vereinbarung des Termins hatte ihm Seiters signalisiert, dass sich die Bundesregierung erst ab 14. November, nämlich nach der Polenreise des Kanzlers, zu verbindlichen Angeboten bezüglich des Reisekomplexes imstande sehe. Die Führung unter Krenz stand jedoch unter Zeitdruck. Schalck blieb nur noch die Flucht nach vorne: Die Zurückhaltung seiner Verhandlungspartner ignorierend, trug er vor, was sich die DDR konkret unter wirtschaftlicher Zusammenarbeit vorstellte: »Die DDR wäre bereit, in den nächsten zwei Jahren objektgebunden langfristige Kredite, die aus den neu zu schaffenden Kapazitäten zu refinanzieren sind, bis zur Höhe von zehn Milliarden VE (Verrechnungseinheiten – d. Vf.) aufzunehmen.« [10] Daneben – also zusätzlich – werde es als erforderlich angesehen, »die Bereitstellung zusätzlicher Kreditlinien in freien Devisen, die – beginnend im Jahre 1991 – jährlich zwei bis drei Milliarden DM betragen könnten, zu erörtern.« Seiters und Schäuble waren die Augen für den desolaten Zustand der DDR-Wirtschaft geöffnet. Mit einmaligen Milliarden-Krediten wie in den Jahren 1983 und 1984 war der DDR nicht mehr zu helfen. Der Vorschlag Schalcks lief auf nicht weniger als eine dauerhafte Beteiligung der Bundesregierung an der Regulierung des Schuldendienstes der DDR hinaus – und mit seinem Vorschlag hatte er dezent die Frage nach dem politischen Preis der Bundesregierung in den Raum gestellt. Seiters und Schäuble waren überfordert; sie taktierten hinhaltend: Zu dieser Frage »seien noch weitere Überlegungen durch die Bundesregierung erforderlich. Derzeit sei man noch nicht in der Lage, konkrete Vorschläge für verbindlich zu treffende Absprachen zu unterbreiten«, lautete die für Schalck wenig befriedigende Antwort. Doch zumindest in der Frage der Reisefinanzierung, die der KoKo-Chef wiederum als aktuell dringlichsten Schwerpunkt ansprach, schien sich die Bundesregierung zu bewegen. Zu Schalcks Vorstellung, den Reisenden einmal jährlich 300 DM zum Kurs von 1 : 4,4 umzutauschen, unterbreitete Seiters erste Konturen einer Lösung, die er allerdings, wie er hervorhob, »freibleibend« äußerte. Unter der Voraussetzung, dass der Zwangsumtausch aufgehoben werde und das Begrüßungsgeld entfalle, »könnte ein valutaseitiger Reisezahlungsfonds mit Mitteln der BRD eingerichtet werden (bei 12,5 Millionen Reisenden wäre das eine Größenordnung von rd. 3,8 Mrd. DM)«. Über die Verwendung des aus dem Umtausch entstehenden Ostmark-Fonds beanspruche die Bundesrepublik ein Mitbestimmungsrecht. Um diese Regelung innenpolitisch durchsetzen zu können, müsse die DDR jedoch einigen politischen Erfordernissen Rechnung tragen. Diese teilte Seiters seinem Ost-Berliner Gesprächspartner am folgenden Tag nach Rücksprache mit dem Bundeskanzler als generelle, an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR gestellte Bedingungen telefonisch mit. Wenn die DDR materielle und finanzielle Unterstützungsleistungen der Bundesrepublik in Anspruch nehmen wolle, sollte sie willens sein, »öffentlich durch den Staatsratsvorsitzenden zu erklären, daß die DDR bereit ist, die Zulassung von oppositionellen Gruppen und die Zusage zu freien Wahlen in zu erklärenden Zeiträumen zu gewährleisten. Dabei ist zu beachten, daß dieser Weg nur möglich ist, wenn die SED auf ihren absoluten Führungsanspruch verzichtet.« Erfülle die DDR diese Bedingungen, halte der Bundeskanzler »vieles für machbar und alles für denkbar«. [11] Am Morgen des 8. November machte der Bundeskanzler in der Debatte des Bundestages zur Lage der Nation seinen Forderungskatalog öffentlich: Wenn die SED auf ihr Machtmonopol verzichte, unabhängige Parteien zulasse und freie Wahlen verbindlich zusichere, sei er bereit, »über eine völlig neue Dimension unserer wirtschaftlichen Hilfe zu sprechen«. [12]

Die drei Forderungen des Bundeskanzlers signalisierten Schalck und Krenz erneut, dass die langjährige Arbeitsgrundlage der deutsch-deutschen Beziehungen mit der Entwicklung des Bürgerprotests zu einer Volksbewegung gegen die Diktatur und mit den immer sichtbareren Zerfallserscheinungen der SED brüchig geworden war. »Diplomatisch gesehen war das eine Ungeheuerlichkeit«, erinnerte sich Schalck, aber: »Historisch gesehen war es konsequent. Für die Bundesregierung gab es keine inneren Angelegenheiten der DDR mehr« – sie waren zu innerdeutschen geworden. [13] Noch bestand im Kanzleramt Verhandlungsbereitschaft [14] – aber die Zeit drängte.

