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Bahnhof Friedrichstraße: Ein Museum der Erinnerungen

von Stefan Wolle
Menschenschlangen vor dem Tränenpalast (Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße)
Städte sind wie Bücher. Genauer gesagt, sie sind eine besondere Art von Büchern – verschlüsselte, labyrinthisch sich verzweigende, ins endlose auslaufende, sich ständig wandelnde Texte. Spätestens seit 1831 Victor Hugos Roman „Notre-Dame de Paris" erschien, ist die Interpretation der Stadt als lebendiges Buch historischer Erinnerungen Gemeingut der Literatur. Der Titel des Romans ist wohlgemerkt nicht „Der Glöckner von Notre Dame" und der Held des Buches ist weder der bucklige Quasimodo, noch das verführerischer Zigeunermädchen Esmeralda, sondern die Kathedrale Notre-Dame als Mittelpunkt des spätmittelalterlichen Paris. Victor Hugo nennt das gotische Bauwerk ausdrücklich ein „Buch aus Stein" und stellt ihm das moderne „Buch aus Papier" gegenüber.

Am Anfang des Romans steht ein wahrscheinlich fiktives, möglicherweise aber auch wahres Erlebnis des Autors. „Als der Verfasser dieses Buches vor einigen Jahren Notre-Dame besuchte, oder besser gesagt, darin herumspürte", schreibt Victor Hugo, „fand er in einem dunklen Winkel des einen Turmes das in die Mauern eingegrabene Wort: ANAGKE – schicksalhaftes Verhängnis. Die großen griechischen Buchstaben, die ziemlich tief aus dem Stein herausgeholt und vom Alter geschwärzt waren, irgend etwas in ihrer Form und Stellung, das, wer weiß warum, an gotische Schreibart gemahnte, gleich, als wollten die Schriftzeichen künden, daß eine Hand des Mittelalters sie dorthin geschrieben, vor allem aber ihr düsterer, geheimnisvoller Sinn machten tiefen Eindruck auf mich. ... Seitdem hat man die Mauern abgekratzt oder angestrichen – ich weiß nicht mehr, was von beidem -, und die Inschrift ist verschwunden."

Wenn Städte verschlüsselte Texte sind, die ihrer Entzifferung harren, so ist Berlin das Palimpsest unter den europäischen Metropolen. Palin psestos heißt auf griechisch wieder abgekratzt. Es ist also eine Handschrift, auf der die ursprüngliche Schrift beseitigt und durch eine jüngere ersetzt wurde. In Berlin wurde im 19. und 20. Jahrhundert der urbane Subtext mit seltener Radikalität immer wieder fortgewischt und neu geschrieben. Trotzdem ist für jeden, der zu lesen versteht, die Stadt voller Zeichen. Überall ist das übermalte „Anagke" zu sehen. An den Wänden der Hinterhöfe kann man heute noch die sorgfältig mit weißer Farbe aufgemalte Inschrift LSR – die Abkürzung für Luftschutzraum – lesen. Oft verbunden mit nach unten zeigenden weißen Pfeilen, die vorsorglich den Bergungstrupps den Weg zu den Verschütteten wiesen. „Hitler verrrecke!" stand längere Zeit auf den roten Klinkern des Umspannwerks in der Kopenhagener Straße. Auf den Dächern des St.-Hedwig-Krankenhauses in der Großen Hamburger sieht man immer noch große rote Kreuze auf weißem Grund, die dort in der vergeblichen Hoffnung aufgemalt worden waren, die anglo-amerikanischen Piloten würden ihre Bombenfracht nicht über einem Lazarett abwerfen. Neben den Haupteingang der Berliner Universitätsbibliothek in der Clara-Zetkin-Straße hat ein Unbekannter nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 in großen grünen Buchstaben den Namen des Reformkommunisten Dubcek geschrieben. Jahre später kam die übermalte Inschrift allmählich wieder zum Vorschein und konnte von der gegenüberliegenden Straßenseite deutlich entziffert werden.

