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Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989: Konfusion in der militärischen Führung der DDR

Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989: Konfusion in der militärischen Führung der DDR

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1999

Exkurs: Konfusion in der militärischen Führung



Fassungslos, verwirrt, aber auch voller Wut blickten am 10. November die Genossen des Grenzregiments-36 auf die Schändung „ihres" Brandenburger Tores, der „heiligen Kuh der Grenztruppen" [1], in der vorangegangenen Nacht zurück. In einer Protestresolution an den Generalsekretär des ZK der SED klagten sie den Verrat ihrer militärischen und politischen Führung an: „Die Ereignisse vom 9. 11. 1989 bzw. 10. 11. 1989 betrachten wir schlichtweg als Verrat und Hohn gegenüber den Leistungen der Schutz- und Sicherheitsorgane, insbesondere der Grenztruppen. Ohne uns in Kenntnis zu setzen, wurden Entscheidungen getroffen, die uns zwangen, alle militärischen und parteilichen Prinzipien aufzugeben. Berechtigt fragen unsere Genossen, warum durch unsere Partei- und Staatsführung, durch unsere militärische Führung, diese Ausreiseregelung nicht ordnungsgemäß abgeklärt und vorbereitet wurde, sondern dem Gegner und seinen Massenmedien, wie so oft in letzter Zeit, die Initiative übergeben, nicht nur überlassen wurde?" [2] Weil die militärische Führung kopflos und ohne Ziel handle und die Erfüllung der Aufgaben zum Schutz der Staatsgrenze nicht länger gewährleiste, habe man zu ihr – einschließlich des Ministers und der anderen ZK-Mitglieder des MfNV – kein Vertrauen mehr. „Wir fordern", heißt es in dem Schreiben abschließend, „daß diese Genossen Rechenschaft für ihr Versagen ablegen und durch die Führung unserer Partei die notwendigen Veränderungen vorgenommen und die Genossen, am Statut gemessen, zur Verantwortung gezogen werden." [3]

Die von den Grenzern geforderten personellen Veränderungen wurden in den folgenden Tagen und Wochen vorgenommen, ihre Fragen hingegen nie beantwortet. Wie aber stellte sich der Fall der Mauer aus der Sicht der Spitze des Ministeriums für Nationale Verteidigung dar? Warum wurde die Reiseregelung in Strausberg nicht „ordnungsgemäß abgeklärt und vorbereitet"? Welche Informationen liefen im Ministerium und im Kommando der Grenztruppen ein, welche Abstimmungsprozesse fanden statt, welche Entscheidungen wurden getroffen und welche Weisungen und Befehle gegeben?

In den Zimmern des Ministers und der meisten seiner Stellvertreter herrschte am 9. November wie bereits am Vortage gähnende Leere. Seit Honecker den Sicherheitsblock im Zentralkomitee verstärkt und immer mehr Vertreter der bewaffneten Organe als Mitglieder und Kandidaten ins Zentralkomitee kooptiert hatte, waren die Führungsetagen des Ministeriums für Nationale Verteidigung an Sitzungstagen des Zentralkomitees wie ausgestorben. Mit sieben Generälen, von denen sechs dem Kollegium angehörten, war das Verteidigungsministerium so stark wie kein anderes Ministerium im Zentralkomitee vertreten. Heinz Keßler und seine Stellvertreter Fritz Streletz [4], Horst Brünner [5], Wolfgang Reinhold [6], Horst Stechbarth [7] sowie der Chef der Grenztruppen Klaus-Dieter Baumgarten [8] hatten der von Krenz verlesenen Reiseregelung zunächst keine größere Bedeutung für Armee und Grenztruppen beigemessen; [9] eine schnelle Information oder vorbereitende Weisung an die Kommandeure der Grenzkommandos und Grenzregimenter jedenfalls unterblieb. Für die NVA, so Fritz Streletz, ergab sich aus der Reiseverordnung aus damaliger Sicht „so gut wie gar nichts". Armeeangehörige durften ohnehin nicht ins kapitalistische Ausland reisen. Und "ob der Schlagbaum hochgeht und wer mit welchen Dokumenten die Grenze passieren darf, oblag den Paßkontroll-Einheiten, die dem MfS unterstanden. Darauf hatten die Grenztruppen und der Kommandant der Grenzübergangsstelle keinen Einfluß." [10] Den eingeschliffenen Zuständigkeiten entsprechend, konnten die Militärs die Umsetzung der Reiseverordnung getrost als interne Angelegenheit des MfS und des MdI betrachten. Wenig spricht dafür, daß am 9. November tatsächlich die Absicht bestand, wie Baumgarten angibt, „im Laufe einer Kollegiums-Sitzung am Abend die entsprechenden Weisungen zu beraten, was die Grenztruppen zu tun haben und welche Maßnahmen erforderlich sind", und danach die Information des Ministeriums für Nationale Verteidigung an die Truppe immer noch „rechtzeitiger erfolgt (wäre), als es über Rundfunk und Zeitungen vorgesehen war". [11] Als Voraussetzung dieser Beratung hätte sich das Kollegium in der Nacht zunächst einmal den schriftlichen Text der Reiseverordnung besorgen müssen, denn die ZK-Mitglieder hatten ihn nicht, und im Sekretariat des Ministers in Strausberg war die Umlaufvorlage des Ministerrats wegen der ungünstigen Kurierzeiten nicht angekommen. [12] Nach der Erinnerung des für die inhaltliche und technische Durchführung der Sitzung zuständigen Sekretärs des Kollegiums, Oberst Werner Melzer, war an diesem Abend nur ein einziger Tagesordnungspunkt vorgesehen: die Auswertung des ZK-Plenums durch den Minister. Entsprechend wurde auch der im Ministerium für die interne Umsetzung der Reiseproblematik zuständige Leiter der Rechtsabteilung, Prof. Krumbiegel, nicht zu der Beratung hinzugezogen. [13]

In der Annahme, die ZK-Tagung werde wie üblich um 18.00 Uhr beendet, hatte Keßler die Kollegiums-Sitzung von Melzer für 19.00 Uhr anberaumen lassen. Doch planwidrig tagte das Zentralkomitee bis 20.45 Uhr, und erst danach brachen die Militärs in ihr Ministerium vor den Toren Berlins auf. Als sie dort ab 21.30 Uhr nacheinander eintrafen – Keßler, Brünner und Streletz kamen noch eine Viertelstunde später als die anderen –, warteten die Nicht-ZK-Mitglieder bereits seit fast drei Stunden vor dem Tagungsraum auf die Rückkehr der ZK-Mitglieder. Aus diesem Grund hatte kein Mitglied des Führungsgremiums der NVA die Pressekonferenz Schabowskis verfolgen können.

