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Hans-Hermann Hertle, 9./10. November 1989: Grenzübergang Checkpoint Charlie: Druck von Ost und West

Hans-Hermann Hertle, 9./10. November 1989: Grenzübergang Checkpoint Charlie: Druck von Ost und West

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989

Ch. Links Verlag, Berlin 1999

Checkpoint Charlie: Druck von Ost und West



Der endgültigen Öffnung aller innerstädtischen Übergänge war eine dramatische Entwicklung an dem für die Blockkonfrontation weltweit berühmtesten Schauplatz der geteilten Stadt vorausgegangen, der im Ostteil „GÜST Friedrich- /Zimmerstraße", im Westteil „Checkpoint Charlie" hieß. Hier hatten sich nach dem Mauerbau im Oktober 1961 amerikanische und sowjetische Panzer drohend und scheinbar kampfbereit gegenübergestanden, und die Todesschüsse auf Peter Fechter unweit des Übergangs stießen weltweit auf Empörung.

Im Januar 1974 hatte der Volkspolizist Burkhard Niering den ersten Posten der Paßkontrolle an der GÜST Friedrich- / Zimmerstraße als Geisel genommen. Sein Versuch, mit ihr den Kontrollpunkt zu überrennen, wurde mit tödlichen Schüssen gestoppt. [1] Nur zwei Monate später hätte um ein Haar ein amerikanischer Soldat einen Weltkonflikt ausgelöst. Am 2. März 1974 walzte er mit einem Panzer alles nieder, was ihm auf West-Berliner Seite die Zufahrt zur Kontrollstelle versperrte, drang bis zur Mauer vor – und fuhr wieder nach West-Berlin zurück. [2] Wenn es auch in den achtziger Jahren ruhiger geworden war, so besaß der Kontrollpunkt in der Friedrichstraße für alle Seiten nach wie vor die höchste Symbolkraft für die Machtverhältnisse in der geteilten Stadt.

Am Abend des 9. November 1989 erlebten die Paßkontrolleure schon kurz nach 19.00 Uhr ihre erste Überraschung. Unmittelbar nach Schabowskis Pressekonferenz versuchte der Pressesprecher der Ständigen Vertretung, Eberhard Grasshoff, die Befehlslage am Übergang zu erkunden, und fragte bei seiner Überfahrt einen ihm seit Jahren bekannten Posten, ob er bereits neue Anweisungen für den Reiseverkehr habe. Als Antwort erhielt er ein irritiertes Nein. [3]

Eine Stunde später steuerte der Pächter aus dem nur hundert Schritt entfernten Café Adler in Begleitung mehrerer Kaffeehaus-Gäste mit einem Tablett voller Sektgläser und frischgebrühtem Kaffee auf die erste Linie der DDR-Kontrolleure zu, um mit den Posten auf die Öffnung der Grenze anzustoßen. Die Posten, an dieser Frontlinie des Kalten Krieges von West-Berliner Seite eher an feindselige Handlungen und Beschimpfungen gewöhnt, wußten nicht, was ihnen warum widerfuhr. Sie verweigerten freundlich, aber bestimmt die Annahme jedweden Getränkes und schickten die „Provokateure" über den weißen Strich nach West-Berlin zurück.

Während in der Bornholmer Straße Ost-Berliner auf den Übergang drückten und auf der Westseite absolute Ruhe herrschte, schien am Checkpoint Charlie zumindest vordergründig das Feindbild zu stimmen: Die östliche Seite blieb anfangs menschenleer; statt dessen versammelten sich auf der Westseite, mithin feindwärts, rund um die amerikanische Kontrollstelle immer mehr Menschen, darunter mehrere Fernseh-Teams. Entsprechende Meldungen gab der Diensthabende der PKE an das Operative Leit-Zentrum der HA VI weiter. Um 21.33 Uhr kam von dort die Weisung, alle PKE-Mitarbeiter zu alarmieren und an der GÜST zusammenzuziehen. [4]

