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Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989, 12.30 Uhr: Beschluss der geplanten Reiseverordnung durch den DDR-Ministerrat im Umlaufverfahren

Hans-Hermann Hertle, 9. November 1989, 12.30 Uhr: Beschluss der geplanten Reiseverordnung durch den DDR-Ministerrat im Umlaufverfahren

Hans-Hermann Hertle
Chronik des Mauerfalls
Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989
Ch. Links Verlag, Berlin 1999

12.30 Uhr: Ministerratsbeschluß im Umlaufverfahren



Die erforderlichen Vorarbeiten für das Beschlußverfahren waren im Apparat des Ministerrates bereits routinemäßig angelaufen. Nachdem Harry Möbis das MdI / MfS-Papier erhalten hatte, das nun die Weihe des Politbüros hatte, leitete er es an die Vorlagenabteilung weiter, in deren Zuständigkeit die technische Ausfertigung der Beschlußvorlagen des Ministerrates fiel. Der Leiter der Vorlagenabteilung schaltete die Rechtsabteilung ein. Deren Leiter wiederum, Dr. Klaus Mehnert, war bereits "eingetaktet", denn er war am Vormittag ins MdI beordert worden, nachdem die Arbeitsgruppe ihre Beratungen beendet hatte. [1]

Mehnert erhielt den fertig vorbereiteten Beschlußentwurf als Information zur Kenntnis und wurde über das beabsichtigte doppelgleisige Umlauf-Beschlußverfahren unterrichtet. Lag dem Politbüro der Beschluß gleichzeitig vor, bestand für den Ministerrat keinerlei Änderungsspielraum, da er die Politbüro-Beschlüsse stets wortgetreu übernahm und es in der Vergangenheit zumeist nicht einmal gewagt hatte, offensichtliche Schreibfehler in den Beschlüssen zu korrigieren. Mehnert war somit im Bilde und beauftragte seinen Stellvertreter Wolfgang Petter mit der Anfertigung der Umlaufvorlage, und zwar parallel sowohl für den Ministerrat als auch für das Politbüro. Petters Aufgabe bestand darin, den Titel der Vorlage und den Beschlußvorschlag für den Ministerrat zu formulieren. Neben der Vorlage las er auch den Begleitbrief von Dickel an Stoph aufmerksam durch. [2] So blieb ihm nicht verborgen, daß der Inhalt der Regelung weit über das hinausging, was Dickel Stoph im ersten Satz als "Veränderung der Situation der ständigen Ausreisen von DDR- Bürgern nach der BRD über die CSSR" angekündigt hatte. Der Regelungstext selbst nebst Überschrift war für ihn tabu, aber für den Text des Beschlußvorschlages auf dem Deckblatt der Vorlage wählte Petter eine Formulierung, die ihren Inhalt korrekt bezeichnete: "Der beiliegende Beschluß zur zeitweiligen Übergangsregelung für Reisen und ständige Ausreise aus der DDR wird bestätigt." [3]

Spätestens gegen 14.30 Uhr, schätzt Wolfgang Petter, war der Umlauf fertig und die technischen Arbeiten abgeschlossen. Über die Vorlagen-Abteilung ging das Papier zurück zum Leiter des Sekretariats des Ministerrates. Die Unterschrift von Stoph, der auf dem Deckblatt als Einreicher der Vorlage stand, wurde nicht eingeholt. Dem fertigen Ministerrats-Umlauf fügte Harry Möbis ein Anschreiben bei, in dem die Mitglieder des Ministerrates gebeten wurden, die angeheftete Beschlußvorlage "bis heute, Donnerstag, den 9. November 1989, 18.00 Uhr, im Umlaufverfahren zu bestätigen". [4]

Gemäß der Geschäftsordnung des Ministerrates und der Anordnung zum Schutz der Staatsgeheimnisse wurde die Vorlage, da es sich um eine "Vertrauliche Verschlußsache" handelte, über den Zentralen Kurierdienst für Staatsgeheimnisse (ZKDS) des Ministeriums des Innern in die Ministerien gebracht. Wollten die Minister zustimmen, brauchten sie nichts zu tun, denn im Umlaufverfahren bedeutete Schweigen Einverständnis; erfolgte kein Widerspruch, galt die Zustimmung als erteilt, wenn die Einspruchsfrist abgelaufen war. Machte jedoch nur ein Minister bis 18.00 Uhr Einwände geltend, mußten diese, bevor der Beschluß ausgefertigt werden konnte, ausgeräumt werden, denn im Umlaufverfahren herrschte das Einstimmigkeitsprinzip.

Das Problem an diesem Nachmittag war, daß 29 der 44 Minister nicht in ihren Ministerien zu erreichen waren, sondern als Mitglieder bzw. Kandidaten des ZK an dessen Beratung teilnahmen. Das traf zum Beispiel auf Dr. Herbert Weiz, den Minister für Wissenschaft und Technik, zu. Der Kurier des ZKDS gab die Umlaufvorlage gegen 15.00 Uhr im Sekretariat des Ministeriums in der Wuhlheide ab. Die Sekretärin des Ministers reichte sie an seinen persönlichen Mitarbeiter, Manfred Heinrich, weiter. Heinrich prüfte, wie bei jedem Ministerrats-Umlauf, inwieweit die Beschlußvorlage die Arbeit bzw. Verantwortung des Ministeriums betraf. Da es so gut wie unmöglich war, während einer ZK-Sitzung an den Minister heranzukommen, legte Heinrich die Vorlage dem Staatssekretär vor. Heinrich: "Es gab keine abweichende oder gegensätzliche Stellungnahme. Zu diesem Zeitpunkt war nicht bekannt und auch aus der Vorlage nicht ersichtlich, ob und wie diese Reise-Verordnung bereits im ZK-Plenum behandelt worden war. Die Vorlage wurde deshalb dem Minister auf den Schreibtisch gelegt, so daß er sie als erstes zur Kenntnis nehmen mußte, wenn er eventuell erst nach Dienstschluß noch vom ZK in sein Büro fahren mußte." [5] So wenig wie der Wissenschaftsminister und der Kulturminister wußten auch Chemieminister Günther Wyschofsky [6] und mit ihnen 25 weitere Minister, daß sie, während sie im ZK saßen, im Begriff waren, einen Ministerratsbeschluß zu fassen.

Quelle: Hans-Hermann Hertle, Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989, Ch. Links Verlag, Berlin 1999.
[1] Hierzu und zum folgenden: Gespräch d. Vf. mit Klaus Mehnert, 27. 10. 1993. [2] Hierzu und zum folgenden: Gespräch d. Vf. mit Wolfgang Petter, 5. 11. 1993. [3] BStU, ZA, MfS-RS 101, Bl. 43. [4] BStU, ZA, MfS-RS 101, Bl. 42. [5] Schriftliche Mitteilung von Manfred Heinrich an den Vf., 26. 7. 1995. [6] Gespräch d. Vf. mit Günther Wyschofsky, 14. 12. 1994. Im Ministerium für Chemie blieb die Umlauf-Vorlage auf dem Schreibtisch von Staatssekretär Quaas als amtierendem Minister liegen.
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