Telefongespräch zwischen Erich Honecker und Helmut Kohl (Abschrift), 19. Dezember 1983
Telefongespräch zwischen SED-Generalsekretär Erich Honecker und Bundeskanzler Helmut Kohl (Abschrift), 19. Dezember 1983Abschrift
Honecker: Ja, Hallo?
Kohl: Ja, hier ist Kohl, guten Tag.
Honecker: Guten Tag, Herr Bundeskanzler, hier ist Honecker.
Kohl: Ja, guten Tag Herr Vorsitzender. Wie geht es Ihnen?
Honecker: Ausgezeichnet, möchte ich sagen, wenn das Wetter ein bißchen besser wäre.
Kohl: Wie ist das Wetter bei Euch?
Honecker: Trübe, Nebel.
Kohl: Hier ist es total unklar, vorher diese Kälte; jetzt haben wir Frühlingswetter.
Honecker: Ja, das kenne ich.
Kohl: Viel zu warm. Herr Vorsitzender, ich wollte Sie einfach nur zum Jahresende anrufen, um ein paar Gedanken auszutauschen. Das erste, was ich sagen wollte, daß ich mit großer Befriedigung sehe, daß wir in diesem Jahr, ungeachtet der weltpolitischen Umstände, eine Reihe von, wie ich denke, ganz vernünftigen Sachen zusammengebracht haben. Ich denke an die Postpauschale. Ich denke an die gute Aussicht beim Abschluß der S-Bahn-Verhandlungen. Ist noch nicht soweit. Sanierung der Böden, um nur ein paar Beispiele zu nennen, die ich für wichtig und nützlich halte. Und ich wollte Ihnen auch noch einmal mündlich sagen, was ich schon in meinem Weihnachtsbrief geschrieben habe, daß ich größten Wert darauf lege, daß wir die langfristig angelegte Zusammenarbeit auf der bewährten vertraglichen Grundlage fortsetzen.
Wir, die Bundesregierung, wollen alles tun, um das Erreichte zu bewahren und wenn möglich, wie man das ja jetzt in diesem Politik-Chinesisch nennt, das Geflecht der Beziehungen, ich würde es ein bißchen einfacher nennen, sogar sagen, vernünftige Beziehungen einfach zu gestalten und dort, wo es möglich ist, auszubauen. Wir haben sehr zu Kenntnis genommen, was Sie auf dem 7. ZK gesagt haben. Ich will das noch einmal zitieren:
„Jeden vernünftigen Vorschlag sorgfältig zu prüfen und die Beziehungen zwischen unseren Staaten entsprechen dem Vertragssystem auf ein normales Gleis zu bringen." Das entspricht absolut meiner Vorstellung. Und ich wäre sehr damit einverstanden, wenn Sie dies wünschten, daß man über persönliche Beauftragte außerhalb jeglicher Öffentlichkeit, ich glaube, das wäre nützlich, wie auch dieses Gespräch, damit es klar ist, außerhalb jeglicher Öffentlichkeit hier bei uns läuft, noch einmal näher zu erläutern und vielleicht das eine oder andere im Klartext zu versehen.
Wir setzen große Hoffnungen auf die Stockholmer Konferenz. Wir denken, sie sollte genutzt werden, um den Ost-West-Dialog zu erweitern, wenn möglich, vertrauensbildende Maßnahmen auszuhandeln, und ich würde sehr begrüßen, wenn von Ihrer Seite und der Seite der anderen Staaten, einschließlich der Sowjetunion, die Außenminister kommen würden. Ich habe in Washington sehr dafür geworben. Es wird auch so sein, daß der Außenminister Shultz dorthin kommt. Ich glaube, das wäre eine nützliche Chance, um Gespräche zu führen zwischen den beiden wichtigen Mächten, zwischen den Amerikanern und der Sowjetunion.
Im übrigen will ich schnell noch einmal sagen, was ich schon öffentlich gesagt habe: Meine Einladung für Sie gilt selbstverständlich. Wann immer Sie darauf zurückkommen, lassen Sie mich das wissen.