Wie sehr diese Stadt ein immer neu überschriebener Text ist, wird nirgendwo deutlicher als im Bahnhof Friedrichstraße. Einst war hier ein zentraler Verkehrsknoten der pulsierenden Reichshauptstadt, dann ein Grenzbahnhof mitten in der Stadt, Kreuzungspunkt der unterirdischen Geisterlinien mit Stadt- und Fernbahn, Übergang zwischen den Welten. Eine Flut von Zeichen aus der Konsumwelt hat den renovierten Bahnhof nach der Wende überschwemmt. Shoes for life heißt der Schuhladen. Das Bahnhofsklo WC-Center Mc Clean. Es ist tatsächlich noch die alte Stelle. Früher herrschte hier schmutziges Halbdunkel. Heute ist alles clean und hochtechnisiert. Wo einst das legendäre Mitropa-Restaurant war, gibt es jetzt einen Meeting point. So geht es weiter: Le CroBag, Blum’s Seafood Sylt, gegenüber Segrafedo Zanetti Espresso, The body shop, die Pizzastube ChiQuito ChiQuito, daneben ATM. Giora di vivere. Dort gibt es Kinkerlitzchen, Ketten und billige Uhren. Ich fasse mir ein Herz gehe mit meinem Notizbuch hinein und frage, was Giora di vivere heißt. Die Verkäuferin denkt offenbar, ich bin vom Gewerbeamt oder der Steuerfahndung und will die Geschäftsführung anrufen. Ich stammele etwas von einer kleinen Reportage über den Bahnhof und gehe lieber, um weiter Aufschriften zu notieren. Asia-Snack, Design Art, bei Mister Mint kann man Schlüssel anfertigen und Schuhe besohlen lassen. Gegenüber liest man Ihre frisch Backstube. Zwischen frisch und Backstube ein Leerraum. Wenn schon deutsch, dann wenigstens falsch. E-aktiv-markt in durchgehender Kleinschreibung nimmt offenbar schon die nächste Rechtschreibreform voraus. Aus dem Rahmen fällt allein Blumen Röwer. Schlicht und einfach Blumen, warum nicht flower-shop oder plants-point? Wie dem auch sei. Die Buntheit der Marktwirtschaft ist von seltsamer Monotonie. Es sind die gleichen Handelsketten, Produkte, Zeichen, Farben, Designs wie auf jedem beliebigen Hauptbahnhof Deutschlands. Ihre nivellierende Wirkung ist von schmerzhafter Radikalität.
Ausreise aus der DDR - Schlange stehen vor der Passkontrolle (Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße)
Es bereitet Anstrengung, sich den alten Bahnhof vorstellen zu wollen. Bis in jene denkwürdige Nacht vom 9. zum 10. November 1989 war der Bahnhof Friedrichstraße das vielleicht seltsamste Bauwerk der Welt. Die Eingangshalle und der südliche Bahnsteig waren dem DDR-Normalbürger zugänglich. Dazu kamen das erwähnte Mitropa-Restaurant, dessen westtrinkgeldverwöhntes Gaststättenkollektiv noch arroganter war als der DDR-Durchschnitt dieser Zunft. Die Atmosphäre war so schmierig wie die lange nicht gewechselten einst weißen Tischdecken. Hier lungerten Stasi-Spitzel, Devisenhändler und Zuhälter in seltener Eintracht herum. Der intellektuell interessierte Teil der Westkundschaft drängelte sich in der winzigen, zu jeder Jahreszeit stickigen Buchhandlung unter der Eisenbahnbrücke, um die letzten Alu-Chips aus dem Zwangsumtausch in bleibende Werte umzusetzen. Wenn es nichts gab im Osten, so doch preiswerte Bücher. Zwischen den Schaufenstern des Buchladens hing seit 1952 eine metallene Gedenktafel, die an die letzten Kriegstage erinnerte. Hier wurden im April 1945 zwei junge deutsche Soldaten von der SS an den Stahlträgern der Überführung aufgehängt. Einer von ihnen trug ein Schild mit der Aufschrift um den Hals: „Ich habe mein Sturmgeschütz nicht so gepflegt, wie es der Führer befohlen hat." Nach der Wende verschwand die Erinnerungstafel. Seit 1999 hängt sie wieder an der alten Stelle. In dem Buchladen befindet sich heute eine Boutique für teure Edelklamotten.

Der Westreisende begab sich vor 1989 durch eine gesonderte Eingangshalle, den sogenannten Tränenpalast, zu den beiden nördlichen Bahnsteigen und zur unterirdischen Nord-Süd-Linie. Doch auch für die DDR-Rentner war dies der Übergang in den Westen. Wie zu einem Jungbrunnen strömte tagtäglich ein unendlicher Strom von rüstigen Senioren dorthin. Beeindruckend soll das Schauspiel gewesen sein, wie die wartenden Ostrentner auf dem Fernbahnsteig an einer weißen Linie stehen bleiben mußten, wie Wettläufer am Start und erst auf die Lautsprecherdurchsage hin ihre schweren Koffer schnappen durften, aufgeregt zu den Waggons laufen und dort hinein klettern konnten. Überflüssig zu sagen, daß es auf dem Bahnsteig keinen Gepäckträger gab und weder die Reichsbahnbeamten noch die Grenzer den kleinen Finger rührten, wenn schwerbeladene Omas und Opas ihre Koffer in den Zug wuchteten.
Der Fernbahnsteig: Weiße Kontrollinie nicht vor Aufforderung überschreiten! - Kontrollgang über der Bahnhofsausfahrt mit Grenzposten (Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße)
Ein Foto überliefert das Schild: „Achtung! Weiße Kontrollinie erst nach Lautsprecherdurchsage überschreiten." Nicht weniger aufregend war die Rückkunft im Bahnhof Friedrichstraße. Gegenüber dem Eingang zu den unterirdischen Toiletten konnte man tagtäglich eine ergreifende Szenerie beobachten. Von einem halb hohen Metallgatter umzäunt gab es dort eine winzige Eisentür. Daneben stand ein Angehöriger der Grenzorgane mit unbeweglichem Gesicht. Durch die schwere Pendeltür quälten sich schwerbeladene alte Leute. Hinter dem Gatter standen die Ostverwandten, die noch nicht zugreifen konnten, sondern sich auf aufmunternden Zuspruch beschränken mußten. Ein Schritt in die falsche Richtung und die Staatsmacht wäre unerbittlich eingeschritten. Diese Haltung signalisierte: Wir können euch zwar nicht hindern, die Staatsgrenze der DDR zu durchschreiten, aber wir werden euch die Sache so schwer wie möglich machen.

