Material > Dokumente > 1989 > Oktober > Aufruf: Liebe Freunde und Freundinnen des Neuen Forum, 1. Oktober 1989

Aufruf: Liebe Freunde und Freundinnen des Neuen Forum, 1. Oktober 1989

Aufruf: Liebe Freunde und Freundinnen des Neuen Forum, 1. Oktober 1989

Liebe Freunde und Freundinnen des NEUEN FORUM!

Wir möchten Euch für Euer großes Interesse am NEUEN FORUM danken. Aus allen gesellschaftlichen Schichten und Berufen sind Menschen bereit, sich konsequent für Veränderungen und Reformen in unserem Land einzusetzen. Wir hoffen, daß der von uns allen gewünschte gesellschaftliche Dialog stattfinden wird. Jede/r von uns hat Wissen auf seinem Arbeitsgebiet und in seinem Lebensbereich, Mut und Änderungswillen. Deshalb glauben wir, daß es möglich ist, die anstehenden Probleme konstruktiv zu diskutieren und zu ihrer Lösung beizutragen. Nur so werden wir wieder gern in diesem Land leben.
Wir werden allerdings viel mehr Zeit, Toleranz und Geduld brauchen, als wir es aus den uns vertrauten kleinen Diskussionsgruppen Gleichgesinnter gewohnt sind, ehe in einem demokratischen Entscheidungsprozeß neue Orientierungen gefunden werden, die wir gemeinsam vertreten können.
Wir engagieren uns im NEUEN FORUM, weil wir uns Sorgen um die DDR machen - wir wollen hier bleiben und arbeiten. Wir bitten jene, die sich anders entscheiden, unsere Bemühungen nicht mit dem Ziel einer schnellen Ausreise zu mißbrauchen.
Für uns ist die „Wiedervereinigung" kein Thema, da wir von der Zweistaatlichkeit Deutschlands ausgehen und kein kapitalistisches Gesellschaftssystem anstreben. Wir wollen Veränderungen hier in der DDR.
Viele wollen von uns wissen, wie es weitergehen soll. Wir geben zu, daß wir mit diesem Ansturm von Menschen nicht gerechnet hatten. Es existieren weder Organisationsstrukturen noch hauptamtliche Mitarbeiter oder Büros. Das Reformkonzept für unser Land wollen und können wir nicht vorgeben, sondern in einem übergreifenden Diskussionsprozeß erst entwickeln. Wir brauchen das solidarische Gespräch, das die Übereinstimmung sucht, ohne unterschiedliche Meinungen unter den Tisch zu wischen.
Da inzwischen auch andere Vereinigungen im Entstehen sind, werden wir oft nach unserem Verhältnis zu ihnen gefragt. Unser Ziel ist, eine legale politische Plattform zu bilden, um den dringend notwendigen gesellschaftlichen Dialog in Gang zu setzen. Dabei soll niemand ausgegrenzt werden, ob er/sie nun SED-Mitglied ist oder einer anderen Vereinigung angehört.

Unsere weiteren Pläne:
Am 19. 9.1989 haben wir das NEUE FORUM bei den zuständigen staatlichen Stellen angemeldet. In den DDR-Zeitungen wurden wir daraufhin als „staatsfeindliche Plattform", „5. Kolonne" usw. angegriffen. Der mündliche offizielle Bescheid des MDI dagegen lautete: Keine gesellschaftliche Notwendigkeit für eine solche Vereinigung! Wir werden von unserem Recht der Beschwerde Gebrauch machen und alle rechtlichen Möglichkeiten nutzen. Das Verfassungsrecht (Art. 29) auf Bildung von Vereinigungen darf durch die „Verordnung über die Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen" nicht eingeschränkt werden. Wir wollen uns weder in die Illegalität noch ausschließlich in den kirchlichen Raum abdrängen lassen!
Als nächsten Schritt planen wir, die Lizenz für eine Zeitung zu beantragen. Bis zur Genehmigung werden wir ein Informationsblatt herausgeben, in dem über die Arbeit des „Neuen Forum" und andere politische Vorgänge berichtet wird sowie Arbeitsergebnisse und Vorschläge veröffentlicht werden. Als vorläufige Organisationsstruktur schlagen wir vor:
  1. Ebene:
    1. Organisierung im Wohngebiet über Kontaktadressen,
    2. Schaffen von regionalen Zentren,
    3. Wahl eines Sprecherrates, der sich aus Vertretern der einzelnen Regionen zusammensetzt.
  2. Ebene:
    Überregionale theoretische Arbeitsgruppen, an denen sich alle beteiligen können, die ein bestimmtes Interesse am jeweiligen Thema haben oder über wichtige Erfahrungen und Kenntnisse verfügen.
Beide Formen halten wir für wichtig. In der ersten Ebene müssen wir uns kennenlernen und sehen, wer z. B. im Wohngebiet zu uns gehört. Ergebnisse aus den Themengruppen können dann von allen diskutiert werden; sie sollen nicht alleinige Sache von Experten sein. Beginnen wir mit der Arbeit!
Wir schicken Euch Adressen, über die wir uns vorerst verständigen wollen. Bitte bestätigt dort mit einer Karte, daß Ihr diesen Brief erhalten habt.

Für das NEUE FORUM:
Reinhard Schult (bei Werdin) - Husemannstr. 3, Berlin, 1058
Reinhard Meinel - Gutenbergstr. 64, Potsdam, 1560
Dr. Christian Tietze - Strausberger Platz 1, Berlin, 1017
Matthias Büchner - Dammweg 4, Erfurt, 5020
Heidemarie Wüst - Bundschuhstr. 10, Magdeburg, 3037
Rudolf Tschäpe - Meistersingerstr. 7, Potsdam, 1570
Jutta Seidel, Dr. E. Seidel - Sophienstr. 18, Berlin, 1020
Hans-Jochen Tschiche - Breite Str. 23, Samswegen, 3211
Dr. Eva Reich, Prof. Dr. J. Reich - Kavalierstr. 10, Berlin, 1100
Bärbel Bohley - Fehrbellinerstr. 91, Berlin, 1054
Andreas Schönfelder - Am Markt 12, Großhennersdorf, 8701
Sebastian Pflugbeil - Gormannstr. 17, Berlin, 1054
Hagen Erkrath - Lettestr. 3, Berlin, 1058
Lothar Imme - Scharnweberstr. 46, Berlin, 1162
Rolf Henrich - Schlaubehammer, 1201

Berlin, den 1. Oktober 1989

Quelle: Neues Forum.
Zum Seitenanfang