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Klaus-Jürgen Kluge: geboren am 25. Juli 1948, erschossen am 13. September 1969 bei einem Fluchtversuch an der Berliner Mauer, Aufnahmedatum unbekannt
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Klaus-Jürgen Kluge

geboren am 25. Juli 1948
erschossen am 13. September 1969


nahe der Helmut-Just-Brücke
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Prenzlauer Berg und Berlin-Wedding
Der Postenführer, der sich noch auf dem Turm befindet, entdeckt Klaus-Jürgen Kluge an der Mauer. Da der untere Posten auf seine Anweisung, den Flüchtenden festzunehmen, nicht reagiert, stürmt er selbst vom Turm. Er rennt zur Mauer und gibt im Laufen aus ca. 60 Meter Entfernung ohne vorherigen Warnruf oder Warnschuss zwei gezielte Feuerstöße aus der Hüfte auf den Flüchtenden ab, der schon mit dem Oberkörper auf der Mauerkrone liegt.Klaus-Jürgen Kluge, geboren am 25. Juli 1948 in Schönow bei Bernau, besucht bis zum Abschluss der 10. Klasse die Oberschule seiner Heimatstadt und schließt im Frühjahr 1969 eine Ausbildung zum Modelltischler erfolgreich ab. [1] Je älter er wird, desto kritischer sieht er die DDR. Ein Stasi-Spitzel berichtet, dass sich Klaus-Jürgen Kluge mehrfach „negativ über Versorgungsschwierigkeiten" in der DDR geäußert habe und „alles mit der ‚guten Entwicklung’ in Westdeutschland" vergleiche [2]. Die Stasi zählt ihn wohl auch deshalb zu jenen jungen Leuten, die nicht in das Bild vom „Neuen Menschen" im Realsozialismus passen: „Klaus Jürgen ist parteilos. Organisiert ist er nicht. Seine Einstellung zu unserem Staat ist negativ. (…) Durch sein äußeres Aussehen, lange Haare, Hosen mit großem Glockenschlag und Schlitz wirkt er dekadent." [3] Im Jahr 1969, als einem Bekannten oder Freund die Flucht in den Westen gelungen ist [4], soll Klaus-Jürgen Kluge im November den ihm verhassten Wehrdienst bei der NVA antreten. Spätestens von diesem Zeitpunkt an scheint es für ihn nur noch einen Ausweg zu geben: Die Flucht nach West-Berlin.

Am 13. September 1969 verlässt Klaus-Jürgen Kluge in den Nachmittagsstunden sein Elternhaus; angeblich will er eine Tanzveranstaltung besuchen. [5] Tatsächlich aber fährt er nach Ost-Berlin, wo er sich gegen 20.40 Uhr im ehemaligen S-Bahn-Gleisdreieck südlich des Grenzübergangs Bornholmer Straße ins Grenzgebiet begibt. [6] Im Bereich der Helmut-Just-Brücke kann er unbemerkt die ersten Grenzanlagen überwinden, doch als er den Signalzaun überklettert, löst er Alarm aus. [7] Ein Grenzsoldat verlässt darauf hin bewusst langsam seinen Wachturm; er schreckt davor zurück, auf einen Menschen schießen zu müssen und hofft insgeheim, dass ein Tier den Alarm ausgelöst hat, wie es hier schon häufiger vorgekommen ist. Unten angekommen schießt der Grenzsoldat eine Leuchtkugel ab, die ihn blendet. Der Postenführer, der sich noch auf dem Turm befindet, entdeckt Klaus-Jürgen Kluge an der Mauer. Da der untere Posten auf seine Anweisung, den Flüchtenden festzunehmen, nicht reagiert, stürmt er selbst vom Turm. Er rennt zur Mauer und gibt im Laufen aus ca. 60 Meter Entfernung ohne vorherigen Warnruf oder Warnschuss zwei gezielte Feuerstöße aus der Hüfte auf den Flüchtenden ab, der schon mit dem Oberkörper auf der Mauerkrone liegt. [8] Von zwei Kugeln in Brust und Fuß getroffen, stürzt Klaus-Jürgen Kluge ab. Innerhalb weniger Minuten erliegt er seinen schweren Verletzungen.

Kurz darauf wird sein Leichnam zum Beobachtungsturm und von dort zum Volkspolizei-Krankenhaus nach Berlin-Mitte gebracht. Zur Genugtuung der Staatssicherheit erscheinen erst nach dem Abtransport der Leiche auf West-Berliner Seite Polizisten und französische Militärpolizei, die den Tatort ableuchten und fotografieren. Die beteiligten Grenzposten werden am darauf folgenden Tag durch ihren Regimentskommandeur ausgezeichnet und prämiert. [9] Im wiedervereinigten Deutschland wird der Todesschütze 1997 vom Landgericht Berlin zu einer Jugendstrafe von einem Jahr und vier Monaten zur Bewährung verurteilt; der ihm damals unterstellte Posten wird freigesprochen. [10] Die Vorgesetzten des Todesschützen stehen zwei Jahre später wegen Beihilfe zum Totschlag vor Gericht: Der ehemalige Regimentskommandeur wird zu einem Jahr und drei Monaten und der ehemalige Stabschef zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt. [11]

Erst nachdem der Leichnam von Klaus-Jürgen Kluge eingeäschert worden ist, werden seine Eltern von der Staatssicherheit über den Tod ihres Sohnes unterrichtet. Die Stasi verpflichtet sie darauf, gegenüber Verwandten und Bekannten anzugeben, dass ihr Sohn in Berlin tödlich verunglückt sei. [12]

Unter Kontrolle der Staatssicherheit wird die Urne mit der Asche von Klaus-Jürgen Kluge am 8. Oktober 1969 auf dem Friedhof in Schönow beigesetzt. [13]

Text: Udo Baron

[1] Vgl. Information des MfS/HA IX/9 über einen Grenzdurchbruch am 13.9.1969, 16.9.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 5, Nr. 1, Bl. 14. [2] Abschrift der mündlichen Einschätzung von Klaus Kluge durch den IM „Karl Martin", 16.9.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 5, Nr. 1, Bl. 105. [3] Ebd. [4] Vgl. Ermittlungsbericht der MfS/KD Bernau über Klaus-Jürgen Kluge, 15.9.1969, BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 5, Nr. 1, Bl. 102. [5] Vgl. Information der VfS Groß-Berlin/Abt. IX über Klaus-Jürgen Kluge, 23.9.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 5, Nr. 1, Bl. 169. [6] Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, 14.9.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 5, Nr. 1, Bl. 10. [7] Vgl. Information der VfS Groß-Berlin/Abt. IX über Klaus-Jürgen Kluge, 23.9.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 5, Nr. 1, Bl.. 165. [8] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 7.11.1997, in: StA Berlin, Az. 27 Js 94/90, Bd. 2, Bl. 8-9. [9] Vgl. ebd., Bl. 10-11. [10] Vgl. ebd., Bl. 1-2. [11] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 12.7.1999, in: StA Berlin, Az. 27 Js 80/97 Bd. 2, Bl. 95-96. [12] Vgl. Handschriftliche Erklärung der Eltern von Klaus-Jürgen Kluge, 24.9.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 5, Nr. 1, Bl. 156. [13] Vgl. Schreiben der [MfS]Abt. XIV über eingeleitete Maßnahmen bei der Urnenfeier vom 6.10.1969, in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 5, Nr. 1, Bl. 175; Rechnung des Städtischen Bestattungswesens, 17.9.1969, in: Ebd., Bl. 186.
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