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Aufzeichnungen über einen Bericht von Günter Mittag in der Sitzung des SED-Politbüros, 22. April 1980

Aufzeichnungen über einen Bericht von SED-Politbüromitglied Günter Mittag in der Sitzung des SED-Politbüros am 22. April 1980

(anonym; vermutliche Autoren: Werner Krolikowski bzw. Willi Stoph)

Abschrift

Aufzeichnungen über einen Bericht von Günter Mittag in der Sitzung des SED-Politbüros am 22. April 1980



Bei einem Vergleich der Hannover-Messe mit der Leipziger Messe kann man getrost sagen, daß unsere Messe ohne weiteres standhält. Unsere 21 Kombinate, die auf der Hannover-Messe vertreten waren, haben einen guten Eindruck gemacht, insbesondere auf dem Gebiet der Mikroelektronik.

Mein Rundgang war überall von grundsätzlichen politischen Gesprächen begleitet, von den Grundfragen:

Frieden, Entspannung, Abrüstung, Entwicklung gutnachbarlicher Beziehungen zwischen der DDR und der BRD, gegen Wirtschaftsboykott und Olympiaboykott, gegen die Differenzierungspolitik des Imperialismus gegenüber den sozialistischen Staaten.

Besonders eindrucksvoll war unser Besuch am Stand der Sowjetunion, das war ein großer Höhepunkt. Dort habe ich auch ein Interview für Radio Moskau gegeben.

Während der Messe hatte ich ein Gespräch mit Leisler Kiep, in dem er seine bekannten Standpunkte vertrat, die natürlich unserem Standpunkt, den ich dargelegt habe, diametral entgegenstanden. An eine Verständigung war natürlich überhaupt nicht zu denken.

Ich möchte jetzt über das Gespräch mit Bundeskanzler Schmidt informieren.

Er wie ich brachten die Freude und Genugtuung über das Zustandekommen des Gespräches zum Ausdruck. Es wurde betont, daß trotz der schweren Belastungen der internationalen Lage die Beziehungen zwischen der DDR und der BRD gut weitergehen sollen. Ich habe Schmidt die herzlichsten Grüße von Erich Honecker übermittelt, die er ebenso herzlich erwidert hat. Schmidt sagte, daß dies kein Ersatzgespräch für sein Treffen mit Erich Honecker sein soll, auf das er nach wie vor eingestellt sein soll.

Von Günter Mittag wurde dies unterstützt. Schmidt bedauerte die Boykottmaßnahmen der USA-Regierung und verteidigte USA-Präsident Carter, der unter einem ungeheueren Druck der USA-Öffentlichkeit wegen der Geiselnahme in Teheran und unter dem Erfolgszwang im Wahlkampf steht. Schmidt sieht mit großer Sorge, wie die beiden großen Weltmächte, die USA und die Sowjetunion, aufeinander losmarschieren. Die Ereignisse in Afghanistan und Iran sind zu sehr unangenehmen Punkten in der internationalen Lage geworden. Die internationale Lage wird zunehmend schwieriger. Der Rüstungswettlauf verstärkt sich. Vertreter von Carter sagten, daß die Seeblockade gegen Iran vorbereitet sei und alles möglich ist. Die Geiselfrage müsse man komplex betrachten. In einigen Ländern muß auf bevorstehende Wahlen Rücksicht genommen werden (gemeint sind offensichtlich die USA und die BRD). Der iranische Präsident Bani Sadr will sicher eine friedliche Lösung, aber er hat keine Macht. Chomeini will dies vielleicht auch, aber er ist viel krank und vielleicht bald tot. Die BRD ist gezwungen, in Solidarität mit den USA mitzumachen und wird sich den Sanktionen anschließen. Sie könne nicht anders, erklärte Schmidt.

