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Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl im Bundestag („10-Punkte-Programm"), 28. November 1989

Rede von Bundeskanzler Helmut Kohl im Bundestag („10-Punkte-Programm“), 28. November 1989

Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas

Rede des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag



Bundeskanzler Helmut Kohl hielt in der 177. Sitzung des Deutschen Bundestages am 28. November 1989 anläßlich der zweiten Beratung des Haushaltsgesetzes 1990 (vgl. Bulletin Nr. 87 vom 6. September 1989) in der Aussprache über den Haushalt des Bundeskanzlers folgende Rede:

I.

Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren!

Schwerpunkt der heutigen Debatte ist notwendigerweise und ganz selbstverständlich die dramatische Veränderung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, nicht zuletzt und vor allem auch in der DDR.

Bevor ich mich diesem eigentlichen Thema meines Redebeitrags zuwende, ist es, glaube ich, notwendig, daß wir über einiges sprechen, was im abgelaufenen Jahr die Entwicklung unserer Bundesrepublik Deutschland im Innern ausgezeichnet hat.

Ich spreche deswegen zunächst einmal zum Thema Wirtschaftsentwicklung und auch zur Entwicklung der Reformpolitik dieser Koalition und der Bundesregierung.

Die deutsche Wirtschaft, die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland, wächst nun im siebten Jahr. Sie wird nach allem, was wir voraussehen können, auch im kommenden Jahr wachsen. Das Gutachten der Sachverständigen hat dies in der vergangenen Woche ja auch wieder deutlich hervorgehoben.

Meine Damen und Herren, die reale Leistung unserer Volkswirtschaft ist heute um ein rundes Fünftel höher als 1982. Das bedeutet nicht nur mehr Wohlstand für den einzelnen, sondern auch mehr Möglichkeiten der Vorsorge für eine lebenswerte Umwelt im Interesse der nachfolgenden Generationen. Ich schließe mich hier ganz dem an, was Graf Lambsdorff gerade sagt hat: Das gibt uns überhaupt erst die Chance, anderen helfen zu können, beispielsweise in der Dritten Welt, auch unter ökologischen Gesichtspunkten.

Wenn ich in diesem Zusammenhang den Schuldenerlaß der Bundesrepublik Deutschland für die ärmsten Länder der Welt betrachte, so stehen wir hinsichtlich der Erfüllung dieser Solidarpflicht immerhin mit an der Spitze der Völker dieser Welt.

Meine Damen und Herren, aus den Gesprächen der letzten Wochen in Polen, mit dem ungarischen Ministerpräsidenten am Sonntag vor acht Tagen und mit vielen anderen, die aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu uns kommen, weiß ich, daß diese Länder, die sich in einer zunehmend schwierigen Lage befinden, Hilfe von uns erwarten.

Ich bin dafür, daß wir Hilfe gewähren; aber daß wir sie gewähren können, verdanken wir der erfolgreichen Politik der letzten Jahre.

All jene, die uns ihre Null-Perspektive beim Wachstum als eine wirtschaftliche Zukunftsperspektive verkaufen wollten, sind durch die Tatsachen ja längst widerlegt. Meine Damen und Herren, die Tatsache, daß wir eine solche Entwicklung haben, ist auch deswegen möglich, weil in der Bundesrepublik wieder ganz selbstverständlich Mut zum unternehmerischen Risiko vorhanden ist.

Die Unternehmen investieren in diesem Jahr mit zweistelligen Zuwachsraten in Maschinen und Anlagen. Wir begrüßen das. Das hat mit einer ruhigen, mit einer sachlichen, mit einer vernünftigen Rahmensetzung durch die Politik in der Bundesrepublik Deutschland zu tun.

In allen Volkswirtschaften der Welt wird auch immer die Zahl der Unternehmensneugründungen als ein wichtiger Indikator betrachtet. Auch an dieser zunehmenden Zahl kann man erkennen, daß das Vertrauen gewachsen ist. Der Expansionsprozeß hat damit - so sagen die Sachverständigen - eine neue Qualität gewonnen.

Die deutsche Wirtschaft gehört international wieder zur Spitze. Das ist ein wichtiges Ergebnis, ein Ergebnis vernünftiger politischer Rahmenbedingungen, ein Ergebnis der Leistung der Arbeitnehmerschart und der Unternehmer in unserem Lande, auch ein Ergebnis - trotz aller Auseinandersetzungen - einer vernünftigen Gesprächsatmosphäre zwischen Unternehmern, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften. All das gehört zusammen.

Mehr unternehmerischer Mut, mehr private Investitionen bedeuten auch mehr Arbeitsplätze. Dieser Zusammenhang hat sich in diesem Jahr einmal mehr eindrucksvoll bestätigt. Die Zahl der Arbeitsplätze wächst seit nunmehr sechs Jahren. Um eine wirklich vergleichbare Entwicklung zu finden, muß man in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bis in die fünfziger Jahre zurückgehen.