Der Kommandant der GÜST hatte um 17.00 Uhr Dienstschluß und war nach Hause gefahren. Gegen 21.30 Uhr unterrichtete ihn sein Diensthabender Offizier, daß sich feindwärts mehrere hundert Personen versammelt hätten, aber nun auch auf der DDR-Seite vor dem Schlagbaum die ersten Bürger stünden, die sich nach den neuen Ausreisemöglichkeiten erkundigten. Als der Kommandant gegen 22.00 Uhr am Grenzübergang eintraf und sich selbst einen Überblick über die Lage verschaffte, schlug ihm zu seiner Überraschung von West-Berliner Seite keine aggressive, sondern eine ausgesprochen freundliche und friedliche Stimmung entgegen. Auch er beorderte zunächst alle verfügbaren Kräfte seiner Sicherungskompanie heran. Zusätzlich bekam er auf Anforderung einen Zug der als Reserve in Berlin gehaltenen Offiziershochschüler zur Verstärkung. Von seiner übergeordneten Dienststelle, dem Grenzregiment-36 in Rummelsburg, erhielt er auf Anfrage lediglich die allgemeine Orientierung, Ruhe zu bewahren. Auf einen Befehl – gleich welcher Art – wartete er vergebens. [5]

Zwischen 22.00 und 23.00 Uhr spitzte sich die Lage am Grenzübergang dramatisch zu. Um 22.05 Uhr spazierten 60 bis 70 West-Berliner über die weiße Grenzlinie auf das Territorium der DDR, kamen aber dann der Aufforderung nach, sich auf das West-Berliner Gebiet zurückzubegeben. Eine halbe Stunde später waren es bereits 120 Personen, die von den Sicherungskräften der Grenztruppen auf die Westberliner Seite zurückgedrängt wurden. [6] Danach ließ der Kommandant seine Grenzer eine Sperrkette bilden, die fünf bis sechs Meter hinter der Grenzmarkierung, aber noch vor der Mauer stand. Ihre Maschinenpistolen hatten die Soldaten zuvor in der Waffenkammer deponiert. Noch immer wurde der grenzüberschreitende Verkehr regulär abgewickelt, doch die Spannung wuchs: „Die Situation an der Grenzübergangsstelle spitzt sich zu", notierte der Diensthabende Offizier der PKE um 22.45 Uhr in seinem Rapport. „Im Vorfeld der Grenzübergangsstelle, bis unmittelbar zur Postensteinmauer, circa 3000 Bürger aus Westberlin. Im Hinterland der Grenzübergangsstelle mehrere 100 DDR-Bürger zu Fuß und Kfz." [7] Verzweifelte Anrufe des GÜST-Kommandanten bei seinen Vorgesetzten folgten. Seine Meldungen wurden ordnungsgemäß bis hinauf ins Kommando der Grenztruppen weitergegeben und „als Verletzung der Staatsgrenze der DDR vom Hoheitsgebiet Berlin (West)" registriert. [8] Als Maßnahme erfolgte von dort die Unterrichtung der für die Grenztruppen zuständigen Hauptabteilung I des MfS. Befehle oder Weisungen nach unten aber blieben weiterhin aus. Als der Druck von West-Berliner Seite auf die Sperrkette der Grenzsoldaten zunahm, ließ der Kommandant die GÜST schließen und alle Tore hinten und vorn, freundwärts wie feindwärts, verriegeln. Der Grenzverkehr kam zum Erliegen. In dem Bereitschaftsraum, in den sich die Grenzsoldaten zurückgezogen hatten, hörten sie vorn die West-Berliner rufen: „Laßt uns rein!" Und hinten forderten die Ost-Berliner unüberhörbar: „Laßt uns raus!" [9]

Im Operativen Leit-Zentrum der HA VI riefen die laufenden Meldungen der PKE Friedrich- / Zimmerstraße offenbar allergrößte Besorgnis hervor. Störungen und Zwischenfälle an diesem Übergang konnten sich unversehens zu einem ernsten, internationalen Konflikt ausweiten. Neben Diplomaten, ausländischen Dienstreisenden und Touristen wurden dort vor allem die Militärinspektionen der drei West-Alliierten abgefertigt. Deren Militärfahrzeuge galten für die DDR-Sicherheitsorgane im gesamten Ost-Berliner Stadtgebiet als exterritoriale, unantastbare Zonen – und mehrere Fahrzeuge waren an diesem Abend noch auf Inspektionsreise in Ost-Berlin unterwegs. Nicht auszudenken war, was passieren konnte, wenn ihre Rückfahrt nach West-Berlin blockiert war und sowjetische Militärs herangeholt werden mußten.