Honecker: Herr Bundeskanzler, ich habe heute gegen 12.00 Uhr durch unseren Außenminister Ihren Brief erhalten. Selbstverständlich muß ich diesen Brief noch eingehend prüfen. Aber ich finde es gut, daß wir in Kontakt bleiben. Sie weisen meines Erachtens in diesem Brief mit Recht darauf hin, daß die beiden deutschen Staaten vor einer wichtigen Aufgabe stehen, der Förderung des Friedens, wie es hier heißt, der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, und die Erfüllung dieser Aufgabe, habe auch eine Bedeutung für die Beziehung zueinander in einer Verantwortungsgemeinschaft, vielleicht könnte man auch sagen, Sicherheitspartnerschaft vor Europa und vor dem deutschen Volk.
Wie gesagt, ich begrüße das sehr. Allerdings ist es natürlich so, daß die Lage inzwischen schon etwas anders geworden ist durch den Beginn der Stationierung, denn meines Erachtens - das findet auch in Ihrem Brief einen Niederschlag - hat das selbstverständlich die internationale Lage weiterhin kompliziert, die Spirale des Wettrüstens neu angedreht und die Gefahr eines neuen Krieges erhöht, so daß also, unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, selbstverständlich eine ganze Reihe Fragen neu stehen, die man im einzelnen noch durchdenken müßte. Jedenfalls ist es so, daß, Herr Bundeskanzler, ich selbst mit großer Aufmerksamkeit Ihren Einsatz für den Beginn der Stationierung der neuen USA-Mittelstreckenwaffen verfolgt habe. In Ihrem Brief gehen Sie bereits darauf ein, Sie könnten sich vorstellen, daß dies von uns als ein sehr bedenklicher Schritt aufgenommen wurde.
Die Haltung der DDR zu dieser Frage hatte ich Ihnen damals in meinem Schreiben Anfang Oktober ausführlich erläutert. Mit dem Beginn der Stationierung ist praktisch doch eine neue Lage entstanden. Dazu habe ich mich - wie Sie mit Recht soeben anführten in Ihren Darlegungen - auf der 7. Tagung des Zentralkomitees unserer Partei geäußert. Die Welt ist schon heute nicht mehr so, wie wir wissen, wie sie vor dem Beschluß über die Stationierung war. Also die internationale Lage hat sich kompliziert. Ich habe das bereits angeführt, und die Tatsachen, mit denen wir konfrontiert sind, sind selbstverständlich sehr ernst. Ich möchte Ihnen nicht verhehlen, daß in der Tat damit dein europäischen Vertragssystem einschließlich Grundlagenvertrages, wie ich bereits auf der 7. Tagung des Zentralkomitees sagte, ernster Schaden zugefügt wurde.
Ich habe ausdrücklich von Schaden gesprochen, was Sie auch bemerkt haben. Immerhin wird ja in den Verträgen von Moskau, Warschau und Prag sowie im Vierseitigen Abkommen vom 3. September 1971 und auch im Grundlagenvertrag die Friedenssicherung zum Kernanliegen der Verträge erklärt. Und Sie, Herr Bundeskanzler, haben ja in Ihrem ersten Schreiben an mich selbst geäußert, daß die Politik Ihrer Regierung auf Kontinuität gerichtet sei, gestützt auf das Bündnis, selbstverständlich im Westen, wollten Sie die Zusammenarbeit mit dem Osten fortsetzen und ausbauen. Das fand bei uns ein positives Echo, wie Sie wissen. Bis heute ist mir selbstverständlich unverständlich, wieso die großzügigen, ich darf das hier mal sagen, großzügigen Angebote von Juri Andropow, die vielfältigen Vorschläge der führenden Repräsentanten der sozialistischen Länder von Prag und Moskau, nicht veranlaßt haben, alle Verhandlungsmöglichkeiten in Genf auf jeden Fall voll auszuschöpfen.