Niemals in der vierzigjährigen Geschichte unserer Republik gab es mehr Arbeitnehmer, die in Lohn und Brot standen, als heute.

Im Vergleich zum Herbst 1983 ist die Zahl der Beschäftigten um 1,3 Millionen gestiegen. In einem Jahr - das ist die Prognose der Sachverständigen - werden es höchstwahrscheinlich noch einmal 400 000 mehr sein. Wenn ich mich daran erinnere, wie in den sieben Jahren meiner Amtszeit die Prognosen der sozialdemokratischen Sprecher dazu lauteten, dann ist mein Wort vom „Horrorgemälde", das Sie zeichnen, sehr wohl am Platz.

Die konsequente Politik für Wachstum und Arbeitsplätze ist - das ist einmal mehr bewiesen - eine wirklich soziale Politik im Interesse der Arbeitnehmer.

Richtig ist auch - das gehört ebenfalls zu einem fairen Zeichnen des Bildes -, daß die Zahl von 1,9 Millionen Arbeitslosen für uns nach wie vor nicht akzeptabel ist und daß das eine große Herausforderung ist, die niemand bestreiten kann. Gleichwohl sind auch auf diesem Feld die Fortschritte nicht zu übersehen.

Die Arbeitslosenzahl ist um 200 000 niedriger als vor einem Jahr. Auch im Durchschnitt der EG - und gemessen an allen westlichen Industrieländern - stehen wir heute günstiger da.

Wir wissen auch, daß dieses Problem noch einen neuen, dynamischen Akzent bekommen hat angesichts der gewachsenen Zahl von Aussiedlern, die in den letzten Jahren - und auch in diesem Jahr - zu uns gekommen sind. Wie sähe heute die Lage in der Bundesrepublik angesichts von rund 700 000 Aus- und Übersiedlern in diesem Jahr aus, wenn wir nicht eine so günstige wirtschaftliche Entwicklung gehabt hätten?

Bei dieser Gelegenheit möchte ich aber einmal darauf hinweisen, daß die Zahl der Arbeitslosen kein starrer Block ist. Pro Jahr melden sich 3 bis 4 Millionen Personen als arbeitslos. Eine ähnlich hohe Zahl von Arbeitslosen findet gleichzeitig wieder eine Beschäftigung. Jeder dritte Arbeitslose ist weniger als drei Monate ohne Arbeit. Das heißt, hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine ganz andere Entwicklung, als sie häufig in der Öffentlichkeit dargestellt wird.

Für uns sind das alles keine Zufallserfolge. Es sind die Früchte einer Politik, die konsequent auf mehr Leistung, mehr Innovation und auf Eigeninitiative gesetzt hat. Das ist die erfolgreiche Politik im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft, die eben keine Ellbogengesellschaft ist, sondern die Leistung belohnt und denjenigen, die tüchtig sind, die Chance gibt, auch etwas erreichen zu können.

Und wer nun auf die Jahre seit dem Spätherbst 1982 zurückblickt, der muß sich doch die Frage stellen: Wo stünde die Bundesrepublik Deutschland heute, auch angesichts der Erwartungen unserer Partner in der EG, unserer Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa und der Länder in der Dritten Welt, wenn wir nicht in diesen Jahren das Ruder kräftig herumgerissen hätten, wenn wir nicht wieder erfolgreich geworden wären, indem wir den Kurs der Sozialen Marktwirtschaft konsequent durchgehalten haben?

Wenn die Staatsquote von 50 Prozent auf 45 Prozent zurückgegangen ist, dann macht das immerhin - auch diese Zahl soll einmal genannt werden - rund 100 Milliarden DM aus, die jetzt Jahr für Jahr bei den Privaten verbleiben. Wir haben den Anstieg der Staatsausgaben seit 1982 auf durchschnittlich 3 Prozent gedrosselt. Zwischen 1970 und 1982 war der Zuwachs dreimal so hoch.

Meine Damen und Herren, wir haben damit auch Luft geschaffen für steuerliche Möglichkeiten, um den Freiheitsraum des Bürgers zu erweitern.

Was immer Sie an Diffamierungen in den letzten zwei Jahren zu diesem Thema vorgetragen haben: Das größte Steuerreformpaket in der Geschichte der Bundesrepublik entlastet Arbeitseinkommen, Unternehmenserträge zwischen 1986 und 1990 um fast 53 Milliarden DM.