In vollkommener Unkenntnis des Geschehens in der Stadt begannen die höchsten Militärs „eine jener ermüdenden und fruchtlosen Sitzungen", so Admiral Theodor Hoffmann, damals Chef der Volksmarine und einer der Stellvertreter Keßlers, die den Führungsstil im Ministerium kennzeichneten. [14] Doch Keßler hatte bereits an Autorität eingebüßt.

Schon am frühen Morgen des 9. November, als er alle Chefs, Leiter und Parteisekretäre des Ministeriums über die Ergebnisse des ersten Tages des ZK-Plenums unterrichtete, wurde sein Vortrag von Mißfallensbekundungen der Anwesenden und kritischen Zwischenrufen selbst einiger seiner Stellvertreter begleitet. [15] „Alle Anwesenden, bis auf wenige Ausnahmen", so der Bericht eines Konfidenten an das MfS, „waren mit den Darlegungen nicht einverstanden, da er ca. eine dreiviertel Stunde solche Informationen brachte, wie sie bereits in den Nachrichten am 8. 11. 1989 veröffentlicht wurden. Die Anwesenden haben daraufhin ihre Aufzeichnungsbücher geschlossen und die Schreibgeräte weggelegt, da die Meinung vertreten wurde, derartige allgemeine Informationen brauchte man nicht aufzuschreiben." Keßler habe sich grundsätzlich gegen eine Parteikonferenz bzw. einen Sonderparteitag ausgesprochen, woraufhin Generalleutnant Süß und andere den Minister gebeten hätten, „auf der ZK-Tagung die einstimmige Auffassung zum Ausdruck zu bringen, daß eine Parteikonferenz notwendig ist. Er wurde aufgefordert, die Meinung der Anwesenden dort darzulegen und nicht seine Meinung. Er will sich dieses überlegen." [16] Die SED-Grundorganisation seines eigenen Führungsbereiches ging am Vormittag noch einen Schritt weiter: Sie befürwortete einen außerordentlichen Parteitag und übermittelte Keßler diese Forderung schriftlich ins Zentralkomitee. [17] Beides waren für disziplinierte Militärs ungewöhnliche Vorgänge, die zeigten, daß es im Ministerium und in der Armee gärte.

So sicher die Einsatzfähigkeit der NVA gegeben war, so einschneidend war ihre Geschlossenheit und damit auch ihre Kampfkraft bereits beeinträchtigt. Aus den Berichten der MfS-Abwehr in der NVA war der engsten militärischen Führung bekannt, daß die „Wende" den politisch-moralischen Zustand der Angehörigen der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppen in vielfacher Hinsicht erschüttert hatte. [18] Keßler, dem erzkonservativen, kryptokommunistischen Freundeskreis um Honecker zugehörig, hatte sich als ein unverrückbarer Fels in der Wende-Brandung erwiesen. Voller Mißtrauen in die Zuverlässigkeit der gesamten Armee, hatte er am 14. September 1989 über alle Angehörigen der NVA und Grenztruppen einschließlich der Generäle, Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten der Zivilverteidigung ein totales Reiseverbot nach Ungarn und durch Ungarn verhängt. [19] Beim Sturz Honeckers betrachteten es die Verschwörer als glückliche Fügung, daß sich sein Verbündeter Keßler mit einer Militärdelegation zu einem Freundschaftsbesuch in Nikaragua aufhielt. Seine persönliche und politische Loyalität zu Honecker und sein gefestigtes Feindbild wie die daraus resultierende Generallinie waren zu tief eingegraben, um schnell gewendet oder erneuert werden zu können. Unmittelbar nach seiner Rückkehr warnte er nach der Ablösung Honeckers im Zentralkomitee vor dem NATO-Programm der „friedlichen Auslöschung des Sozialismus" und rief zur Wachsamkeit gegenüber den Plänen des Klassengegners auf. [20] Tags darauf wehrte er sich im Ministerrat dagegen, alles, was sich bewährt habe, über Bord zu werfen. Für Keßler war klar, daß die Krise nur zum geringsten Teil hausgemacht war, sondern statt dessen der imperialistische Klassenfeind zum letzten Gefecht blies: „Die Bourgeoisie, der Imperialismus, will den Sozialismus weghaben", rückte er selbstkritische Bemerkungen von Schürer zurecht, der die Ursache der Krise auch in politischen Fehlern der SED suchte. [21] Nach Keßlers Auffassung war deshalb vor allem Standhaftigkeit gefragt: „Das setzt voraus, daß wir die ständige Entlarvung der Feinde des Sozialismus brauchen und darstellen müssen, was er in Wirklichkeit will." [22]

Weil sich die militärische Führung aus Furcht vor einer „Konterrevolution" der Politik der „Wende" und „Erneuerung" verweigerte, geriet sie unter den politischen Druck der Berufsoffiziere. Sie warfen dem Ministerium in Strausberg mangelnde Führungs- und Leitungstätigkeit vor; vom Ministerium gingen, so die vorherrschende Meinung, „keine orientierenden oder die Moral stärkenden Impulse" aus. [23] Keßler und Horst Brünner, dem Chef der Politischen Hauptverwaltung, wurden intern Passivität, Unvermögen und Konzeptionslosigkeit vorgeworfen, ja selbst die Ablösung des Ministers gefordert und seine Wiederwahl in das Politbüro am 8. November scharf kritisiert: „Seine Wahl zum Mitglied des Politbüros wird von der Mehrheit der Berufskader mit der Begründung abgelehnt, er habe in den zurückliegenden vier Wochen keine Aktivitäten im Sinne der Wende unternommen." [24]