Und warum die Stationierung nicht zumindestens ausgesetzt wurde, um doch noch zu einem beiderseits akzeptablen Ergebnis zu kommen. Jetzt betrachten wir die Lage so, und daß nun Verhandlungen über die Mittelstreckenwaffen, deren Einsatz nicht nur die beiden deutschen Staaten, ihre Bürger vernichten und ganz Europa zu einem atomaren Schlachtfeld machen werden, die Grundlage wirklich entzogen wurde, weil die NATO trotz Einsprüche Griechenlands, Dänemarks und Spaniens ohne jeden Aufschub stationiert. Unter diesen Bedingungen, die auch die anderen Abrüstungsverhandlungen leider in Mitleidenschaft gezogen haben, hat sich die internationale Lage doch weiter zugespitzt. Und die Situation in Europa ist noch angespannter geworden.
Mehr Sicherheit für die Bundesrepublik und ihre Bürger ist nicht entstanden, wie das als Begründung für die Raketenstationierung ausgegeben wurde. Wissen Sie, Herr Bundeskanzler, mich, meine Freunde und auch die Bürger der DDR erfüllt es natürlich mit großer Sorge. Ich war seitdem einige Male in der Republik, und daß sich auf Ihrer Seite mittlerweile politische und strategische Doktrinen durchsetzen, die, und auch hier glaube ich, müßten wir mal darüber sprechen, die Welt in eine nukleare Katastrophe doch treiben könnten.
Ich meine z. B. die Doktrin, wonach die Sowjetunion das Reich alles Bösen sei. Das wurde in diesen Tagen wiederum bekräftigt, das es zu beseitigen gelte. Und ich meine auch die Doktrin zur Zerstörung des Sozialismus mit Hilfe eines Enthauptungsschlages, wie man das nennt: Mit Hilfe einer militärischen Strategie der Entwaffnung und sogar des Präventivschlages. Hierbei handelt es sich nicht um eine unverantwortliche Sprache, um unverantwortliche Sprüche von unbedeutenden Leuten, sondern um offizielle Verkündung führendster Persönlichkeiten der USA und um Festlegungen in bereits gültigen Konzeptionen der NATO. Man muß nicht die Geschichte bemühen, um zur Auffassung zu gelangen, daß eine Kreuzzugpolitik gegen die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Staaten, die auf militärische Gewalt setzt, der Weg in die Katastrophe ist.
Und unter den heutigen Bedingungen wäre es die Katastrophe für die ganze Menschheit. Das ist eine Philosophie des Krieges und nicht des Friedens, der Vernunft und des Ausgleiches. Wir stellen, Herr Bundeskanzler, die Zugehörigkeit der Bundesrepublik Deutschland zu ihrem Bündnissystem nicht in Frage. Und umgekehrt sollte man es auch nicht mit der DDR halten. Aber Europa darf nicht die Geisel einer Politik werden, die offenkundig bereit ist, jene Grenze zu überschreiten - jedenfalls ist das unser Eindruck - an der eigentlich ein jeder verantwortungsvoller, bewußter Politiker, gleich welcher politischer Farbe, haltmachen sollte. Ich hatte, wie Sie wissen, Gelegenheit,
Ihrem Vorgänger im Amt zu sagen, er möge sein politisches Schicksal nicht mit dem Raketenbeschluß verbinden. Was geschehen ist, wissen Sie. Erlauben Sie die Feststellung, wer in unserer Zeit nicht alles Erdenkliche für den Frieden, für die Vermeidung eines nuklearen Krieges, für die Zusammenarbeit der Staaten auf der Basis der Gleichheit und der gleichen Sicherheit unternimmt, wird vor seinem Volk und auch vor seinem Gewissen nicht bestehen können. Und in dieser Beziehung habe ich auch mit Interesse aus Ihrem mir heute zugänglich gemachten Brief entnommen, daß Sie unsere Position sehr stark verfolgen und Sie selbst einige Vorstellungen haben, wie man diese Fragen einer Lösung zuführen könnte.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik, das verlieren wir nie aus dein Auge, und ich möchte, daß Sie das auch am Vorabend des neuen Jahres wissen, haben nicht nur unterschiedliche gesellschaftliche Ordnungen, sondern sie gehören auch verschiedenen Bündnissystemen an. Und in meiner Rede auf der Tagung des Zentralkomitees unserer Partei habe ich ja auch unterstrichen, daß die Deutsche Demokratische Republik in jedem Falle ihre Bündnisverpflichtungen erfüllen wird. Und dazu gehört auch die Stationierung operativ-taktischer Raketen größerer Reichweite, jedenfalls größer als 120 Kilometer, die, das kann ich ganz offen sagen, das Startgebiet von Pershing 11 und Cruise Missiles berücksichtigen.