Und, meine Damen und Herren, jeder spürt, daß dies einen ausgesprochen positiven Impuls für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung gegeben hat. Im Gegensatz zu dem, was die Sozialisten bei uns landauf, landab propagieren, ist für jedermann unübersehbar - nicht zuletzt auch für den Arbeitnehmerhaushalt -, daß alle von dieser Steuerentwicklung profitieren, auch und gerade Arbeitnehmerhaushalte mit niedrigen Einkommen und die Familien; so zum Beispiel, wenn ab Januar nächsten Jahres, also in ein paar Wochen, eine halbe Million Arbeitnehmer zusätzlich überhaupt keine Steuern mehr zahlen, so zum Beispiel, wenn ein durchschnittlich verdienender Familienvater mit zwei Kindern im kommenden Jahr fast 2 000 DM mehr in der Lohntüte sehen wird, so zum Beispiel, wenn die Familien ab 1990 insgesamt rund 18 Milliarden DM mehr zur Verfügung haben werden als 1985.

In diesen Zusammenhang gehören auch die Reformmaßnahmen im Bereich der sozialen Sicherung. Meine Damen und Herren, wir haben monatelang hier- und noch mehr draußen im Lande - die gewaltige Diffamierungskampagne gegen die Gesundheitsreform erlebt. Heute sehen wir, daß die Kostenexplosion im Gesundheitswesen gestoppt werden konnte, daß die Beitragssätze zur Krankenversicherung nicht nur stabil sind, sondern erstmals sogar gesenkt werden konnten. Das Ganze ist eine durch und durch soziale Politik. Ungeachtet Ihrer Demagogie haben wir diese notwendige Maßnahme zur Zukunftssicherung für unser Gesundheitswesen durchgesetzt.

Meine Damen und Herren, zu einem solchen Überblick gehört ein Wort des Dankes auch von meiner Seite, von Seiten der Bundesregierung an die sozialdemokratischen Kollegen, die gemeinsam mit den Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion in einer guten und qualifizierten Zusammenarbeit die Rentenreform mitgetragen und beschlossen haben.

Ich finde es - und hier stimme ich Graf Lambsdorff zu - ausgesprochen gut, daß es - bei allen Kontroversen in vielen wichtigen Fragen - möglich war, an einem Thema, das vor allem einen wichtigen Teil unseres Volkes, nämlich die ältere Generation, ganz unmittelbar betrifft, zu einem solchen Werk der Gemeinsamkeit zu kommen.

Ich will hier noch einmal deutlich mein herzliches Wort des Dankes auch an die Kollegen richten, die diese Arbeit geleistet haben.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir können heute sagen: Die deutsche Wirtschaft startet von einer soliden Basis in die neunziger Jahre. Die Unternehmensbefragungen der letzten Wochen und Monate zeigen deutlich Zuversicht und Optimismus, prägen die Stimmung im Lande. Und der Sachverständigenrat wählt dazu den Begriff „Aufbruchstimmung". Genau dies brauchen wir auch am Vorabend der Entwicklungen etwa in der Europäischen Gemeinschaft. Ich denke hier vor allem an den europäischen Binnenmarkt, den wir bis 31. Dezember 1992 vollenden wollen.

Die Menschen spüren die großen Herausforderungen, die vor uns stehen. Sie sehen, wie dieses Europa zusammenwächst. Der Investitionsboom bei uns und bei unseren europäischen Nachbarn spiegelt auch die Bemühungen wider, sich auf die Zeit nach 1992 vorzubereiten.

Wir müssen alles tun, damit die deutschen Unternehmen auch und vor allem bei der Zukunftssicherung für die Arbeitsplätze die notwendigen Chancen erhalten, damit der Standort Bundesrepublik Deutschland das bleibt, was er ist: eine erstklassige Adresse in der Welt.

Meine Damen und Herren, zu den wirklich dramatischen Herausforderungen unserer Tage, nicht zuletzt auch angesichts der großen Zahl von Aus- und Übersiedlern, die ich eben nannte, gehört die angemessene Versorgung der Bürger mit Wohnungen.

Niemand streitet ab, daß der unerwartet starke Zustrom von Aus- und Übersiedlern die Probleme ganz erheblich verschärft hat. Zugleich ist aber auch wahr, daß das veränderte Wohnverhalten vieler Mitbürger eine Entwicklung mit heraufbeschworen hat, in der immer mehr Wohnungen gebraucht werden und gebaut werden müssen. So nimmt die Zahl der Einpersonenhaushalte stark zu. Immer mehr Menschen - das hat etwas mit gestiegenen Ansprüchen und gestiegenem Volkseinkommen zu tun - wünschen sich komfortablere Wohnungen.

Die Bundesregierung hat auf die veränderte Lage rasch reagiert. Bereits im Mai haben wir grundlegende Beschlüsse zur Wohnungsbauforderung gefaßt.

(Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Sechs Jahre zu spät!)