Intershop und S-Bahn-Zug in Richtung Wannsee (Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße)
Ähnlich zwiespältig war die Haltung zu der Intershop-Kultur, die am Bahnhof Friedrichstraße blühte. Einen Intershop gab es auf dem S-Bahnsteig der Nord-Süd-Linie. Dort konnten Westberliner ohne jede Kontrolle zollfrei Schnaps und Zigaretten kaufen. Das ärgerte die West-Behörden zwar, sie beschränken sich dennoch auf Stichproben. Von größerer Bedeutung war der vom Osten aus frei zugängliche Intershop. Wo ursprünglich das einzige Zeitkino von Ostberlin war, wurde etwas versteckt aber dennoch frei zugänglich der erste größere Intershop der DDR eingerichtet. Theoretisch wurde dem Kunden beim Einkauf ein Ausweis abverlangt, da der Besitz von Devisen für DDR-Bürger strafbar war. Praktisch wurde von dieser Bestimmung immer weniger Gebrauch gemacht. Hauptsache, die Kasse klingelte und brachte Westgeld in das notorisch devisenhungrige Staatssäckel der DDR.

Unterhalb der beiden sichtbaren Welten der Ost- und der Westwelt, gab es eine labyrinthische Unterwelt mit einem ausgeklügelten System von verzweigten Gängen, von einseitig durchsichtigen Spiegeln, Überwachungskameras, geheimnisvollen Kämmerchen für Vernehmungen und konspirative Treffs. Hinzu kam ein kompliziertes System von Sperrungen, Sicherungen, Sicht- und sogar Hörblenden. Ursprünglich trennte die Bahnsteige eine etwa drei Meter hohe Drahtglaswand, das heißt eine mit Stahldraht durchzogene, undurchsichtige Glasscheibe. Man konnte trotzdem die Lautsprecheransagen von den Westbahnsteigen noch hören. Die Richtungsdurchsagen nach München oder Hamburg untergruben in unzulässiger Weise die sozialistische Moral. Obwohl das Material in der Volkswirtschaft immer knapp war, wurde deshalb noch 1982 eine hallenhohe schallsichere Stahlwand eingezogen.

An den geteilten Bahnhof in der geteilten Welt erinnert heute wenig. Allein die Laufgatter an der westlichen Stirnseite sind geblieben. Dort oben patroullierten damals Posten mit umgehängter Maschinenpistole. Selber wie eingesperrte Tiere gingen sie ruhelos auf- und ab, um den Menschenzoo zu ihren Füßen im Auge zu behalten. Mitten in der Alltagsnormalität ein Zeichen der Gewalt, eine durchaus ernst zu nehmende brutale Drohung. Irgendwann in den siebziger Jahren, als ausreisewillige DDR-Bürger allmählich mutiger wurden, spielte sich an der Bahnhofstreppe eine merkwürdige und bedrückende Szene ab. Zwei junge Mädchen, kaum älter als zwanzig Jahre, entrollten zwischen der Buchhandlung und der Bahnhofstreppe eine Aufschrift mit dem Verweis auf die Paragraphen des Menschenrechtspaktes, der die freie Ausreise betraf. Die Umstehenden reagierten halb verlegen, halb neugierig. Doch das schnelle Eingreifen der Sicherheitskräfte enthob sie jeder Notwendigkeit einer Stellungnahme. Mit haßverzerrtem Gesicht riß ein Offizier der Grenzpolizei das Schild herunter. Herbeieilende Sicherheitskräfte packten die Mädchen mit Polizeigriff und schleppten sie davon. Irgendwo schlugen die grauen Metalltüren zu. Nach wenigen Minuten war die groteske Abnormität des geteilten Bahnhofs wieder hergestellt. Geblieben ist die Erinnerung an das verlegene Grinsen der Zufallspassanten aus Ost und West, den Haß der Grenzpolizisten, die Angst in den Gesichtern der Festgenommenen und an die gespenstische Schnelligkeit, mit der alles vorbei war.

Mauern werden eingerissen, Wände übermalt, das „Anagke" wird täglich fortgewischt. Man hat die Bahnhofsbauten die Kathedralen des industriellen Zeitalters genannt. Wenigstens über den Berliner Bahnhof Friedrichstraße ließe sich ein Roman schreiben, der nicht weniger farbig und spannend wäre als „Notre Dame de Paris".

Quelle: Hans-Hermann Hertle/Konrad H. Jarausch/Christoph Kleßmann (Hg.), Mauerbau und Mauerfall. Ursachen-Verlauf-Auswirkungen, Berlin 2002. –Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlags und Autors.
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