Von dieser Tatsache muß man nunmehr bei Betrachtungen der Beziehungen zwischen der DDR und der BRD ausgehen. Ganz offensichtich sind das keine Instrumente, da werden Sie mir zustimmen, die gutnachbarlichen Beziehungen zu erleichtern. Wir waren dagegen, daß es so kommt, und wir sind dafür, diesen Zustand in absehbarer Zukunft wieder zu beseitigen. Wir werden bei der Durchführung unserer militärischen Maßnahmen, das darf ich sagen, nicht weitergehen, als es durch das Vorgehen der USA und der NATO erforderlich ist, und Juri Andropow hat das auch in seiner Erklärung klar gesagt. Allerdings werden wir dabei selbstverständlich die Aufrüstungsmaßnahmen der Bundesrepublik zu berücksichtigen haben.
Und da letztens beide deutsche Staaten eine Zukunft haben wollen, sollte man, wenn Ihrerseits der Wille vorhanden ist, weiter von dem Prinzip ausgehen, daß es zur Politik der friedlichen Koexistenz keine akzeptable Alternative gibt. Wir sind dafür, vom Vertragssystem all das zu wahren, was noch besteht, es weiter auszubauen, mit Inhalt zu erfüllen. So sind wir dafür, den Schaden möglichst zu begrenzen. So bitte ich auch meine Ausführungen auf der letzten Sitzung des Zentralkomitees zu verstehen. Dabei muß vor allem, Herr Bundeskanzler, jener Kerngedanke im Grundlagenvertrag meines Erachtens stärkere Berücksichtigung finden, der besagt, daß jeder der beiden deutschen Staaten über seine Innen- und Außenpolitik selbständig und souverän zu entscheiden hat. Wenn Sie das ebenso halten, sehen wir auch jetzt noch Möglichkeiten der fruchtbaren Entwicklung der Beziehungen. Allerdings will ich nicht verschweigen, daß ohne die Stationierung neuer Raketen die Chancen dafür besser wären.
In Ihrem Brief, Herr Bundeskanzler, habe ich sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen Ihre Feststellung, wonach der Krieg kein Mittel zur Durchsetzung politischer Ziele mehr sein darf und Waffen nicht eingesetzt werden sollten, es sei denn als Antwort auf einen Angriff. Diesem kann ich voll und ganz zustimmen. Um so mehr wäre es doch gut, wenn Sie den Vorschlag unterstützen würden, Verhandlungen über den Abschluß eines Vertrages über den Verzicht auf Anwendung militärischer Gewalt zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO aufzunehmen. Es geht dabei nicht nur um die Frage des Verzichts auf militärische Gewalt, sondern tun die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen.
Und der Einwand, Gewaltverzicht sei in anderen internationalen Dokumenten bereits festgelegt, hebt selbstverständlich die Notwendigkeit eines solchen Vertrages nicht auf. Also, wir sind dafür, alle entstehenden Probleme friedlich zu regeln. Unsere Vorschläge dazu betrachten wir als realistisch. Wir sind für das Einfrieren aller Rüstungen auf nuklearem Gebiet, den Stopp und die Zurücknahme der Stationierung der USA-Erstschlagswaffen, um wieder Verhandlungen zu ermöglichen, den vertraglich vereinbarten Verzicht auf die Erstanwendung von nuklearen und konventionellen Waffen, die Bildung atomwaffenfreier Zonen, für den schwedischen Vorschlag, eine von atomaren Gefechtsfeldwaffen freie Zone in Europa zu schaffen.