Seit August 1989 nahmen Fahnenfluchten von NVA-Soldaten dramatisch zu. Hinter vorgehaltener Hand wurde in Strausberg frühzeitig Kritik an den als ungerechtfertigt betrachteten Privilegien leitender Militärs und Forderungen nach ihrem Abbau laut. [25] In den Kasernen kritisierten Offiziere und Soldaten, wie die Stimmungsberichte des MfS belegen, von Beginn an die Beteiligung der NVA an Einsätzen im Innern. [26] In Zusammenhang mit der Bildung der NVA-Hundertschaften gegen Demonstrationen kam es zu einer Reihe von Befehlsverweigerungen. [27] Bei nicht wenigen Armeeangehörigen, so die Stasi-Berichte, riefe die Serie von Anzeigen gegen Übergriffe von Volkspolizisten Verunsicherung hervor, wie sie sich unter diesen neuen Bedingungen bei Einsätzen gegenüber Demonstranten verhalten sollten. Bei anderen wüchsen die Vorbehalte, „weil sie gegen Personen eingesetzt werden könnten, deren Forderungen den eigenen Wünschen nahekommen". [28] Denn in „beachtlichem Maße", konstatierten die Geheimdienstler vier Tage später, habe das Neue Forum „auch in den Streitkräften Wirkung erreicht. Es verstärken sich die Auffassungen, diese Gruppierung als gesellschaftliche Kraft anzuerkennen und zuzulassen." [29] Die Fragen nach den gesetzlichen Grundlagen für die innere Funktion der NVA wurden lauter, und die Bereitschaft zur „speziellen Aufgabenerfüllung" gegen Demonstranten nahm auch unter Vorgesetzten in dem Maße ab, wie die SED-Spitze selbst die Priorität des politischen Dialogs betonte und die nicht angemeldeten Demonstrationen stillschweigend hinnahm. Seit Anfang November erklärten immer mehr Soldaten offen, daß sie nicht gegen Demonstranten kämpfen würden. Statt dessen wurde unter Berufung auf Art. 7 der DDR-Verfassung, der den Einsatz der Nationalen Volksarmee auf Angriffe von außen beschränkte, die Rehabilitierung von Soldaten gefordert, die sich geweigert hatten, an möglichen Einsätzen gegen Demonstrationen teilzunehmen. „Wenn Sie Ihre Politik und Haltung nicht ändern", gab ein Lagebericht des MfS die Äußerungen eines Hauptmannes gegenüber seinem Regimentskommandeur als charakteristische Stimmung in der Truppe wieder, „müssen Sie eines Tages (...) melden, daß Sie nur noch mit drei Offizieren die letzten Armeeangehörigen im Objekt und die anderen schon über den Zaun abgehauen sind." [30]

Insbesondere die Grenzsoldaten sahen in ihrem Dienst immer weniger Sinn. Mit dem Widerspruch, daß der „antifaschistische Schutzwall" der Propaganda zufolge der Sicherheit vor dem westlichen imperialistischen Klassenfeind dienen sollte, der tägliche Dienst an der Grenze wie das Grenzregime insgesamt aber darauf ausgerichtet war, die Flucht von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik zu verhindern, hatten die meisten zu leben gelernt. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß der Flüchtlingsstrom eines Tages die Richtung ändern würde. Seit September litt jedoch die Motivation der Grenzer unter der widersprüchlichen Politik der Partei- und Armeeführung wie nie zuvor: Während sie nach wie vor dazu vergattert wurden, an der deutsch-deutschen Grenze Fluchtversuche zu vereiteln und im Extremfall auf Menschen zu schießen, konnten zur gleichen Zeit Zehntausende über die ungarische oder tschechoslowakische Grenze risikolos und ungehindert ausreisen. Die Diskussionen über notwendige Veränderungen des Grenzregimes nahmen in den Regimentern zu, und mit ihnen die Unzufriedenheit, daß die Führung zu diesen Problemen schwieg. [31]

Daß schließlich die Armeeangehörigen auch im Entwurf des Reisegesetzes vom 6. November 1989 als angebliche Geheimnisträger aus Gründen der nationalen Sicherheit jahrelang vom freien Reisen ausgeschlossen werden sollten, führte ebenfalls zu offenen Mißfallensäußerungen: „Aus einer Reihe von Meinungsäußerungen ist zu schlußfolgern, daß eine beachtliche Anzahl Berufskader und Zivilbeschäftigte im Falle einer Ausgrenzung aus den Reisemöglichkeiten die Fortsetzung des Dienst- bzw. Arbeitsrechtsverhältnisses und die Übernahme von Verantwortung in Frage stellen könnte." [32] An den Offiziersschulen der Landstreitkräfte und der Grenztruppen wurden Bestrebungen bekannt, mit Schüler- bzw. Soldatenräten eine wirksamere Interessenvertretung zu erreichen. [33] Unübersehbar hatte die gesellschaftliche Krise auch die Nationale Volksarmee und die Grenztruppen erfaßt.

In der Spitze des Ministeriums waren es vor allem die stellvertretenden Minister Goldbach und Grätz sowie Hauptinspekteur Süß, die die Impulse der Erneuerungspolitik aufgenommen und Veränderungen in der NVA eingeleitet sehen wollten. Wollte Keßler der Demontage seiner Autorität nicht tatenlos zusehen, konnte er deren Zwischenrufe und Mißfallensbekundungen vom Morgen des 9. November nicht auf sich beruhen lassen. Hatte ihm das Zentralkomitee mit seiner fast einstimmigen Wiederwahl in das Politbüro nicht einen überwältigenden Vertrauensbeweis ausgestellt? Deutete nicht alles darauf hin, daß er sein Amt als Verteidigungsminister auch in der Regierung Modrow behalten würde? Was nahmen sich seine Stellvertreter ihm gegenüber eigentlich heraus?

