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Aufhebung des Schießbefehls: Niederschrift über die Rücksprache beim Minister für Nationale Verteidigung am 3. April 1989, 4. April 1989

Aufhebung des Schießbefehls: Niederschrift über die Rücksprache beim Minister für Nationale Verteidigung am 3. April 1989, 4. April 1989

GRENZTRUPPEN DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Stellvertreter des Chefs und Chef des Stabes

O.U., den 04.04,1989

Niederschrift
über die Rücksprache beim Minister für Nationale Verteidigung, i.V. Generaloberst Streletz, am 03.04.1989



An der Rücksprache nahmen teil:

(1) Stellvertreter des Ministers und Chef der Grenztruppen Generaloberst Baumgarten

(2) Stellvertreter des Chefs und Chef der Politischen Verwaltung Generalleutnant Lorenz

(3) Stellvertreter des Chefs und Chef des Stabes Generalmajor Teichmann

Unter Bezugnahme auf eine telefonische Rücksprache mit dem Mitglied des Politbüros, Genossen E. Krenz, am 02.04.1989 zur Entwicklung der Lage an der Staatsgrenze führte Generaloberst Streletz aus:
  1. Der Generalsekretär unserer Partei hat seine Unzufriedenheit über die Entwicklung der Lage an der Staatsgrenze zum Ausdruck gebracht. Obwohl in den Grenztruppen 48 000 Mann (?) zur Verfügung stehen, kommt es zu solchen schwerwiegenden Vorkommnissen - wie in den letzten Tagen - und es wird die Frage gestellt
    • Warum haben wir immer noch Fahnenfluchten zu verzeichnen?
    • Warum werden die Grenzposten nicht von 2 auf 3 Mann erhöht?
    • Warum kommen keine Pferde an der Grenze zum Einsatz, damit würde die Beweglichkeit der eingesetzten Kräfte auch mit erhöht?
    • Warum werden in den Meldungen über besondere Vorkommnisse immer wieder Vorwände deutlich, auf die wir hereinfallen (Verrichtung der Notdurft, vorgetäuschter Defekt am Fahrzeug)?
    Wichtig ist, daß die Führung des Kommandos der Grenztruppen die Ursachen dieser Vorkommnisse gründlicher als bisher auswertet und dafür Sorge trägt, daß sich so etwas nicht wiederholt.

  2. Zur Anwendung der Schußwaffe an der Staatsgrenze: Wenn der Minister für Nationale Verteidigung sagt, daß kein Schießbefehl existiert, dann darf man auch an der Staatsgrenze nicht schießen oder der Verteidigungsminister verliert an Glaubwürdigkeit.
    Es darf nicht auf fliehende Menschen geschossen werden, wenn es keinen Schießbefehl gibt.
    Es muß durchgesetzt werden, daß nur dann geschossen wird, wenn Leib und Leben der Grenzsoldaten gefährdet werden.

  3. Es sollte geprüft werden, an der Staatsgrenze mehr und tiefere Gräben, mehr und bessere Hindernisse aufzubauen, damit keiner mit Fahrzeug durchbrechen kann.
    Diese Anlagen sollten so aufgebaut werden, daß sie vom Gegner nicht einsehbar sind. Auch die Blumenkastensperren an den Grenzübergangsstellen bieten kein schönes Bild und sollten kulturvoller gestaltet werden.
Es gilt zu beachten: Lieber einen Menschen abhauen lassen, als in der jetzigen politischen Situation die Schußwaffe anzuwenden.

Der Generalsekretär hat gefordert, mit der Führung des Kommandos der Grenztruppen über diese Probleme zu sprechen.

Im weiteren führte Generaloberst Streletz aus:
  • Fakt ist, daß die Ursachen für Fahnenfluchten mit darin liegen, daß die Dienstvorschriften und Befehle nicht exakt durchgesetzt werden.

  • Versucht werden muß, über die politisch-ideologische Erziehungsarbeit diese Probleme besser in den Griff zu bekommen.

  • Auf keinen Fall darf eine Kampagne gestartet werden, daß wir nicht schießen.
    Wir müssen erreichen, daß die Posten nicht zu schießen brauchen.

  • Die Vermeidung der Anwendung der Schußwaffe und des Nichtzulassens von besonderen Vorkommnissen an der Grenze sind gegenwärtig von besonderer politischer Bedeutung im Zusammenhang mit einem bevorstehenden möglichen Besuch des französischen Präsidenten in der DDR wie aber auch mit möglichen Reaktionen sowjetischer Genossen - müßt ihr in der jetzigen Situation an eurer Grenze schießen?

  • Durch das Kommando der Grenztruppen sollten Überlegungen angestellt werden, wie bei der Auswahl für die Einberufungen zu den Grenztruppen differenziert werden kann, da das Auswahlkontingent immer geringer wird. Zur Auffüllung von Stabseinheiten, Sicherstellungskräften an den Lehreinrichtungen und auf den Übungsplätzen usw. sollte ein Teil des Auffüllungskontingents festgelegt werden, der nicht den Auswahlbedingungen der Einberufung zu den Grenztruppen entsprechen muß.
Generaloberst Streletz orientierte, daß möglicherweise Ende April dem Minister für Nationale Verteidigung zur Lageentwicklung an der Grenze gemeldet werden sollte und dabei Überlegungen darzulegen sind, wie wir die Entwicklung in den nächsten zwei Jahren einschätzen und was die Grenztruppen dazu machen könnten.

Niederschrift gefertigt:
Teichmann
Generalmajor

Quelle: BStU; MfS, HA I Nr. 5753, Bl. 2-5.
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