Bekanntlich haben wir hierzu unsere Bereitschaft erklärt, das ganze Territorium der DDR zur Verfügung zu stellen, und wir sind für das Verbot der chemischen und bakteriologischen Waffen. Wir sind ganz entschieden für das Verbot der Militarisierung des Weltraumes. Also, wir schließen nicht die Möglichkeit aus, daß es früher oder später, trotz eingetretener Lage, zu positiven Ergebnissen der Verhandlungen über Abrüstung kommt und die Entspannung fortgesetzt wird. Wie gesagt, nach wie vor gibt es unseres Erachtens zur Politik der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher sozialer Ordnung, und das ist auch in dem mir von Ihnen heute übermittelten Brief vermerkt, keine vernünftige Alternative. Realismus und Vernunft müssen wirklich die Oberhand gewinnen. Sie haben eingangs in Ihren Äußerungen darauf hingewiesen auf die verschiedenartigen Fortschritte, die es zwischen uns gibt. Ich bin voll und ganz mit Ihnen einverstanden, daß man sich überlegen muß, was man tun kann, um trotz der schwierigen Zeiten all das zu erhalten, was man in der Frage der Entspannungspolitik erreicht hat, und weiter auszubauen.
Deshalb möchte ich Sie bitten, Ihre Aufmerksamkeit solchen Fragen zu schenken, zu dem, was wir bereits erreicht haben, wie die Klarstellung des Verlaufes der Elbgrenze, der Respektierung der Staatsbürgerschaft der DDR, der Auflösung der aus dem kalten Krieg stammenden Dienststelle in Salzgitter sowohl wie der Umwandlung der Ständigen Vertretung in Botschaften. Eine Frage haben wir schon gelöst. Die frühere Treuhandstelle - da wurden Sie ja bereits darüber informiert - für innerdeutschen Handel wurde ja in Treuhandstelle für Industrie und Handel umgewandelt. Und die Regelung der Probleme der Elbgrenze würde selbstverständlich - ich bitte das zu beachten - von uns honoriert, da ja das, was wir hier besprechen unter uns bleibt, von uns aus honoriert. Trifft nach Informationen, die mir vorliegen, Herr Bundeskanzler - und ich möchte die Frage an Sie richten, ob das stimmt, trifft es zu, daß in einem Staatsvertrag zum Beispiel zwischen Bayern und Württemberg, ohne daß ich jetzt Bayern und Württemberg mit der DDR vergleichen möchte, festgelegt worden ist, daß die Grenze zwischen den beiden Bundesländern exakt auf der Flußmitte des Main verläuft.
Wenn eine solche Regelung sogar innerhalb der Bundesrepublik getroffen wird, warum sollte man dann zögern bei der Klärung dieses Problems der Flußgrenze zwischen zwei von einander unabhängigen Staaten, zum Beispiel des kleinen Stückchens Elbgrenze? Im übrigen sollte es doch wirklich nicht schwer sein einzusehen, daß es auch Staatsbürger der DDR und Staatsbürger der BRD gibt. Und Sie selbst haben ja auch schon von Bürgern der DDR gesprochen.
Größten Wert möchte ich darauf legen, daß, wie ich schon sagte, der Grundsatz eingehalten wird, wonach beide Staaten in ihren inneren und äußeren Angelegenheiten souverän sind, selbständig sind. Deshalb sollten Schritte unterlassen werden, die darauf gerichtet sind, auf andere Staaten bei der Gestaltung ihrer Beziehungen zur DDR negativ oder gar mit politischem Druck einzuwirken.
Neuerdings kann nicht verschwiegen werden, daß solche Versuche seitens der BRD zunehmen. Ich bitte Sie, immer davon auszugehen, Herr Bundeskanzler, daß es nicht möglich sein wird, die Deutsche Demokratische Republik in irgendeiner Weise durch andere Dinge politisch von ihren prinzipiellen Positionen abzubringen. Natürlich berücksichtigen wir den großen Umfang verwandtschaftlicher Beziehungen zwischen Bürgern der DDR und Bürgern der BRD. Und wir sind dafür - Sie haben selbst die Dinge auch etwas mit nach vorwärts gebracht -, Wege für Begegnungen zu öffnen, aber guter Wille darf unseres Erachtens nicht mißbraucht werden, um so lebenswichtige Interessen unseres Staates anzutasten. Und ich glaube, man sollte das auch nicht mit allen anderen Sachen umschmücken, sondern hier handelt es sich darum, so wie auf verschiedenen Gebieten, daß wir auf allen Gebieten frei und offen uns immer aussprechen.