Keßler eröffnete die abendliche Kollegiums-Sitzung, an der der Vertreter der Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte nicht teilnahm [34], mit einem Angriff auf seine Kritiker: Das Verhalten von Goldbach, Süß und Grätz am Morgen sei deplaziert gewesen; er erwarte von seinen Stellvertretern, daß sie sich überlegten, wo sie was sagten. Diese Rüge, so Manfred Grätz, sei von den Betroffenen zunächst kommentarlos entgegengenommen worden und der Minister alsdann zur Tagesordnung übergegangen. [35] Ohne den Reisebeschluß auch nur zu erwähnen, referierte Keßler den Ablauf der ZK-Tagung, über den sich ohnehin alle am nächsten Tag in der Zeitung hätten informieren können. [36] Mitten in die Sitzung hinein platzte ein Anruf des Stabschefs der Grenztruppen. Er werde nicht mehr Herr der Lage, vernahm der Sekretär des Kollegiums die aufgeregte Stimme Teichmanns, weshalb er dringend den Chef der Grenztruppen zu sprechen wünsche. Der Stabschef meldete Baumgarten dann, „daß ein Ansturm auf die Grenze eingesetzt habe und daß es angeblich einen Regierungsbeschluß über die Öffnung der Grenzübergänge gebe, von dem er aber nichts wisse. Er bat um Klärung der Sachlage und um Anweisungen." [37] Doch Baumgarten war über die Meldung sichtbar erschrocken, konnte selbst keinen Beitrag zur Klärung der Sachlage leisten und war zu einer anderen Weisung, als Geduld zu üben, nicht imstande. Dann meldete er die Informationen seines Stabchefs an Keßler weiter. Alle Teilnehmer der Kollegiums-Sitzung, so Hoffmann seemännisch kühl, zeigten sich überrascht". [38] Keßler beauftragte Streletz, den Staatssicherheits-Minister anzurufen, um nähere Auskünfte einzuholen, doch Mielke war telefonisch nicht erreichbar.

Währenddessen erhitzte sich die Debatte im Kollegium, allerdings nicht wegen des Reisebeschlusses und der Lage an der Grenze, sondern wegen der Ausführungen des Ministers, die Widerspruch hervorriefen. „Mehrere Kollegiums-Mitglieder, dazu gehörten Grätz, Süß, Goldbach, Hoffmann, Stechbarth und andere, brachten ihren Unwillen zum Ausdruck und sagten, daß es doch jetzt nicht an der Zeit sei, sich in langatmigen Erklärungen und Wiederholungen zu Dingen zu verlieren, die man in der Presse nachlesen kann, sondern daß es vielmehr an der Zeit sei, zu Aktionen überzugehen und die Lage in der NVA zu analysieren, Aufgaben zu formulieren und die NVA zu orientieren, mit anderen Worten: die Sprachlosigkeit zu beenden. Die Männer in der Truppe verlangten Antworten auf die Fragen: Wie soll was passieren? Wer ist wofür verantwortlich? Wer darf was, wer darf was nicht?" [39] So kam es, daß der Fall der Mauer von der Spitze der NVA überhaupt nicht richtig zur Kenntnis genommen, geschweige denn Gegenstand der Beratung geworden ist. „Es ging doch immer noch darum", sagt Horst Stechbarth, „sich Klarheit über die Lage zu schaffen. Wie sollten wir da was beraten?" [40]

Streletz war es zwischendurch zwar gelungen, Mielkes Stellvertreter Neiber zu sprechen, doch zu einer Klärung der Lage führte das Gespräch nicht, da auch Neiber Mielke noch nicht erreicht hatte: „Er (Neiber – d. Vf.) teilte mir mit, daß er bestrebt sei, mit seinem Minister Verbindung aufzunehmen, da Schabowski bei der Pressekonferenz irgendwelchen Mist verzapft habe und jetzt eine Entscheidung herbeigeführt werden müsse. Von uns wußte immer noch keiner, was Schabowski bei der abendlichen Pressekonferenz veröffentlicht hatte." [41] Auch eine telefonische Rücksprache mit dem Chef des Stabes des Ministeriums des Innern, Generaloberst Wagner, brachte Streletz keine neuen Anhaltspunkte.

Während sich Streletz vergeblich um exakte Informationen über die Entscheidungslage in der Führung bemühte, gingen aus dem Kommando der Grenztruppen Meldungen über das Anwachsen der Menschenmassen an den einzelnen Grenzübergängen ein. Ohne ihm eine konkrete Weisung mit auf den Weg zu geben, befahl Keßler dem Chef der Grenztruppen etwa um 23.00 Uhr, sich nach Pätz in seine Gefechtsstelle in Marsch zu setzen, persönlich die Führung der Grenztruppen zu übernehmen und ihn laufend über die Lage an der Grenze zu informieren. Als Baumgarten gegen 24.00 Uhr in seiner Führungsstelle eingetroffen war, hatte sich eine Weisung des Verteidigungsministers erübrigt. Baumgarten konnte dem Chef des Hauptstabes nur noch die Meldung nach Strausberg übermitteln, daß in der Zwischenzeit „einige Grenzübergangsstellen auf Entscheidung der vor Ort eingesetzten Kräfte bereits die Schlagbäume geöffnet hatten". [42] Kurze Zeit danach, so Streletz, habe er von Baumgarten die Information erhalten, „es gebe eine Weisung auf der Linie des MfS, die GÜST für die Bürger der DDR zu öffnen". [43]