- Meine Damen und Herren, ich würde an Ihrer Stelle zu diesem Thema gar nichts sagen. Denn Sie gehören zu denen, die der deutschen Öffentlichkeit jahrelang die notwendigen Daten aus der Volkszählung verweigert haben. Auch das gehört zu dieser Erfahrung. Sie haben jahrelang das, was für einen modernen Industriestaat selbstverständlich ist, nämlich die notwendigen objektiven Daten zu gewinnen, als Schnüffelei des Staats verunglimpft. Das war doch Ihre Politik in diesem Zusammenhang.

Die Bundesregierung hat - ich sage es noch einmal - auf die veränderte Lage rasch reagiert. Die Maßnahmen wirken bereits. Die Zahl der Wohnungsbaugenehmigungen liegt um 25 Prozent über dem Vorjahresstand. Im Geschoßwohnungsbau beträgt der Anstieg sogar 60 Prozent. Anfang dieses Monats haben wir weitere wichtige zusätzliche Schritte unternommen.

Die Bundesregierung wird in den kommenden vier Jahren 8 Milliarden DM bereitstellen, mit deren Hilfe 500 000 Sozialwohnungen gebaut werden sollen. Der Studentenwohnungsbau wird ebenfalls wieder gefördert.

Meine Damen und Herren, wer kurzfristig mehr Wohnraum schaffen will, muß jetzt auch bereit sein, unkonventionelle Wege zu gehen. Dazu gehören befristete Änderungen des Planungs- und Baurechts.

Für das Jahr 1990 erwarten wir auf Grund all dieser Maßnahmen den Bau von insgesamt 300 000 neuen Wohnungen. Das zeigt, daß die geplanten Maßnahmen greifen.

Die Bundesregierung allein kann diese Probleme nicht lösen. Wir brauchen die Unterstützung der Länder und Gemeinden. Meine Damen und Herren, Sie sollten besser Ihr Augenmerk einmal auf dieses Thema richten. Wenn vor ein paar Tagen der nordrhein-westfälische Wohnungsbauminister mitteilt, daß die Großstädte in Nordrhein-Westfalen die ihnen zustehenden Fördermittel für den Bau von Mietwohnungen nur schleppend abrufen, wenn die Landeshauptstadt Düsseldorf erst ein Drittel der hierfür bereitgestellten Finanzmittel in Anspruch genommen hat, dann ist es hohe Zeit, daß Sie sich einmal um dieses Thema kümmern.

Was wir also brauchen, ist dies: Alle Beteiligten müssen ihre Verantwortung voll wahrnehmen und ihren Beitrag leisten. Dann können wir die anstehenden Probleme lösen.

Meine Damen und Herren, am Arbeitsmarkt erfordert der massive Zuzug von Aus- und Übersiedlern von uns allen zusätzliche Anstrengungen. Wir wissen, nicht jeder Neuankömmling findet sofort einen Arbeitsplatz. Gerade bei vielen Aussiedlern sind sprachliche Barrieren und die oft unzureichende Qualifikation Hindernisse, die weggeräumt werden müssen; aber diese Schwierigkeiten sind lösbar.

Außerdem: Die monatliche Arbeitsmarktstatistik ist eben nur die halbe Wahrheit. Sie sagt zum Beispiel nichts darüber aus, in wie vielen Fällen ein neu zugezogener Schlosser oder Polier eine Personallücke in den Betrieben längst geschlossen hat. Und sie kann schon gar nicht berücksichtigen, daß etwa die Rumäniendeutschen im Durchschnitt mit vier Kindern je Familie und die Rußlanddeutschen sogar mit fünf Kindern je Familie zu uns kommen und daß gerade auch diese Familien mit ihren Kindern die Zukunft unserer Bundesrepublik Deutschland mit erarbeiten.

Eines der großen Probleme der nächsten Jahre wird der Mangel an Facharbeitern sein. Auf der anderen Seite stehen wir vor der Tatsache, daß wir viel zu viele bei den Arbeitslosen haben, deren Qualifikation nicht ausreichend ist. Mit dem Sonderprogramm für Langzeitarbeitslose, das seit Mitte des Jahres gut angelaufen ist, bietet die Bundesregierung auch diesen besonders benachteiligten Personengruppen zusätzliche Hilfen zur Qualifizierung und Wiedereingliederung an.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch hier ein Wort zu den Diskussionen über Tarifautonomie und Tarifpolitik sagen. Es besteht überhaupt gar kein Zweifel daran, daß es die Aufgabe der Tarifpartner ist - der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände -, Tarife auszuhandeln. Wir alle tun gut daran, dies als selbstverständlich zu akzeptieren. Ich finde, das ist eine der wichtigen und besten Erfahrungen aus der vierzigjährigen Geschichte unserer Bundesrepublik Deutschland.