Mit der Schließung der Rollgittertore gegen 23.00 Uhr hatte der Kommandant der GÜST sein defensives Handlungsrepertoire ausgereizt. Die Sprechchöre der Ost- und West-Berliner wurden lauter und fordernder. Handelte er nicht, lief er Gefahr, daß der Übergang von beiden Seiten gestürmt würde. Was dann passieren würde, war nicht vorauszusehen. Gegen Mitternacht gab der Kommandant nach seinen Aussagen ohne weitere Absprache mit den Paßkontrolleuren dem Druck nach und ließ alle Tore öffnen. [10] Bei den Paßkontrolleuren des MfS löste sein Schritt „totale Konfusion" aus, wie ein Augenzeuge beobachtete: „Die einen verlangten ein Visum im Paß, das angeblich erst am nächsten Tag ausgestellt werden sollte, andere Uniformierte wollten gleich mit einem Stempel den Übergang in den Westen legitimieren. Schließlich beendete ein Hauptmann die Diskussion und stoppte die Ratlosigkeit. Sein entscheidender Wink: 'Laßt sie doch einfach rüber!' Und zur Menge: 'Kommt aber alle wieder zurück!'" [11]

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] Zum Fall Niering vgl. Filmer / Schwan 1991, S. 139. [2] Vgl. die Foto-Dokumentation dieser Aktion im Berliner Mauer-Archiv (Hagen Koch). [3] Gespräch d. Vf. mit Eberhard Grasshoff, 13. 4. 1994. [4] Die PKE Friedrich- / Zimmerstraße hatte insgesamt 87 Planstellen. Vgl. BStU 1995, S. 239. [5] Vgl. das Gespräch von Volker Koop mit dem Grenztruppen-Kommandanten der GÜST Friedrich-/Zimmerstraße (PArch Koop). [6] Im „Rapport Grenzsicherung" des Stabes der BVfS Berlin kam die Lage zu dieser Zeit folgendermaßen an: „Um 22.38 Uhr wurde bekannt, daß ca. 200 Personen im Vorfeld der GÜST Friedrichstraße/Zimmerstraße die Fahrbahnen zur GÜST blockieren. Die Personen stehen am Grenzstrich." Der ODH der BVfS veranlaßte die Verständigung des Chefdienstes (BStU, ASt. Berlin, A 2323 / 2324, Bl. 39). [7] Hauptabteilung VI / PKE Fri.-Zi.-Str., Rapport für die Zeit vom 9. 11. 89, 07.00 Uhr, bis 10. 11. 89, 07.00 Uhr, Berlin, 9. 11. 1989. [8] Grenztruppen der Deutschen Demokratischen Republik /Kommando der Grenztruppen /Operativ Diensthabender, Tagesmeldung Nr. 313 / 89 für die Zeit vom 08. 11. 1989, 18.00 Uhr, bis 09. 11. 1989, 18.00 Uhr, und Sofortmeldungen bis 10. 11. 1989, 04.00 Uhr, GVS-Nr. G / 739839, S. 4 (BArch / P, MZA, AZN 17193, Bl. 167). [9] Vgl. das Gespräch von Volker Koop mit dem Grenztruppen-Kommandanten der GÜST Friedrich- / Zimmerstraße (PArch Koop). [10] Die genaue Uhrzeit der Einstellung der Kontrollen ist aufgrund sich widersprechender schriftlicher und mündlicher Quellen schwer zu bestimmen. Der Rapport der PKE Friedrich-/Zimmerstraße enthält bereits um 23.05 Uhr den Eintrag: „Beginn der Ausreiseabfertigung der DDR-Bürger nach Rücksprache mit Oberst Ziegenhorn" (Hauptabteilung VI / PKE Fri.-Zi.-Str., Rapport für die Zeit vom 9. 11. 89, 07.00 Uhr, bis 10. 11. 89, 07.00 Uhr, Berlin, 9. 11. 1989). Ein Augenzeugenbericht gibt als Beginn des freien Reiseverkehrs 23.14 Uhr an, was den Rapport zu bestätigen scheint (vgl. Berliner Morgenpost, 11. 11. 1989). Die zentrale Information des MfS datiert die Öffnung dagegen auf 0.05 Uhr (vgl. BStU, ZA, MfS-Arbeitsbereich Neiber 553, Bl. 36). Auch der Kommandant der GÜST erinnert sich, gegen 24.00 Uhr die Weisung erteilt zu haben, die Sperrung der GÜST aufzuheben und die Tore aufzumachen (vgl. das Gespräch von Volker Koop mit dem Grenztruppen-Kommandanten der GÜST Friedrich- / Zimmerstraße (PArch Koop); vgl. auch die Recherche von Ulf Malleck in: Sächsische Zeitung, 9. 11. 1990, S. 5). [11] Heinz Horrmann, in: Die Welt, 11. 11. 1989, S. 3.
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