Die dieser MfS-Weisung zugrunde liegende politische Entscheidung, so meint Streletz, sei Keßler bereits kurz nach der Abfahrt Baumgartens aus Strausberg von Krenz telefonisch übermittelt worden: „Kurz nach 23.00 Uhr wurde Minister Keßler an das Telefon gerufen. Der Vorsitzende des Nationalen Verteidigungsrates, Egon Krenz, informierte ihn darüber, daß er sich mit Minister Mielke beraten habe und der Minister für Staatssicherheit von ihm den Befehl erhalten habe, die Grenzübergangsstellen in Berlin zu öffnen. Gleichzeitig bat Egon Krenz den Verteidigungsminister, alles zu unternehmen, daß es zu keiner Eskalation der Ereignisse komme." [44] Soweit es die Uhrzeit dieses Telefonats betrifft, hat sich Streletz geirrt. Der Sekretär des Kollegiums, der direkt hinter Keßler am Durchgang zu den Telefonen saß, schließt ein Gespräch zwischen Krenz und Keßler definitiv aus. Weder Hoffmann noch Goldbach, Stechbarth oder Grätz können sich daran erinnern, daß Keßler während der Kollegiums-Sitzung überhaupt das Beratungszimmer verließ, um einen Anruf entgegenzunehmen. Die Sitzung aber wurde frühestens zwischen 24.00 Uhr und 0.30 Uhr beendet.

Wenn die anderen Kollegiums-Mitglieder das Telefonat mit Krenz nicht mitbekamen, so korrigiert sich Streletz, habe es nach Abschluß der Sitzung in Keßlers Arbeitszimmer stattgefunden, in dem er sich mit Brünner und dem Minister noch kurz beraten habe. [45] Was aber war der Inhalt dieses Telefonats? Was sollte es bedeuten, wenn Krenz, wie er Keßler mitgeteilt haben soll, Mielke den Befehl gegeben hatte, „die Grenzübergangsstellen in Berlin zu öffnen"? „Geöffnet" waren sie in aller Regel immer, zumindest zu den Abfertigungszeiten. Auch Krenz selbst hat sich bezüglich des konkreten Inhalts des „Befehls", den er Mielke erteilt haben will, stets vage ausgedrückt. Mal will er mit Mielke besprochen haben, „daß die Schlagbäume geöffnet werden sollten, auf einen Tag früher oder später käme es nun auch nicht mehr an"; [46] mal sollen beide entschieden haben, „die für den 10. November beschlossene Grenzöffnung um einige Stunden vorzuziehen". [47] Kein Mitarbeiter der Paßkontrolleinheit auch nur einer einzigen Berliner Grenzübergangsstelle hat jedoch den Empfang eines entsprechenden Befehls bestätigt, der zudem, wäre er denn erteilt worden, auch in den Lagefilmen der Linie VI des MfS schriftlichen Niederschlag gefunden haben müßte.

Das einzige Dokument, das eine „zentrale Weisung" des Generalsekretärs erwähnt, ist eine am frühen Morgen des 10. November von der HA VI zusammengestellte Information zur Lageentwicklung an den Berliner Grenzübergangsstellen. Darin heißt es: „Als aufgrund der unüberschaubaren Menschenmengen vor einigen Grenzübergangsstellen und nach dem Eindringen zahlreicher Personen in die Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße abzusehen war, daß die Situation nicht länger zu beherrschen sein werde, wurde etwa gegen 23.30 Uhr auf zentrale Weisung mit der Abfertigung der Personen zur Grenzpassage nach Westberlin begonnen." [48]

Die „zentrale Weisung" – in der Sprache der SED ein feststehender Begriff für Entscheidungen des Generalsekretärs – beinhaltete demnach nicht den Befehl, „die Grenzübergangsstellen zu öffnen", wie Krenz behauptet. Sie hing vielmehr noch der Fiktion an, mit einer geordneten, kontrollierten „Abfertigung" zu einem Zeitpunkt beginnen zu können, zu dem die Paßkontrolleure an einigen Grenzübergängen schon gezwungen worden waren, die Kontrollen einzuschränken bzw. ganz einzustellen. Worauf sich Krenz tatsächlich mit Mielke verständigt und was dieser seinem Stellvertreter Neiber als „zentrale Weisung" übermittelt haben könnte, geht aus einem Fernschreiben der HA VI (Paßkontrolle) des MfS hervor, das um 23.05 Uhr an die Leiter der MfS-Bezirksverwaltungen und die Leiter der Abteilungen VI in den neun Grenz-Bezirken der DDR versandt wurde. Die Leiter bzw. Operativ-Diensthabenden der PKE der Berliner Übergänge wurden über den Inhalt des Fernschreibens offenbar telefonisch instruiert. [49] Es enthält die Bedingungen, zu denen die Paßkontrolleure mit der „Abfertigung der Personen zur Grenzpassage" auch nach West-Berlin beginnen sollten:

„Zur Durchsetzung dieser Maßnahmen (der Reiseregelung des Ministerrates – d. Vf.) an den Grenzübergangsstellen zur BRD und Berlin (West) sind von den Paßkontrolleinheiten unverzüglich folgende Aufgaben zu lösen:
  1. Die Personalausweise der betreffenden Bürger sind mit einem Ausreisevermerk/Visum der VPKÄ versehen. Diese berechtigen nach entsprechender Identitätskontrolle zur ständigen Ausreise. Neben dem Lichtbild im Personalausweis – rechts – ist ein Paßkontrollstempelabdruck anzubringen, der zugleich als Entwertungsvermerk gilt.
  2. Der Personalausweis ist den Bürgern zu belassen. (Sic!)
  3. Eine zahlenmäßige Erfassung ist zu gewährleisten und zwar differenziert nach Erwachsenen, Kindern und PKW. Bis auf Widerruf sind die Meldungen darüber ab 10. 11. 89, 6.00 Uhr, im 2-Stundenrhythmus an das OLZ (Operatives Leit-Zentrum, d. Vf.) der HA VI abzusetzen. Fiedler Generalmajor." [50]
Nach der zu diesem Zeitpunkt an der Grenzübergangsstelle Bornholmer Straße schon gescheiterten Ventillösung hätten sich Krenz und Mielke bzw. Mielke und Neiber demnach auch im weiteren Verlauf des Abends lediglich auf eine Verfahrensweise für Ausreisewillige, nicht aber für Besuchsreisende verständigt. Eine Ausreise wiederum sollte diesen Weisungen zufolge nur den DDR-Bürgern gestattet werden, die an den Übergängen ein Visum im Personalausweis vorzeigen konnten. Ausreisevisa wurden zu diesem Zeitpunkt in Ost-Berlin tatsächlich schon erteilt. Um „Ersuchen nach sofortiger ständiger Ausreise" bearbeiten zu können, hatte das Präsidium der Volkspolizei um 21.40 Uhr mit sofortiger Wirkung die Öffnung der Ausländermeldestelle im Haus des Reisens am Alexanderplatz angewiesen. Alle Berliner Volkspolizei Inspektionen wurden darüber unverzüglich in Kenntnis gesetzt. [51] Der Haken dabei war jedoch, daß eine Information an die Öffentlichkeit unterblieb, so daß kaum jemand davon wußte und deshalb Bürger mit Ausreisevisum in dieser Nacht eine absolute Ausnahmeerscheinung blieben. [52]