Aber, meine Damen und Herren, wer angesichts des Strukturwandels von dem einzelnen Unternehmer und vom einzelnen Arbeitnehmer mehr Anpassungswillen und Flexibilität verlangt, der muß dies natürlich auch von den Tarifpartnern fordern können, und das ist überhaupt kein Eingriff in die Tarifautonomie. Wenn sich etwa die deutsche Wirtschaft - und das gilt für alle, die hier beteiligt sind, für Unternehmen wie Gewerkschaften - bei der Teilzeitarbeit im Verhältnis zu vergleichbaren Ländern in unserer Nachbarschaft am Ende der Entwicklung befindet, so ist dies doch ein klares Indiz für einen erheblichen Nachholbedarf auf unserer Seite.

Ich begrüße es, daß jetzt offensichtlich bei Unternehmensverbänden, bei Arbeitgebern und bei Gewerkschaften über diese Frage stärker diskutiert und nachgedacht wird. Ich begrüße dies ausdrücklich und hoffe, daß die Unternehmer und die Gewerkschaften hier zu neuen Ansätzen kommen. Es will mir nicht in den Kopf, daß das vergleichbare Nachbarland Niederlande prozentual praktisch doppelt so viele Teilzeitarbeitsplätze hat wie wir in der Bundesrepublik. Was dort möglich ist, muß auch bei uns möglich sein.

Meine Damen und Herren, aber auch das gehört zu den Bemerkungen zum Thema Tarifpolitik: Diejenigen, die die Politik - und vor allem die Regierung - bei jeder Gelegenheit für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung verantwortlich machen, müssen selbstverständlich auch zur Kenntnis nehmen, daß dann auch die Regierung das Recht hat, im Bereich der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen.

Jeder, der gegenwärtig die Diskussion beobachtet und gleichzeitig die Herausforderungen und die Belastungen vor sich sieht, die in diesem Jahr und in den nächsten Jahren auf uns zukommen - etwa das „Fitmachen" unserer Republik für den europäischen Binnenmarkt nach dem 31. Dezember 1992, die enormen Erwartungen auf finanzielle Hilfe und Leistungen von uns überall in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie in der Dritten Welt, die Notwendigkeiten etwa im internationalen Umweltschutz, was viel Geld kosten wird -, der muß sich doch immer wieder die Frage stellen: Tun wir das Notwendige auch im Bereich der Tarifpartner, um für die Zukunft konkurrenzfähig zu sein?

Das ist keine Einmischung, sondern es ist eine notwendige Feststellung, die jeder akzeptiert, der die gesamtwirtschaftliche Verantwortung, die Verantwortung für das Ganze begreift.

Eines der wichtigsten Felder, in denen der Staat ganz unmittelbar die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft beeinflußt, ist die Steuerpolitik. Auch hier reicht die nationale Perspektive allein für ein sachgerechtes Urteil nicht mehr aus. Vielmehr müssen wir gerade - wiederum am Vorabend der europäischen Entwicklung - die Belastungssituation bei uns mit der bei den wichtigsten Konkurrenten vergleichen, und das Ergebnis - auch das hat der Sachverständigenrat zum Ausdruck gebracht -kann nicht befriedigen.

So werden nach dem Inkrafttreten der Steuerreformstufe 1990 einbehaltene Unternehmenserträge in der Bundesrepublik immer noch wesentlich höher besteuert als in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, in Frankreich oder in Österreich. Ich will nur darauf hinweisen, daß gerade die Republik Österreich unter der Führung eines sozialistischen Kanzlers in diesem Felde ganz wesentliche Fortschritte gemacht hat.

Investitionskapital reagiert eben auf derartige Unterschiede sehr sensibel. Wenn wir - und das müssen wir doch - die Bundesrepublik als Investitions- und damit auch als Beschäftigungsstandort attraktiv halten wollen, sind weitere Steuerentlastungen unumgänglich. Deshalb haben sich die Bundesregierung und die sie tragende Koalition die Reform der Unternehmensbesteuerung als eine der Hauptaufgaben für die kommende Legislaturperiode vorgenommen.

Es geht uns dabei vor allem darum, daß wir unser Land für Investitionen attraktiv erhalten - und noch attraktiver machen - und damit die Arbeitsplätze von morgen sichern; denn sichere Arbeitsplätze sind auch die beste Zukunftschance für die Entwicklung unseres Landes im europäischen Binnenmarkt.

Auch dazu eine kurze Bemerkung. Wir werden uns in wenigen Tagen, am 8. und 9. Dezember, auf dem nächsten EG-Gipfel in Straßburg unter französischer Präsidentschaft treffen. Dieses Treffen ist wegen der anstehenden Themen innerhalb der Gemeinschaft von großer Bedeutung. Es gewinnt eine zusätzliche, für mich wesentliche Bedeutung durch die Entwicklung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa.