Er sagte weiter, der Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan ist ein schwerer Fehler. Er sei überzeugt, daß die Sowjetunion einen solchen Widerstand in der Welt nicht erwartet hat. Nach seiner Meinung sei ein Neutralisierungsplan nötig (man könne auch einen besseren Namen finden), der zwischen Afghanistan, den beiden Großmächten, USA und Sowjetunion, sowie den Nachbarstaaten von Afghanistan vereinbart werden könnte - vielleicht über die Bildung einer Koalitionsregierung in Afghanistan. Ohne daß die Sowjetunion etwa eine Blöße bekommt, muß sie die Truppen zurückziehen. Er sage dies, damit sich Herr Honecker von seinen Auffassungen ein Bild machen könne. Ihm (Schmidt) lege sehr viel daran, daß er für die DDR berechenbar bleibe. Dabei geht es nicht um freundschaftliche Illusionen. Der Krieg wäre furchtbar für alle Deutschen, sagte Schmidt und erklärte, daß er zu Carter gesagt habe:

Du hast es mit 50 Geiseln zu tun, aber ich fühle mich für 85 Millionen Deutsche, für 60 Millionen in der BRD, 17 Millionen in der DDR und die in den anderen sozialistischen Ländern wie Polen, CSSR, Ungarn usw. sowie in den anderen Staaten überhaupt, also für alle Deutschen verantwortlich." Schmidt sagte weiter, daß ihm die Sache mit der Olympiade sehr weh tut, aber die BRD-Sportler nicht nach Moskau gehen werden.

Günter Mittag erklärte dann: Es ist ganz wichtig, daß die Politik beider deutscher Staaten davon ausgeht, daß nie wieder Krieg von deutschem Boden ausgehen darf. Ein dritter Weltkrieg würde zu einer atomaren Katastrophe führen und die Ausrottung der Deutschen bedeuten. Die Erhaltung des europäischen Vertragswerkes sei für den Frieden sehr wichtig. Die Entwicklung der ökonomischen Beziehungen sei ein stabilisierender Faktor. Er möchte in aller Eindeutigkeit betonen, daß durch die Unberechenbarkeit Carters sich die Gefahr für einen Weltkrieg verschärft hat. Man könne im einzelnen verschiedener Meinung sein, ob die Lage wie vor einem neuen Weltkrieg sei, Fakt ist jedoch, daß sich die Kriegsvorbereitung verschärft. Das verlangt von allen Seiten Vernunft und Besonnenheit im politischen Handeln. Die Hauptaufgabe dieses Jahrzehnts sei die Sicherung des Friedens. Brzezinski aber habe dagegen erklärt, es könne durchaus sein, daß man auf den atomaren Knopf drücken müsse. Darauf wandte sich Schmidt an Huonker mit der Frage: Ist denn das bekannt, worauf Huonker sagte, er könne das nicht sagen, er wisse dies nicht.