Ganz offensichtlich lag dem Fernschreiben und den darin enthaltenen Weisungen, soweit sie auch an die Berliner Übergänge ergingen, eine grandiose Fehleinschätzung und Verkennung der Lage zugrunde: Während fast alle Menschen, die sich an den Grenzübergangsstellen eingefunden hatten, Reiselustige aus Ost- Berlin, Potsdam und Umgebung waren, die auf die Schnelle ihre Verwandten und Freunde in West-Berlin besuchen oder auch nur den Kurfürstendamm sehen und dann wieder zurück nach Hause wollten, wurden sie von der politischen Führung und der MfS-Spitze als Massenansammlung von Ausreisewilligen wahrgenommen, die nur ein einziges Ziel verfolgten: die DDR bei erstbester Gelegenheit schnellstmöglich für immer zu verlassen.

Was sollten insbesondere die Berliner und Potsdamer Paßkontrolleinheiten mit dieser Weisung, deren Aufgaben „unverzüglich" zu lösen waren, anfangen? Die von ihren Vorgesetzten angenommene und die real existierende Lage konnten konträrer nicht sein: Kaum Ausreisewillige mit Visum, stattdessen aber Tausende von rückkehrwilligen Bürgern ohne Visum standen vor den Schlagbäumen und forderten den sofortigen Beginn eines freien Reiseverkehrs. Als die Paßkontrolleinheiten nach und nach dem Druck an den Übergängen nachgaben und mit der visafreien „Abfertigung" begannen, befolgten sie anfangs gleichwohl zumeist den Teil des Befehls, den sie überhaupt umzusetzen imstande waren: Sie versahen die Personalausweise der Reisenden mit einem Paßkontrollstempelabdruck und machten sie dadurch ungültig.

Was sich Krenz selbst als Befehl zur „Öffnung der Grenzübergangsstellen" zuschreibt, wäre tatsächlich die größte Ausbürgerungsaktion in der Geschichte der DDR geworden, wenn dieses Verfahren konsequent hätte durchgehalten werden können. [53] Sie fand im Ergebnis nur deshalb nicht statt, weil die Paßkontrolleure aufgrund des Massenandrangs vollends den Überblick und die Kontrolle an den Übergängen verloren und fast überall früher oder später das Stempeln der Personalausweise einstellen mußten – wofür sie sich um 4.00 Uhr am frühen Morgen des 10. November in ihrer ersten Meldung an das Operative Leit-Zentrum in der Regel bei ihren Vorgesetzten entschuldigten. [54] Im Unterschied zu ihren Vorgesetzten hatten sie sich zugleich noch soviel Realitätssinn bewahrt, daß sie die Situation erfaßten und den Besuchsreisenden die Rückkehr nach Ost-Berlin bzw. in das Berliner Umland auch dann nicht verwehrten, wenn deren Ausweise kurz zuvor ungültig gestempelt worden waren.

Den meisten Mitgliedern des Kollegiums des Ministeriums für Nationale Verteidigung blieb die Tragweite der Entwicklung an der Grenze während der Sitzung verborgen. Trotz der Telefonate von Streletz und Baumgarten und den sich kreuzenden Informationen aus dem MfS und den Grenztruppen, „die zum Teil bei ihrem Eintreffen schon überholt waren" [55], kam es „nicht einmal zu einem Versuch, die Lage im Kollegium zu erörtern" [56], geschweige denn zu einer gemeinsamen Beurteilung der Lage. Die Handlungslähmung der Partei hatte sich auf die militärische Spitze übertragen. Der Einsatz von Waffengewalt, so Joachim Goldbach, „hätte ja bedeutet, daß die Armee gegen die politische Entscheidung hätte vorgehen müssen, und das wäre im Grunde genommen ein Staatsstreich gewesen. Und dazu hat es nie bei irgend jemandem auch nur den geringsten Gedanken gegeben. Die Grenzöffnung ist eine politische Entscheidung gewesen und nicht die Entscheidung der Grenztruppen oder der NVA." [57] So fiel die Mauer in der Nacht vom 9. auf den 10. November, und die Spitze des Verteidigungsministeriums ging ohne konkrete Entscheidungen zwischen 0.30 Uhr und 1.00 Uhr auseinander. Am nächsten Morgen um 7.00 Uhr sollte ein Krisenstab gebildet werden.

Bestand die Absicht, den Selbstbefreiungsakt dieser Nacht, in der Zehntausende sich ihre Reisefreiheit nahmen, noch einmal rückgängig zu machen?

