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Horst Kutscher: geboren am 5. Juli 1931, erschossen am 15. Januar 1963 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer (Aufnahmedatum unbekannt)
Horst Kutscher, erschossen an der Berliner Mauer: Sterbeurkunde vom 28. Januar 1963

Horst Kutscher

geboren am 5. Juli 1931
erschossen am 15. Januar 1963


nahe der Rudower Straße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Treptow und Berlin-Neukölln

Kutscher, Horst

Die Vergatterung des 2. Zuges der 4. Grenzkompanie ist am 14. Januar 1963 besonders eindringlich. Die Grenzposten werden darauf hingewiesen, dass am darauf folgenden Tag der VI. SED-Parteitag unter der Führung von Walter Ulbricht beginnt und es „als Selbstverpflichtung zu gelten" habe, keinen Grenzdurchbruch zuzulassen. [35] Zudem wird die Anzahl der eingesetzten Postenpaare erhöht. Horst Kutscher und Joachim F. ahnen nichts von diesen ihr Fluchtvorhaben erschwerenden Bedingungen. Spontan haben sie sich entschieden, in der Nacht zum 15. Januar 1963 die Flucht nach West-Berlin zu wagen. Für Horst Kutscher endet sie mit dem Tod.

Horst Kutscher, geboren am 5. Juli 1931 in Berlin-Treptow, wächst als Jüngstes von dreizehn Kindern eines Maschinenbauers und späteren Blumenhändlers im Stadtteil Berlin-Adlershof auf. Eigenen Angaben zufolge verlässt er im Alter von 14 Jahren die Volksschule. [36] Er beginnt eine Lehre als Autoschlosser, die er aus betrieblichen Gründen nach sechs Monaten abbrechen muss. Zunächst arbeitet Horst Kutscher als Putzer auf dem Bau und ab September 1954 bei verschiedenen Kohlenhändlern im Bezirk. In den 1950er Jahren ist er im FDGB gewerkschaftlich organisiert, aber nicht politisch engagiert. Im März 1952, mit 21 Jahren, heiratet Horst Kutscher. Aus der Ehe gehen sechs Kinder hervor.

Schon als Jugendlicher gerät Horst Kutscher mit den DDR-Gesetzen in Konflikt. Er erhält mehrere Vorstrafen wegen Diebstahl, Einbruch und Körperverletzung. Mehrmals wird er im Laufe der Jahre zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen verurteilt. [37] Im Februar 1956 wirbt die Volkspolizei-Inspektion in Treptow Horst Kutscher als Geheimen Informanten an. [38] Er verpflichtet sich – möglicherweise unter Druck – mit der Kriminalpolizei zusammenzuarbeiten und Auskunft über strafbare Handlungen in seinem Umfeld zu geben. [39] Da Horst Kutscher nicht zu vereinbarten Treffen erscheint und in der Öffentlichkeit seine Informantentätigkeit offenbart, wird er schon nach zwei Monaten wieder davon entbunden. [40]

Im April 1956 flieht er zunächst ohne seine Frau und seine Kinder nach Westdeutschland. Als Grund für die Flucht gibt seine Ehefrau bei der Volkspolizei eheliche Streitigkeiten an. [41] Vermutlich folgt ihm seine Frau kurze Zeit später; in Bochum gebiert sie das vierte Kind. Ein Jahr später kehrt Horst Kutscher zusammen mit seiner Familie aus unbekannten Gründen von Bochum nach Berlin-Treptow zurück. In Ost-Berlin ist die Familie zunächst bei seinen Eltern gemeldet. Aus einem Ermittlungsbericht der Arbeitsgruppe Staatsgrenze geht hervor, dass er nach seiner Rückkehr als sogenannter Grenzgänger bis zur Grenzschließung am 13. August 1961 in West-Berlin arbeitet. [42]