Günter Mittag fuhr fort: Boykott und Blockade hätten dem Frieden noch nie geschadet und den Sozialismus noch nie umgestoßen. Es ist ganz klar, daß, wenn der Olympiaboykott als politische Waffe eingesetzt wird, wir uns sehr genau überlegen, wie wir reagieren werden und daß dies negative Folgen hat. Ich habe dann, so berichtete Günter Mittag im Politbüro, die sowjetische Hilfe für Afghanistan verteidigt als völlig rechtmäßige Maßnahme im Interesse der nationalen Souveränität Afghanistans und der Sicherung des Friedens in diesem Raum, die auf Wunsch der afghanischen Regierung erwiesen wurde, wofür der Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern die Grundlage ist und was der jahrzehntelangen Freundschaft (seit 1921) zwischen Afghanistan und der UdSSR entspricht. Ich habe, so berichtete Günter Mittag, den aggressiven Plan der USA-Imperialisten entlarvt, der, nachdem die USA aus Iran herausgeflogen sind, darin bestand, sich in Afghanistan einzunisten. Ich habe Schmidt auf die Enthüllung in der Züricher Zeitung hingewiesen, woraufhin er Huonker ersuchte, sich dieses Material zu beschaffen, da er es nicht kenne. Ich habe darauf hingewiesen, wie die USA auch aus der Luft in diesem Raum gegenüber der Sowjetunion Spionage betreibe usw. In diesem Zusammenhang habe ich, so sagte Günter Mittag, festgestellt, daß die Verschärfung der internationalen Lage das Ergebnis vor allem der USA-Politik ist, des NATO-Langzeitprogramms und vor allem des verhängnisvollen Brüsseler NATO-Raketenbeschlusses. Die Ereignisse in Afghanistan sind für die USA nur ein Vorwand, um ihre Ziele besser durchsetzen zu können. Ich habe Schmidt darauf hingewiesen, wie fehlerhaft es war, auf die Berliner Friedensinitiative von L. Breshnew nicht positiv zu reagieren, wie falsch es war, den Ratschlag von Erich Honecker im Telefongespräch mit ihm am Vorabend des Westberliner Parteitages zu überhören. Durch diese ganze Politik der USA und der NATO ist die Rüstungsspirale voll in Gang geraten und zugleich redet man von Verhandlungen - was soll man davon halten? Carter versucht das militärische Gleichgewicht zu verändern. Notwendig sei die Durchführung der NATO-Beschlüsse auszusetzen. Er könne Herrn Schmidt nur empfehlen, jetzt nach Moskau zu fahren und die Einladung von L. Breshnew anzunehmen und das am besten heute noch Moskau mitzuteilen. Erich Honecker sei voll und ganz dafür.

Was die Wirtschaftsbedingungen anbetrifft zwischen der DDR und der BRD, so entwickeln sie sich positiv. Unsere Geschäfte mit Hoechst und Krupp bewähren sich. Deshalb ist das durch unsere Seite auch öffentlich bestätigt worden.

Schmidt: Er möchte sagen, daß die Sowjetunion für den Westen auch nicht berechenbar ist. Sie weitet ihren Einfluß in der Welt ständig aus. Sie betreibt auch überall eine intensive Spionageaufklärung - und mit Hilfe Kubas auch gegenüber den USA. Er schätze sogar ein, daß die Sowjetunion eine bessere Luftaufklärung besitzt als die USA, wobei die Multispektralkamera der DDR von Zeiß gute Dienste erweist. Das NATO-Langzeitprogramm hat bei weitem nicht so eine Bedeutung wie das der Osten sieht. Auch die Sache mit dem Mittelstreckenraketenprogramm der NATO für Europa sieht er ganz anders, denn die Sowjetunion hatte die Mittelstreckenraketen schon lange Zeit vorher innerhalb ihres Waffensystems in bedeutender Zahl. Er (Schmidt) habe erst kürzlich einen Vorschlag für ein Interimsabkommen für drei Jahre gemacht. Er betrachtet die Forderung nach Suspendierung des NATO-Beschlusses als absurd. Er möchte auch sagen, daß, als Breshnew in Berlin seine Friedensinitiative ergriff, mit dem ganzen Plan der Stationierung der atomaren Mittelstreckenraketen der NATO für Europa schon alles gelaufen war, also nichts mehr korrigiert werden konnte; da war alles schon zu spät. Die Einladung von Moskau liegt ihm vor. Er sei bereit. Der Termin ist noch offen.