Ich sage ganz offen: Ich hätte mir in den letzten Monaten hier einen etwas kräftigeren Impuls aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft - ich sage nicht „aus der Gemeinschaft in Brüssel", ich mache diesen Unterschied bewußt - gewünscht. Europäische Solidarität kann nicht darin bestehen - das ist eben schon gesagt worden -, daß man verlangt, die EG solle mehr tun, und gleichzeitig der EG die notwendigen Mittel nicht zur Verfügung stellt.

Das heißt also ganz konkret: Ich hoffe sehr, daß wir, wenn wir in ein paar Tagen in Straßburg zusammenkommen, uns auch dort einigen können, wo es etwas kostet. Ich sage das auch im Blick auf Hilfsmaßnahmen, die über die EG hinausgreifen.

Das Ein-Milliarden-Programm etwa für Polen, das Präsident Bush angekündigt hat, für das die Amerikaner 200 Millionen Dollar bereitstellen - woran sich die Bundesrepublik Deutschland mit 250 Millionen Dollar beteiligt, was ich für richtig halte -, harrt immer noch der Ausfüllung; die restliche Summe sehe ich noch nicht gezeichnet.

Angesichts der Entwicklung in Polen und in Ungarn meine ich, es sei hohe Zeit, daß nun alle, die es können - es gibt viel mehr, die es können, als jetzt öffentlich gesagt wird -, sich an diesem Vorhaben beteiligen. Mit einem Wort, ich hoffe, daß die Botschaft, die von Straßburg ausgeht in die DDR, nach Polen, in die ÖSSR, in die Sowjetunion, nach Ungarn und in alle Länder, die jetzt hier fragend auf uns schauen, nicht nur eine verbale Botschaft ist, sondern daß ihr Taten folgen. Wir werden uns im Rahmen unserer Möglichkeiten beteiligen.

Der EG-Gipfel in Straßburg ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum großen Markt, zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes zum 31. Dezember 1992. Es gibt eine Reihe von wichtigen Themen:

Erstens geht es um die Ausfüllung der sozialen Dimension des Binnenmarktes. Wer die Diskussion erlebt hat, weiß, wie unendlich schwierig es ist, sich hier auf einen Nenner zu einigen, selbst wenn es ein Nenner auf einem sehr niedrigen Niveau ist.

Wir wollen gemeinsam die europäische Sozialcharta als Grundlage unserer weiteren Arbeit verabschieden, und wir wollen hiermit zugleich die Erarbeitung konkreter sozialer Mindestrechte einleiten.

Für uns in der Bundesrepublik war das selbstverständlich - genauso selbstverständlich wie die Feststellung, die ich einmal mehr treffen will: Wir werden auf diesem Feld keine Entwicklungen mitmachen oder dulden, die zu einem Sozialdumping in der Bundesrepublik Deutschland führen.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat in Abstimmung mit unseren Sozialpartnern in der Bundesrepublik einen Katalog von neun Bereichen eingebracht, die wir vorrangig angehen wollen.

Zweitens: Wir wollen in Straßburg, wie ich hoffe, wirklich durchgreifende Beschlüsse bei der Bekämpfung des Drogenhandels fassen. Präsident Mitterrand hat hierzu Vorschläge vorgelegt, die ich voll und ganz unterstütze.

Drittens: Wir wollen Fortschritte auf dem Wege zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die Finanzminister haben am 13. November die grundsätzlichen Entscheidungen getroffen, um in einem ersten Schritt die bestehende Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Währungspolitik zusammenzuführen und zu verstärken.

Diese Beschlüsse tragen unseren grundsätzlichen Orientierungen voll Rechnung. Diese Maßnahmen werden am 1. Juli 1990 zusammen mit der unter deutscher EG-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1988 beschlossenen Liberalisierung des Kapitalverkehrs in Kraft treten.

Wir werden darüber hinaus zu befinden haben, wie wir bei der Gestaltung der weiteren Stufen in Richtung auf die Wirtschafts- und Währungsunion vorangehen wollen. Wie beim Europäischen Rat in Madrid beschlossen, wird eine Regierungskonferenz ihre Arbeit aufnehmen, sobald der erste Schritt getan und die Konferenz „umfassend und angemessen" vorbereitet ist.

Wir werden bei diesem auch für uns besonders sensiblen Bereich - denken Sie an die Bundesbank und an die Stabilität unserer Währung - jeden Schritt sorgfältig bedenken. Wir werden ihn bedenken in der Verantwortung für die Bundesrepublik Deutschland; aber wir werden ihn auch bedenken in der Verantwortung für die Zukunftsentwicklung im Europa der Zwölf.

Wir sehen es als einen wichtigen Erfolg an, daß die Vorbereitungsarbeiten weitgehend auf der Grundlage unserer bewährten geld- und währungspolitischen Strukturen erfolgten. Wir werden daran festhalten, wenn es gilt, im kommenden Jahr in den Kernfragen einen Grundkonsens über Inhalt und Zielsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion vor dem Eintritt in die eigentlichen Vertragsverhandlungen zu erarbeiten.