Und ich teile voll und ganz die von Ihnen geäußerte Meinung, daß die bevorstehende Stockholmer Konferenz doch also die Möglichkeit bietet, nicht nur wesentliche Fragen zu besprechen, die eine wirkliche Vertrauensbildung bieten, sondern, daß nach den ganzen Ereignissen der letzten Zeit doch also Millionen von Menschen dieser Konferenz mit Hoffnung entgegenschauen. Wir haben noch nicht endgültig entschieden, ich nehme aber an, daß wir unseren Außenminister schicken. Die Konferenz hat eine solche Bedeutung, daß wir unseren Außenminister entsenden werden.
Kohl: Ja.
Honecker: Übrigens Ihre Frage in bezug auf Besuch in der BRD, das heißt, die Erneuerung der Einladung zum Besuch. Ich möchte Ihnen sagen, im Prinzip bin ich einverstanden. Wir sind aber wahrscheinlich beide doch der Auffassung, ihn in einer Situation durchzuführen, die auch einen normalen Ablauf diese Besuches ermöglicht.
Kohl: Da stimme ich Ihnen völlig zu.
Honecker: So daß also man zu gegebener Zeit Termin, Programm usw. alles vereinbaren könnte, auch was die Frage betrifft in Ihrem Brief, was Sie wiederholt haben, das Angebot einer meiner Vertrauensleute zu Ihnen zu senden.
Kohl: Oder umgekehrt.
Honecker: Oder umgekehrt. Auch einverstanden. Da würde ich darum bitten, daß wir uns dann über einen Termin verständigen, damit das alles vor sich gehen kann. Wobei ich als die wichtigste Frage gegenwärtig betrachte, die Vorbereitung der Stockholmer Konferenz.
Kohl: Ja. Also, ich habe sehr aufmerksam natürlich das jetzt alles angehört und zugehört, was Sie gerade gesagt haben. Ich will jetzt nicht zu allen Punkten im Detail Stellung nehmen, weil das doch viel zu weit führen würde. Ich will auch jetzt nicht eine Würdigung der natürlicherweise sehr konträren Standpunkte, was die Stationierung betrifft, vornehmen.
Hier sind unsere Meinungen völlig verschieden. Nur will ich sagen, seitens der Bundesrepublik Deutschland und seitens der NATO wird es mit absoluter Sicherheit keinen Angriffskrieg geben, und ich füge etwas hinzu, was in diesem Augenblick vielleicht Sie besonders beeindrucken kann: Ich bin fest überzeugt, daß wir beide, die wir jetzt miteinander telefonieren, im sichersten Teil dieser Erde leben. Ich bin ganz sicher, daß es in Mitteleuropa keinen Krieg geben wird.
Das ist meine feste Überzeugung, und ich habe auch nicht die geringsten Anzeichen dafür, wenn ich das ernst nehme, was die sowjetische Seite erklärt, und sie tun dies, und wenn ich das ernst nehme, was ich selber mit beeinflussen kann, weil ich hier die allerbesten Kenntnisse aus allernächster Nähe habe. Ich bin der festen Überzeugung, daß in der jetzigen Lage absolut die Chancen liegen, auch zu einer Verständigung der beiden Weltmächte zu kommen. I
ch bin sicher, daß sich da in den nächsten Monaten auch noch einiges erreichen läßt und erreicht wird, was ich selbst tun kann, das ist eine ganze Menge. Auch in Washington werde ich eine ganze Menge tun. Wir haben enge Kontakte, und wir haben das immer wieder gesagt. Ich will aber jetzt nichts sagen über diese Abteilung, die ich unter Propaganda bezeichne, wer wen jeweils angreift. Wissen Sie, Herr Honecker, das bringt uns beide nicht weiter. Wir haben nach meiner festen Überzeugung in dieser sehr kritischen, sehr ernsten weltpolitischen Lage ganz persönlich, wir beide, eine besondere Verantwortung. Es ist ganz selbstverständlich, daß wir nicht die Absicht haben, etwa die Gegebenheiten, die da sind und die realistisch zu betrachten sind, ich höre aus Ihren Worten umgekehrt das gleiche, jetzt auf den Kopf stellen zu wollen.