Mittag: Er möchte sagen, daß er gern zur Kenntnis nimmt, daß Bundeskanzler Schmidt in seiner Politik berechenbar sein will. Er ist davon überzeugt, daß Erich Honecker die Berechenbarkeit der BRD-Politik sehr begrüßen wird. Erich Honecker würde auch außerordentlich begrüßen, wenn Schmidt die Moskau-Reise durchführt. Von großer Bedeutung ist es, den Stop der Rüstungsspirale zu erreichen. Er möchte noch einmal die große Bedeutung der Breshnew-Initiative in Berlin unterstreichen. Indem sie nicht genutzt wurde, ist eine große Chance vertan. Er hob, so berichtete er dem Politbüro, gegenüber Schmidt die große Friedensliebe von L. Breshnew und Erich Honecker aus eigenem Erleben hervor, der man vertrauen könne und auf die man bauen könne. Er lenkte die Aufmerksamkeit von Schmidt auf die bedeutend Frage des Transits aus der BRD durch die DDR womit im Jahr 6 Millionen Tonnen Güter und 3,5 Millionen Reisende befördert werden. Die DDR-Transitwege (Reichsbahn) müssen dringend rekonstruiert und modernisiert werden, denn sie haben die maximale Belastbarkeit längst erreicht. Wenn das nicht geschieht, wird es große Einschränkungen im Transit geben. Man solle dann nicht sagen, daran sei die DDR schuld. Wir haben keine Mittel für die Modernisierung und Rekonstruktion dieser Transitwege, denn unser Interesse an den Reiseströmen geht eindeutig in Richtung Osten. Um dieses Problem zu lösen, müßte sich die BRD umgehend engagieren.

Schmidt: Er sieht diese Sache ähnlich und sei zugleich an weiteren Reiseerleichterungen für DDR-Bürger interessiert. Er sei dafür, den Grundlagenvertrag auszufüllen und ohne Lärm weiterzuführen. Was den Swing betrifft, so wollen sie darüber im IV. Quartal 1980 entscheiden.

Mittag: Ich habe diese Frage nicht aufgeworfen und möchte sie auch jetzt nicht stellen. Wir werden ja dann von Ihnen hören.

Schmidt interessierte sich für das Planungssystem in der DDR und hob hervor, daß die DDR-Bevölkerung einen hohen Lebensstandard besitzt.

Mittag teilte dem Politbüro mit, daß das Gespräch 2 1/4 Stunde gedauert hat.

Er teilte dem Politbüro weiter mit, daß er zu Schmidt, als dieser ihn zum Fahrstuhl begleitete, sagte: Was würden Sie denn dazu sagen, Herr Schmidt, wenn Herr Strauß in die DDR kommt.

Schmidt antwortete: Aber höchstens nach mir.

Mittag: Und wenn es ein Privatbesuch ist.

Schmidt: Es kommt immer darauf an, mit wem er Gespräche aus der Spitze haben wird.

Schmidt weiter: Na, mein Besuchsprogramm ist ja klar, das bleibt alles, wie es besprochen ist, nur über den Termin müssen wir uns noch verständigen zur rechten Zeit. Erich Honecker möchte doch Schmidt bitte anrufen.

Mittag informierte das Politbüro, daß sich in den Gesprächen mit dem Krupp-Vertreter Beitz wie auch bei Hoechst eindeutig ergab, daß die Wirtschaftsbosse gegen den Boykott sind, sowohl in der Wirtschaft wie im Sport.

Dann teilte Günter Mittag dem Politbüro mit, daß auf dem Empfang des DDR- Botschafters, der aus Anlaß seines Besuches gegeben wurde, 120 - 150 Leute anwesend waren. Er habe mit all diesen Leuten gesprochen. Der BRD-Journalist Novotny habe gesagt, auf diesem Empfang: „So viel Kapital auf ein Haufen habe er noch nie gesehen."

Günter Mittag informierte das Politbüro über ein Gespräch mit dem Bundesgeschäftsführer Bahr in Anwesenheit von Beil auf diesem Empfang. Günter Mittag habe zu Bahr gesagt, daß er (Mittag) in der BRD den Grundlagenvertrag der DDR mit der BRD verteidigen mußte. Bahr habe daraufhin gesagt, daß die jetzigen Regierenden diesen Vertrag nicht gemacht hätten und mit ihm nicht richtig umgehen. Der Kanzler betreibe die Ostpolitik mit kleinerer Flamme. Bei Schmidt müsse man sehen, daß er überhaupt relativ spät in die SPD eingetreten wäre. Schmidt müsse in der gegenwärtigen komplizierten internationalen Situation seine eigentliche Bewährungsprobe bestehen.