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] "Das Brandenburger Tor war das Wahrzeichen der Grenztruppen schlechthin. Es war schon ein Akt der Verwirrung, die heilige Kuh der Grenztruppen so geschändet zu sehen, ich sage das jetzt einmal so, wie ich das damals empfunden habe, denn es war so." So der Oberstleutnant im Grenzkommando Mitte, Peter Ludwanowski, in der Sendung „Fünf Jahre nach dem Fall der Mauer" von Theodor Baltz u. a. (RTLNachtjournal Spezial, 6. 11. 1994). [2] Schreiben der Grundorganisation der SED des GR-36 an Gen. Krenz, 10. 11. 1989 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 35). [3] Ebd., Bl. 36. [4] Fritz Streletz, Jg. 1926. Erlernter Beruf: Offizier. Seit 1979 Generaloberst. 1971 – 1989 als Nachfolger Honeckers Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates, 1979 – 1989 Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung und Chef des Hauptstabes. 1981 – 1989 Mitglied des ZK der SED. [5] Horst Brünner, Jg. 1929. Erlernter Beruf: Industriekaufmann. Seit 1976 Generalleutnant, seit 1985 Nachfolger von Keßler in der Funktion des Stellvertreters des Ministers für Nationale Verteidigung und Chefs der Politischen Hauptverwaltung der NVA. Seit 1976 Kandidat und seit 1986 Mitglied des ZK der SED. [6] Wolfgang Reinhold, Jg. 1923. Erlernter Beruf: Verkäufer. Generaloberst, seit 1972 Stellvertreter des Ministers und Chef der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung (LSK / LV) und seit 1981 Kandidat des ZK der SED. [7] Horst Stechbarth, Jg. 1925. Erlernter Beruf: Landwirt. Seit 1976 Generaloberst, seit 1972 Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung und Chef der Landstreitkräfte der NVA. Seit 1976 Kandidat, seit 1978 Mitglied des ZK der SED. [8] Klaus-Dieter Baumgarten, Jg. 1931. Erlernter Beruf: Zimmermann. Seit 1979 Generalleutnant. Seit 1979 Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung und Chef der Grenztruppen. Seit 1981 Kandidat des ZK der SED. [9] Der siebte General der NVA im ZK war Generalmajor Manfred Volland, stellvertretender Chef der Politischen Hauptverwaltung (PHV) der NVA. [10] Fritz Streletz, in: Hertle 1995c, S. 909. [11] Klaus-Dieter Baumgarten, in: Hertle 1995c, S. 909. [12] Gespräch d. Vf. mit Werner Melzer, 21. 8. 1995. – Melzer war Leiter des Sekretariats des Ministers und Sekretär des Kollegiums des MfNV. Daß die Ministerrats-Beschlußvorlage am 9. 11. nicht bei ihm ankam, kann Melzer zufolge einen einfachen Grund gehabt haben: Um zusätzliche Kuriere des ZKD nach Strausberg einzusparen, hatte das MfNV eigene Kuriere, die das Zentralkomitee und den Ministerrat morgens gegen 8.00 Uhr und nachmittags zwischen 13.30 Uhr und 14.30 Uhr anfuhren. Wenn die Umlaufvorlage zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Kurierpost für das MfNV lag, blieb sie bis zum nächsten Tag liegen. In der Praxis sei es immer mal wieder passiert, „daß wir etwas nicht erhielten. Dann hieß es: 'Ja, eure Leute waren schon weg!'" (Ebd.) [13] Mitteilung von Prof. Dr. Lothar Krumbiegel an den Vf., 30. 8. 1995. [14] Hoffmann 1993, S. 26. [15] Gespräch d. Vf. mit Manfred Grätz, 21. 8. 1995. [16] Hauptabteilung I / Abteilung MfNV / Unterabteilung RD, Information, Strausberg, 9. 11. 1989 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 874, Bl. 116). Grundlage der Information war ein Bericht des IME „Eckhard Bode". [17] Gespräch d. Vf. mit Joachim Schunke, 4. 8. 1995. [18] Generalleutnant Dietze, der Leiter der HA I des MfS, stellte die in seinem Bereich erarbeiteten Informationen über Stimmungen und Meinungen in der NVA und den Grenztruppen in der Regel neben Neiber auch Keßler, Streletz und Brünner zur Verfügung (vgl. die Berichte der HA I, in: BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181). – Auf einer Sitzung des Sekretariats der Politischen Hauptverwaltung der NVA am 31.10.1989 hieß es, daß „die Bereitschaft der Streitkräfte zum Kampf für den Sozialismus (...) jederzeit gesichert (ist); die Situation in der Gesellschaft schlägt aber immer stärker auch bei uns durch" (BArch / P, MZA, P-2673, S. 3). [19] Vgl. das Schreiben von Keßler an den Chef 2000, 14. 9. 1989 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 191). – Von dem Reiseverbot ausgenommen waren lediglich Dienstreisen. [20] Vgl. Stenografische Niederschrift der 9. Tagung des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (unkorrigiert), Mittwoch, 18. 10. 1989, S. 50 ff. (SAPMO-BArch, ZPA-SED, IV 2 / 1 / 701, Bl. 56 ff.). [21] Vgl. die Redebeiträge von Schürer und Keßler, in: Protokoll der 112. Sitzung des Ministerrates am 19. 10. 1989 (BArch / P, C-20 I / 3 2861). [22] Redebeitrag von Heinz Keßler, in: Protokoll der 112. Sitzung des Ministerrates am 19. 10. 1989 (BArch / P C-20 I / 3-2861, Bl. 61). [23] Vgl. Hauptabteilung I / AKG, Information über das Stimmungs- und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und GT / DDR, Berlin, 10. 11. 1989, S. 2 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 42). [24] Ebd. [25] „In den Bereichen des MfNV spitzen sich Stimmungen über Privilegien und Verhaltensweisen leitender Kader zu. Unter anderem wird über die Notwendigkeit von Dienstreisen der Genossen Keßler, Brünner und Streletz nach Nikaragua, Kuba, Österreich und Korea diskutiert. Aus dem Programm und der Tatsache, daß Familienangehörige der o. g. Genossen mitreisen, wird geschlußfolgert, es seien weniger Dienst- als vielmehr Touristenreisen" (HA I / AKG, Information über das Stimmungs- und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und der GT / DDR, Berlin, 21. 