Wir müssen in der uns zur Verfügung stehenden Zeitspanne unseres Amtes oder unseres Lebens, wie man es nennen will, versuchen, unsere Pflicht zu tun. Unsere Pflicht muß es sein, den Frieden zu bewahren. Unsere Pflicht muß auch sein, in der Verantwortung vor der deutschen Geschichte unsere Pflicht zu bewahren. Sie haben aus gutem Grund auf die Menschen in beiden Teilen hingewiesen. Auf die Menschen in der DDR und auf die Menschen in der Bundesrepublik. Und das gibt noch eine weit über das politische Maß hinausgehende zusätzliche Verantwortung. Gerade für eine Generation, ich bin etwas jünger, aber ich habe den Krieg noch mit wachem Bewußtsein als Kind miterlebt.
Honecker: In den letzten Zügen, ja?
Kohl: Ja. Und zum Schluß noch als Flakhelfer. Ich hab in meiner Heimatstadt Ludwigshafen Fliegerangriffe erlebt. Mein Bruder ist gefallen. Mein Schwager war von den Nazis eingesperrt. Ich habe all das erlebt, was das Schicksal einer deutschen Familie in dieser Zeit ausmacht. Ich glaube, daß in Stockhohn eine Chance besteht, ein Stück weiterzukommen. Ich persönlich bin auch überzeugt, daß es im kommenden Jahr nach einem zeitlichen Phasenverzug zwischen den Weltmächten erneut zu Gesprächen kommen wird. Alles, was ich weiß, deutet darauf hin.
Und jetzt will ich es auch noch einmal ganz klar und deutlich ansprechen. Ich kann nicht erkennen, daß wir, wir beide, und die Regierung der DDR und die Regierung der Bundesrepublik, im Rahmen ihrer Möglichkeiten bilateral nicht das tun sollten, was die anderen selbstverständlich tun. Seit dem Stationierungsbeschluß sind die Wirtschaftsgespräche zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik nicht geringer geworden, sondern eher intensiviert. Ich habe im Augenblick gerade einen Bericht vor einer Stunde bekommen, wer alles etwa mit unserer chemischen Industrie verhandelt hat in den letzten 14 Tagen.
Da war das eine ganze stolze Reihe aus dem Bereich des Warschauer Paktes. Ich vermag nicht einzusehen, warum die Beziehungen unter den Deutschen, unter den sicher schwierigen Verhältnissen - ich leugne das überhaupt nicht - mehr leiden sollten als die Beziehungen zwischen den Tschechen und uns, ich meine jetzt die Bundesrepublik, und die Beziehungen zwischen den Polen und uns, die Beziehungen zwischen den Bulgaren oder den Rumänen.
Ich finde, wir haben auf Grund der geltenden Verträge eine gute Chance, hier mit Vernuft und Augenmaß das Richtige zu tun. Und Sie können vor allem davon ausgehen, das glaube ich ist sehr wichtig: Sie sprechen hier mit einem Mann, der nichts unternehmen wird, um Sie in eine ungute Lage - ich will es nicht näher interpretieren - in eine ungute Lage zu bringen.
Mein Interesse ist, daß das, was mühsam aufgebaut wurde und was unendlich schwierig und nur mit kleiner Schritten fortzuentwickeln ist, fortentwickelt wird, das ist das, was ich mir vorgenommen habe. Und vielleicht können wir im Laufe des Januar noch einmal uns verständigen, ob jemand von meinen Leuten rüberkommt mal zu Ihnen, und zwar wirklich in aller Diskretion - bei uns ist das natürlich, wie Sie wissen, ein bißchen schwieriger. Aber, das kann man so machen, daß das in einer vernünftigen Dimension läuft.
Mir geht es darum, daß der Faden nicht abreißt und schon gar kein Tischtuch zerschnitten wird, sondern daß wir im Rahmen dessen, was jetzt, heute oder im kommenden Jahr möglich ist, möglich machen. Ich glaube, das ist unsere Pflicht. Ich empfinde es jedenfalls so.