Mittag zu Bahr: Es wäre gut, wenn Herr Schmidt die Einladung von L. Breshnew annimmt und die Moskau-Reise durchführt.

Über das Gespräch mit Lambsdorff teilte Günter Mittag dem Politbüro folgendes mit: Es sei in sachlich konstruktiver Art verlaufen. Über ein langfristiges Kooperationsabkommen zwischen der DDR und der BRD sei in diesem Gespräch nicht gesprochen worden! Das hänge sicher mit der von Schmidt gegenüber geäußerten Meinung zusammen, daß es in diesen politisch schwierigen Zeiten nicht ratsam sei, langfristige Abkommen zu schließen. Lambsdorff erklärte in dem Gespräch, daß es notwendig sei, da die zwischen beiden Seiten vereinbarten Objekte jetzt auslaufen, nun die neuen Objekte zwischen der DDR und der BRD abzuschließen (zwischen Firmen).

Das Gespräch mit Wehner sei ja - zu dessen Schutz - öffentlich geführt worden (Journalisten waren anwesend); so daß es jeder kenne.

Mit Mischnick bestand Übereinstimmung, in der Zusammenarbeit zwischen der DDR und der BRD weiter zu machen. Er erinnerte an den Besuch gemeinsam mit Wehner bei Erich Honecker 1973.

Zum Abschluß dankte Günter Mittag Erich Honecker für die ständige Hilfe, die er ihm hinsichtlich des Inhalts der Konzeption trotz seines Urlaubes bei der Vorbereitung der BRD-Reise gegeben hat.

Im Politbüro hat niemand zu diesem Bericht das Wort ergriffen, lediglich Erich Honecker stellte fest, daß die Reise nützlich war, und Kurt Hager machte nach dem Bericht von Günter Mittag den Zwischenruf: Na, Günter, dann hast Du ja dem Schmidt eine ganz schöne Lektion erteilt.

Unsere Wertung:
  1. Günter Mittag hat im Politbüro ca. eine Stunde informiert und allein das Treffen mit Schmidt dauerte 2 1/4 Stunde. Dem Politbüro ist kein schriftlicher Bericht vorgelegt worden, ebenso wie das Politbüro keine Direktive für das Auftreten von Günter Mittag beschließen durfte. Daraus geht hervor, daß wir über das vollständige Gespräch mit Schmidt nicht informiert sind. Wir wissen auch nicht, ob das, was er dem Politbüro mitgeteilt hat, überhaupt stimmt. Wir beide haben Zweifel daran und glauben, daß der Bericht von Günter Mittag im Politbüro eine „extra schön aufgemachte Information" von Erich Honecker und Günter Mittag für das Politbüro und die KPdSU ist, um beide „politisch zu befriedigen". Unser Botschafter Moldt ist ein alter Freund von Günter Mittag aus der Jugendzeit und sicher deshalb auf diesem Posten, von dem ein objektiver Bericht kaum zu erwarten sein wird. Der dritte Teilnehmer am Gespräch von DDR-Seite war Krömke, persönlicher Mitarbeiter von Günter Mittag, als Schriftführer. Das alles zeigt den konspirativen Charakter dieses Kontaktes mit dem Feind, woraus Schlußfolgerungen für die Gewährleistung der Sicherheit in der DDR- Führung gezogen werden müssen.

  2. Selbst dieser schöngefärbte Bericht entlarvt offenkundig, dass Günter Mittag nicht als ein Vertreter der festgefügten sozialistischen Staatengemeinschaft und ihrer einheitlichen Außenpolitik, sondern als Teilnehmer eines deutsch-deutschen Techtelmechtel aufgetreten ist. Im Grunde genommen hat er mit Schmidt zusammen auf einem Stuhl gesessen, den Schmidt hingestellt hat, um zwischen der Sowjetunion und der DDR zu differenzieren. Die prinzipiellen Vorschläge und Initiativen, die Genosse Gromyko als realistisches Programm der sozialistischen Staaten für die achtziger Jahre in einem Schreiben an UNO-Generalsekretär Waldheim kürzlich übermittelte, standen nicht im Mittelpunkt des Auftretens von Günter Mittag, sondern lediglich politisches Stückwerk, weil es Erich Honecker und Günter Mittag um die Durchsetzung der Gesamtinteressen der sozialistischen Gemeinschaft im Verhältnis zur BRD gar nicht geht. Es wurden nicht die Interessen der Gesamtstrategie des Sozialismus vertreten, sondern nur Teilinteressen und Sonderinteressen, entsprechend ihrer falschen Konzeption.