Horst Kutschers anhaltende Alkoholprobleme führen dazu, dass seine Ehe im November 1962 geschieden wird. Zu diesem Zeitpunkt wohnt er bereits seit zweieinhalb Jahren von der Familie getrennt bei seinem Vater in Berlin-Adlershof. [43] Auch an seinem neuen Ost-Berliner Arbeitsplatz – einer Kohlenhandlung – eskaliert die Situation. Als Horst Kutscher und sein Arbeitskollege Joachim F. am 14. Dezember 1962 schon während der Arbeitszeit Alkohol trinken, werden beide fristlos entlassen. Offensichtlich sind sie sich keiner Schuld bewusst und klagen gegen die Entlassung. Doch die Klage wird am 14. Januar 1963 vom Stadtbezirksarbeitsgericht Treptow abgewiesen. [44]

Beide versuchen an diesem Tag seit den Mittagsstunden, ihre Enttäuschung über den negativen Ausgang des Arbeitsprozesses im Alkohol zu ertränken. Sie besuchen mehrere Gaststätten und beschließen in stark angetrunkenen Zustand, noch am gleichen Abend nach West-Berlin zu fliehen. Joachim F., der das missglückte Fluchtvorhaben überlebt, sagt später bei einer ersten Vernehmung durch die Volkspolizei aus, dass der verlorene Prozess der ausschlaggebende Grund dafür gewesen sei. [45]

An jenem 14. Januar 1963, gegen 22.00 Uhr, gehen Horst Kutscher und Joachim F. zunächst zu dem an der Semmelweißstraße gelegenen Grenzgebiet, wo sie über den zugefrorenen Teltow-Kanal nach West-Berlin gelangen wollen. Dort angekommen stellen sie fest, dass das Grenzgebiet rund um den Kanal hell beleuchtet ist. Sie entscheiden, die Flucht an einer anderen Stelle in Berlin-Treptow zu wagen. Nun versuchen sie, die Grenze bei einer Laubenkolonie zwischen Wredebrücke und Ententeich an der Rudower Straße zu überwinden. Über eine freie Wiese kommen sie zu einem Stacheldrahtzaun, den sie unterkriechen. Sie beobachten dabei die Grenzposten und warten, bis sich diese von ihnen entfernen, bevor sie weiter durch den Sicherungsgraben Richtung Grenze robben. Gegen 00.10 Uhr sind sie nur noch ca. 25 Meter von der Grenze zu West-Berlin entfernt. Plötzlich fallen zwei Schüsse. Horst Kutscher und Joachim F. werfen sich Schutz suchend auf die Erde. [46] Während Joachim F. festgenommen wird, ziehen die Grenzposten den von einer Kugel getroffenen Horst Kutscher in den Laufgraben und transportieren ihn mit einem LKW zum Stützpunkt, wo ein Sanitäter seinen Tod feststellt. [47]

Obwohl die Staatssicherheit versucht, das Bekanntwerden des tödlich ausgegangenen Fluchtversuches zu verhindern, gelangen erste Informationen über den Tod von Horst Kutscher nach West-Berlin. In der Untersuchungshaftanstalt in der Kissingenstraße in Berlin-Pankow erzählt der wegen Republikflucht verurteilte Joachim F. einem Mithäftling von dem verhinderten Fluchtversuch. Dieser Häftling gelangt wenig später nach West-Berlin und berichtet im Oktober 1963 der Polizei von dem Vorfall. [48] Im November des gleichen Jahres zieht der Vater von Horst Kutscher im Wege der Familienzusammenführung nach West-Berlin, wo er im März 1965 eine Vorladung der West-Berliner Polizei erhält. Er berichtet, dass er seinen toten Sohn weder ein letztes Mal sehen noch bei der Bestattung dabei sein durfte. [49]

Die geschiedene Ehefrau von Horst Kutscher wird erst nach dem Ende der DDR im Zuge des Ermittlungsverfahrens gegen den Todesschützen, der schließlich am 27. August 1997 zu einem Jahr und drei Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt wird, als Zeugin befragt. [50]

Sie erinnert sich, dass sie etwa 14 Tage nach der Beisetzung an dessen Grabstelle auf dem Friedhof Baumschulenweg war. Nur mit Hilfe des zuständigen Friedhofswärters habe sie das namenlose Grab finden können, in dem Horst Kutscher mit zwei anderen Toten beigesetzt worden war. [51]

Text: Lydia Dollmann

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