Honecker: Ich möchte Ihnen, Herr Bundeskanzler, ganz offen sagen, daß es mich außerordentlich freut, daß Sie die Fragen der Sicherung des Friedens in den Mittelpunkt Ihres Wirkens rücken und in Verbindung damit als selbstverständlich betrachten, daß gerade die beiden deutschen Staaten unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Gesellschaftsordnungen und der verschiedenen Zugehörigkeit zu den Bündnissystemen zumindest nicht schlechter zusammenarbeiten dürfen als mit anderen Staaten.
Kohl: Ja, und da werden wir das in aller Souveränität auch tun.
Honecker: Und meinerseits, das wissen Sie, werden die Probleme immer von dieser Kante aus angepackt. Wobei ich ganz offen sagen möchte, daß also selbstverständlich die Zuspitzung der internationalen Lage sich sowohl negativ auswirken wird für die DDR als auch für die Bundesrepublik Deutschland, wenn es nicht gelingt, den Zug der Aufrüstung zu bremsen und ihn vielleicht umkehrbar zu machen. Die Informationen, die Sie gegeben haben zu den ökonomischen Beziehungen, erfüllen mich mit einem bestimmten Optimismus. Auch wie ich Ihnen bereits sagte, die Vorbereitung der Stockholmer Konferenz. Wir werden wahrscheinlich morgen dazu Stellung nehmen und festlegen, daß unser Außenminister zu dieser Konferenz fahren wird. Dort wird man die Möglichkeit haben, sich über das zu verständigen, was es zu verständigen gibt, und daß also dann die Dinge weitergehen. Die ökonomischen Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten entwickeln sich an und für sich gut. Wenn ich richtig im Bilde bin, ich weiß nicht genau, so wird der Handel in diesem Jahr einen Umfang von 15 Milliarden Mark erreichen.
Kohl: Ja, ja, bestimmt.
Honecker: Das ist immerhin eine ganz schöne Summe, und wir sind interessiert, daß bestimmte Hemmnisse abgebaut werden, der Handel weiterentwickelt wird. Aber darüber können ja die zuständigen Stellen sprechen. Jedenfalls können Sie von mir aus das Wort ganz fest nehmen, ich hätte bald gesagt, mitnehmen, daß also von unserer Seite aus die Orientierung genommen wird, diesen Handel zu entwickeln, auch den Austausch auf wissenschaftlich-technischem Gebiet zu entwickeln und auf den verschiedenen anderen Gebieten, die Sie angeführt haben. Aber wichtig ist selbstverständlich, das ergibt sich allein schon aus unserer Verantwortung, aber auch aus unseren Erfahrungen, den Frieden zu sichern, d. h. einen neuen Krieg abzuwenden. Ich nehme gern Ihre Versicherung entgegen. Ich hätte bald gesagt, möge Gott, daß das alles so zutreffen wird, wie Sie das zum Ausdruck gebracht haben. Nach meinem Eindruck - ich darf das ganz offen sagen -, ich stehe auch im engen Kontakt, von sowjetischer Seite ist man selbstverständlich bereit, unter Beachtung ihrer Interessen, ein großes Stück entgegenzukommen. Allerdings ist es natürlich so, daß auch die andere Seite entgegenkommen muß, wobei ich vom Geschimpfe überhaupt nichts halte, sondern einfach von der Tatsache ausgehe, daß reale Interessen die Beziehungen zwischen den Staaten entwickeln. Dazu haben wir ja auch selbst eine besondere Verantwortung. Wie Sie mit recht sagten, vom Standpunkt des Friedens und vom Standpunkt der Geschichte.
Kohl: Ja. Also, ich wünsche Ihnen einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Honecker: Ja, ebenfalls einen guten Rutsch ins neue Jahr. Wie ich gehört habe, werden Sie in der Umgebung von Ludwigshafen sein. In dem schönen Gebiet dort.
Kohl: Ich muß so viel reisen, ich bin froh, wenn ich mal daheim bin.
Honecker: Ist ja auch schön. Also besten Dank. Dann ebenfalls einen guten Rutsch. Auf Wiederhören.
Kohl: Auf Wiederhören.
Quelle: SAPMO-BA, DY 30/vorl. SED 41664, dok. in: Detlef Nakath/Gerd-Rüdiger Stephan (Hg.), Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980-1987, Berlin 1995, S. 159-170.