10. 1989, S. 3, in: BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 102). – Schon bald waren die Benutzung von Sonderläden und Gästehäusern, die Inanspruchnahme von PKW-Sonderkontingenten, Auslandsreisen und der Einsatz von NVA-Mitteln und -Soldaten für private Zwecke Bestandteil der Kritik an den Privilegien der Führungskader. [26] Vgl. HA I / AKG, Information über das Stimmungs- und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und GT / DDR, Berlin, 8. 10. 1989, S. 3 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 125). [27] Vgl. HA I, Information über Befehlsverweigerungen in der NVA und den Grenztruppen der DDR, Berlin, 19. 10. 1989 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 190). Siehe auch: Abschlußbericht-NVA 1990; Hoffmann 1993; Weber 1993. [28] Vgl. Hauptabteilung I / AKG, Information über das Stimmungs- und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und GT / DDR, Berlin, 23. 10. 1989, S. 3 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 96). [29] Vgl. Hauptabteilung I / AKG, Information über das Stimmungs- und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und GT / DDR, Berlin, 27. 10. 1989, S. 3 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 87). [30] Vgl. Hauptabteilung I / AKG, Information über das Stimmungs- und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und GT / DDR, Berlin, 10. 11. 1989, S. 2 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 42). [31] Vgl. Hauptabteilung I / AKG, Information über das Stimmungs- und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und GT / DDR, Berlin, 4. 11. 1989, S. 4 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 65). [32] Vgl. Hauptabteilung I / AKG, Information über das Stimmungs- und Meinungsbild der Angehörigen und Zivilbeschäftigten der NVA und GT / DDR, Berlin, 8. 11. 1989, S. 5 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 54). [33] Vgl. Hauptabteilung I / AKG, Information über das Stimmungs- und Meinungsbild in der NVA und den Grenztruppen der DDR, Berlin, 3. November 1989, S. 4 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 181, Bl. 71). Diskussionen in der Truppe über die Bildung von Soldatenräten als Interessenvertretung der Armeejugend waren schon am 31. 10. 1989 Gegenstand einer Erörterung des Sekretariats der Politischen Hauptverwaltung (vgl. BArch / P, MZA, Strausberg AZN P-2673, Bl. 12). [34] Weil es um ein rein parteibezogenes Thema gegangen sei, sei General Schuraljow, der Vertreter des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte, zu dieser außerplanmäßigen Kollegiums-Sitzung nicht eingeladen worden (Gespräch d. Vf. mit Fritz Streletz, 28. 3. 1996). [35] Gespräch d. Vf. mit Manfred Grätz, 21. 8. 1995. [36] Vgl. z. B. Hoffmann 1993, S. 26. [37] Ebd., S. 27. – Die Richtigkeit dieser Darstellung bestätigen alle vom Vf. befragten Mitglieder des Kollegiums des MfNV. [38] Ebd. [39] Gespräch d. Vf. mit Manfred Grätz, 21. 8. 1995. [40] Gespräch d. Vf. mit Horst Stechbarth, 18. 7. 1994. [41] Fritz Streletz, in: Hertle 1995c, S. 910. [42] Ebd. S. 911. [43] Ebd. [44] Ebd., S. 910 f. [45] Gespräch d. Vf. mit Fritz Streletz, 28. 3. 1996. [46] Krenz 1990, S. 183. [47] Krenz 1994, S. 80. – Mit seiner Darlegung, Krenz habe Mielke „eindeutig gesagt, daß die Grenzübergangsstellen zu öffnen sind", stützt Wolfgang Herger als im Arbeitszimmer von Krenz anwesender Augen und Ohrenzeuge diese Version. Er selbst, so Herger, habe den Anruf Mielkes „etwa so gegen 20.30 und 21.00 Uhr" entgegengenommen und den Hörer an Krenz weitergereicht. Skepsis ist auch hier nicht allein aufgrund der unrealistischen Zeitangabe angebracht. Die Frage ist vielmehr, was genau mit der gerade nicht „eindeutigen" Aussage, die „Grenzübergangsstellen zu öffnen", gemeint gewesen sein soll (vgl. Gespräch d. Vf. mit Wolfgang Herger, 5. 3. 1992). [48] Information über die Entwicklung der Lage an den Grenzübergangsstellen der Hauptstadt zu Westberlin sowie an den Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD, Berlin, 10. 11. 1989, S. 1 (BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 553, Bl. 30). Hervorhebung im Text v. Vf. [49] Der Rapport der PKE Friedrich- / Zimmerstraße enthält um 23.05 Uhr den Eintrag: „Beginn der Ausreiseabfertigung der DDR-Bürger nach Rücksprache mit Oberst Ziegenhorn" (HA VI / PKE Fri.-Zi.-Str, Rapport für die Zeit vom 9. 11. 89, 07.00 Uhr, bis 10. 11. 89, 07.00 Uhr, S. 2; Hervorhebung v. Vf.) [50] Fernschreiben der HA VI / Leiter an die Leiter der BV / Leiter der Abt. VI Gera, Erfurt, Suhl, Magdeburg, Schwerin, Rostock, Potsdam, Karl-Marx-Stadt und Leipzig, Dringlichkeit: Flugzeug, Berlin, 9. 11. 89, VI / Ltr. / VA / 518 / 89, CFS-Nr. 2368; Hervorhebung v. Vf. (BStU, ZA, MfS-HA VI 1735). [51] Vgl. PDVP-Rapport Nr. 230, Anlagen (Archiv POLPRÄS BLN / DEZ VB 132) [52] Um 0.30 Uhr wurde auch die Paß- und Meldestelle im Präsidium der Volkspolizei geöffnet und es wurden Ausreisevisa erteilt. [53] Daß diese Absicht zunächst bestand, belegt die bereits zitierte MfS-Information über die Entwicklung der Lage an den Grenzübergangsstellen gleich mehrfach. Darin heißt es entschuldigend: „Es war nicht an allen Grenzübergangsstellen durchgängig möglich, die Personalausweise der DDR-Bürger mit Paßkontrollstempeln zu versehen." (vgl. Anm. 48) [54] Vgl. ebd. [55] Joachim Goldbach, in: Hertle 1995c, S. 911. [56] Gespräch d. Vf. mit Manfred Grätz, 21. 8. 1995. [57] Joachim Goldbach, in: Hertle 1995c, S. 912 / 913.
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