Meine Damen und Herren, ich habe in diesen Tagen Staatspräsident Mitterrand insbesondere hierzu einen konkreten Arbeitskalender vorgeschlagen. Mein Ziel ist - ich will das sehr klar aussprechen -, daß wir rechtzeitig vor der Wahl zum Europäischen Parlament 1994 die konkrete Diskussion über diese Fragen und die notwendigen Ratifikationen in den Parlamenten der EG-Mitgliedstaaten abgeschlossen haben.

Meine Damen und Herren, hierzu gehört für mich - auch darüber wird in Straßburg zu reden sein -, daß wir neben den Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion im Blick auf die Wahl zum Europäischen Parlament 1994 den weiteren Ausbau der Rechte des Europäischen Parlaments in Angriff nehmen müssen.

Ich halte es für völlig ausgeschlossen, daß wir 1994 mit der jetzigen Ausstattung an Rechten für das Europäische Parlament wieder vor die Wähler in EG-Europa treten und zu einer freien, geheimen und direkten Wahl aufrufen, während die Kompetenz dieses Parlaments weiter hinter den wirklichen Erwartungen der Bürger in Europa zurückbleibt.

II.

Meine Damen und Herren, es ist heute in der Debatte zu Recht von allen Rednern betont worden, daß der Schwerpunkt der politischen Diskussion in diesen Tagen für uns ganz selbstverständlich im Felde der Deutschlandpolitik liegt.

Seit Öffnung der innerdeutschen Grenze und der Sektorengrenze in Berlin am 9. November ist die Deutschlandpolitik in eine neue Phase eingetreten - mit neuen Chancen und neuen Herausforderungen.

Wir alle empfinden zu Recht große Freude über die neugewonnene Reisefreiheit für die Menschen im geteilten Deutschland.

Mit unseren Landsleuten in der DDR sind wir glücklich, daß nach Jahrzehnten Mauer und Grenzsperren endlich friedlich überwunden werden konnten.

Wir empfinden - hier stimme ich dem Kollegen Vogel zu - auch Stolz darüber, daß die Deutschen in der DDR mit ihrem friedlichen Eintreten für Freiheit, für Menschenrechte und Selbstbestimmung vor aller Welt ein Beispiel ihres Mutes und ihrer Freiheitsliebe gegeben haben, das übrigens auch überall in der Welt entsprechend gewürdigt wurde. Wir sind beeindruckt vom lebendigen und vom ungebrochenen Freiheitswillen, der die Menschen in Leipzig und in vielen, vielen anderen Städten bewegt. Sie wissen, was sie wollen: Sie wollen ihre Zukunft selbst bestimmen, im ursprünglichen Sinne des Wortes. Wir werden dabei jede Entscheidung, die die Menschen in der DDR in freier Selbstbestimmung treffen, selbstverständlich respektieren.

Wir im freien Teil Deutschlands stehen gerade in diesen Tagen unseren Landsleuten solidarisch zur Seite.

Bundesminister Seiters hat Anfang letzter Woche mit dem Staatsratsvorsitzenden Krenz und mit Ministerpräsident Modrow über die Vorstellungen der neuen DDR-Führung gesprochen. Es ging uns darum zu erfahren, wie das öffentlich angekündigte Reformprogramm vollzogen werden soll und in welchem Zeitraum konkrete, für die Menschen auch wirksame Schritte zu erwarten sind.

Es wurde verabredet, daß diese Gespräche Anfang Dezember fortgesetzt werden. Wenn sich, wie wir - und vor allem ich - hoffen, in diesen Gesprächen erste praktische Ergebnisse abzeichnen, möchte ich selbst noch vor Weihnachten mit den Verantwortlichen in der DDR zusammentreffen.

Bundesminister Seiters hat in Ost-Berlin auch mit Vertretern der Opposition und der Kirchen gesprochen. Ich selbst habe - wie viele andere hier im Hohen Hause - in den letzten Wochen Vertreter der Opposition empfangen.

Wir halten es für geboten, bei allem, was wir jetzt tun und entscheiden, die Auffassungen, Meinungen und Empfehlungen der oppositionellen Gruppen in der DDR zu berücksichtigen. Auf diesen Kontakt legen wir weiterhin größten Wert. Wir alle sollten ihn auch In Zukunft intensiv pflegen.

Meine Damen und Herren, es eröffnen sich Chancen für die Überwindung der Teilung Europas und damit auch unseres Vaterlandes. Die Deutschen, die jetzt im Geist der Freiheit wieder zusammenfinden, werden niemals eine Bedrohung sein. Vielmehr werden sie - davon bin Ich überzeugt - ein Gewinn für das immer mehr zusammenwachsende Europa sein.