Quelle: Hans-Hermann Hertle: Sofort, unverzüglich. Die Chronik des Mauerfalls, Ch. Links Verlag, Berlin 2019
[1] Zur Vorgeschichte und Planung von Demonstration und Kundgebung siehe Braun /Schäbitz 2016, S. 73 – 93. [2] Vgl. Protokoll Nr. 47 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 31. 10. 1989 (SAPMO-BArch, ZPA-SED, J IV 2/2/2356). – Aus dem Versuch der Einflussnahme die These zu konstruieren, das MfS und die Berliner Bezirksleitung der SED hätten die Regie dieser Veranstaltung geführt (vgl. Der Spiegel Nr. 45, 6. 11. 1995, S. 3 und 72 – 79), ist abwegig. Walter Süß hat diese Behauptung detailliert widerlegt (vgl. Süß 1995, S. 1240 – 1252). [3] Protokoll Nr. 47 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 31. 10. 1989 (SAPMO-BArch, ZPA-SED, J IV 2/2/2356). [4] Siehe Fußnote 52, S. 31. [5] Siehe Fußnote 65, S. 5. [6] Protokoll Nr. 48 der Sitzung des Politbüros des ZK der SED vom 3. 11. 1989 (SAPMO-BArch, ZPA-SED, J IV 2/2/2357). [7] Fernschreiben von Günther Kleiber, stellv. Vorsitzender des DDR-Ministerrates, an alle Minister und Leiter zentraler Staatsorgane in Berlin, Oberbürgermeister von Berlin, 3. 11. 1989, 16.30 Uhr (BStU, ZA, MfS-SdM 51, Bl. 2). [8] Neues Deutschland, 4. 11. 1989. [9] Zur Kritik an der Übertreibung der Anzahl der Demonstrationsteilnehmer (500 000, wenn nicht eine Million) siehe Kowalczuk 2009, S. 451/452. Er hält eine Anzahl von mehr als 200 000 Teilnehmern für sehr unwahrscheinlich. [10] Alexander Schalck, Vermerk über ein informelles Gespräch des Genossen Alexander Schalck mit dem Bundesminister und Chef des Bundeskanzleramtes der BRD, Rudolf Seiters, sowie mit dem Mitglied des Vorstandes der CDU, Wolfgang Schäuble, am 6. 11. 1989, S. 2. Aus dieser Quelle stammen auch die nachfolgenden vier Zitate. [11] Schreiben von Alexander Schalck an Egon Krenz, 7. 11. 1989, S. 1 f. [12] Deutscher Bundestag, 11. Wahlperiode, 173. Sitzung, 8. 11. 1989, Stenographischer Bericht, S. 13 017. Um sicherzugehen, dass die SED-Führung Kohls Bundestagsrede am 8. 11. 1989 nicht verpasste, ließ Seiters Schalck am Abenddes 7. 11. gesondert auf den Kanzlerauftritt hinweisen. Vgl. Aktenvermerk von Alexander Schalck, 7. 11. 1989, 18.15 Uhr. [13] Schalck-Golodkowski 2000, S. 327. [14] Gespräch d. Vf. mit Claus-Jürgen Duisberg, 4. 5. 1994; siehe auch Duisberg 2005, S. 74.
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