  3. Günter Mittag hat in seinem Auftreten, das beweist seine eigene Information, nicht die Globalstrategie des Imperialismus entlarvt. Er sprach zu Schmidt von der Unberechenbarkeit-der Carter-Politik (das war richtig, falls er es tat) und bedankte sich für die Berechenbarkeit der Bonner Politik, was Erich Honecker freudig zur Kenntnis nehmen wird, wie er Schmidt sagte (das war falsch). Denn wie kann die Politik der Bonner Regierung unter Leitung von Schmidt berechenbar sein, wenn er ausdrücklich betont, an der Seite von Carter alles mitzumachen, Solidarität mit den USA zu üben. In diese Doppelzüngigkeit Schmidts hätte Günter Mittag stoßen müssen, um auf den verhängnisvollen Charakter der Hörigkeit der BRD-Regierung gegenüber der USA-Regierung als friedensfeindlich hinzuweisen. Wie kann man sich für eine solche Doppelzüngigkeit noch bedanken. Das ist ein neuer Beweis für das Fehlen einer echten klassenbewußten, prinzipiellen marxistisch-leninistischen Haltung im Verhältnis zum Feind.

  4. Als Schmidt Günter Mittag erzählte, daß er zu Carter gesagt hat, daß dieser sich zwar um die 50 Geiseln sorgen muß, aber er, Schmidt, sich um 85 Millionen Deutsche (die 17 Millionen Bürger der DDR einbegriffen) sorgt und für sie Verantwortung trägt, hätte Günter Mittag demonstrativ und mit heller Empörung die Interessenvertretung der DDR-Bürger durch den Bonner Kanzler zurückweisen müssen. Es ist mit der hohen Verantwortung eines Mitglieds der DDR-Führung völlig unvereinbar, daß er diese Alleinvertretungsanmaßung von Schmidt ohne Widerspruch zur Kenntnis nahm. Das ist nicht einfach ein Lapsus. Wie bereits informiert, hat Schmidt und noch mehr Genscher in der letzten Bundestagssitzung und bei anderen Gelegenheiten wiederholt die alte revanchistische Alleinvertretungsanmaßung der Bonner Regierung aus der Zeit vor dem Grundlagenvertrag wieder hervorgeholt, ohne daß die DDR-Führung in der Presse usw. entsprechend gekontert hätte. Günter Mittag hätte das Treffen mit Schmidt zum Anlaß nehmen müssen, um gegen die ständige Verletzung der Souveränität der DDR durch Schmidt und die BRD zu intervenieren.

  5. Günter Mittag hat durch das Transitprojekt Schmidt zu einer bedeutenden Geldspritze für die DDR animiert, deren Dimension erst noch aufgeklärt und beurteilt werden muß. Da Schmidt im wesentlichen Günter Mittag die Zustimmung gegeben hat, darf diese Sache keineswegs unterschätzt werden. Das wäre eine der größten Kapitalinvestitionen der BRD in der DDR, die neue politische und ökonomische Abhängigkeiten schaffen würde. Es sind keine Politbürobeschlüsse bekannt, die Günter Mittag beauftragt hätten, diese Frage zu verhandeln.
Das ist das wesentliche unserer Einschätzung.

Quelle: SAPMO-BA, DC 20/5272; erstmals dokumentiert in: Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980-1987, Berlin 1995, S. 43-50
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