Der Aufbruch, den wir heute erleben, ist zunächst das Verdienst der Menschen, die ihren Freiheitswillen so eindrucksvoll demonstrieren. Er ist aber auch das Ergebnis von politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre, Auch wir in der Bundesrepublik, meine Damen und Herren, haben mit unserer Politik dazu ganz maßgeblich beigetragen.
  • Entscheidend war dafür zunächst, daß wir diese Politik auf dem festen Fundament unserer Einbindung in die Gemeinschaft freiheitlicher Demokratien betrieben haben. Geschlossenheit und Standfestigkeit des Bündnisses in der schweren Bewährungsprobe des Jahres 1983 haben sich ausgezahlt. Mit unserem klaren Kurs in der Atlantischen Allianz und in der Europäischen Gemeinschaft haben wir den Reformbewegungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa den Rücken gestärkt.

  • Mit dem Übergang zu neuen Stufen der wirtschaftlichen und politischen Integration in der Europäischen Gemeinschaft haben wir erfolgreich das Modell des freien Zusammenschlusses europäischer Völker fortentwickelt, eines Zusammenschlusses - das kann doch jeder erkennen -, der weit über die Gemeinschaft hinaus größte Anziehungskraft ausübt.

  • Auf der anderen Seite waren eine entscheidende Voraussetzung die Reformpolitik von Generalsekretär Michail Gorbatschow im Innern der Sowjetunion und das von ihm eingeleitete neue Denken in der sowjetischen Außenpolitik. Ohne die Anerkennung des Rechtes der Völker und Staaten auf den eigenen Weg wären die Reformbewegungen in anderen Staaten des Warschauer Pakts nicht erfolgreich gewesen.

  • - Zu der dramatischen Entwickung in der DDR wäre es nicht gekommen, wenn nicht Polen und Ungarn mit tiefgreifenden Reformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vorangegangen wären.
    Meine Damen und Herren, der Erfolg der Reformbewegungen in Polen und Ungarn ist eine Voraussetzung für den Erfolg der Reformbewegung in der DDR. Das bedeutet auch, daß wir im Rahmen unserer Möglichkeiten alles tun müssen, daß diese beiden Länder die von ihnen gesteckten Ziele auch erreichen.
    Wir alle begrüßen es, daß sich jetzt auch in Bulgarien und in der CSSR ein Wandel abzeichnet. Ich freue mich ganz besonders, daß der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Vaclav Havel, jetzt endlich die Früchte seines langjährigen Kampfes für die Freiheit ernten kann. Seine ebenso großartige wie unvergeßliche Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche, die er selber nicht vortragen durfte, war eine beeindruckende Abrechnung mit dem „realsozialistischen" System.

  • Eine bedeutende Rolle hat nicht zuletzt der KSZE-Prozeß gespielt, in dem wir gemeinsam mit unseren Partnern auf einen Abbau von Spannungsursachen, auf Dialog und Zusammenarbeit und vor allem auf die Achtung der Menschenrechte gedrängt haben.

  • Ein neues Vertrauen in den West-Ost-Beziehungen konnte auch Dank der kontinuierlichen Gipfeldiplomatie der Großmächte und der zahlreichen Begegnungen wachsen, die in diesem Zusammenhang möglich waren - Begegnungen zwischen Staats- und Regierungschefs aus West und Ost. Der historische Durchbruch bei der Abrüstung und Rüstungskontrolle ist ein sichtbarer Ausdruck dieses Vertrauens.

  • Die breit angelegte Vertragspolitik der Bundesregierung gegenüber der Sowjetunion und allen anderen Warschauer-Pakt-Staaten hat dieser Entwicklung wichtige Impulse gegeben

  • Aber, meine Damen und Herren, zu den Ursachen der jüngsten Veränderungen gehört vor allem auch die konsequente Politik für den Zusammenhalt unserer Nation. Wenn wir etwa den Aufforderungen - auch aus Ihren Kreisen - gefolgt wären, die Geraer Forderungen von Herrn Honecker zu akzeptieren, wären wir längst nicht dort, wo wir heute - Gott sei Dank - stehen.
    Seit 1987 haben uns jährlich viele Millionen Landsleute aus der DDR besucht, darunter zahlreiche junge Leute. Diese „Politik der kleinen Schritte" hat in schwierigen Zeiten das Bewußtsein für die Einheit der Nation wachgehalten und geschärft und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen vertieft.
Meine Damen und Herren, die Entwicklungen der letzten Jahre, die Besuchszahl von weit über 10 Millionen bis zum Sommer dieses Jahres seit 1987, widerlegen alle düsteren Prognosen aus dem Jahr 1983, die wir hier horten und die immer wieder vorgetragen wurden, daß mit dieser Bundesregierung und dieser Koalition eine „neue Eiszeit" in den West-Ost-Beziehungen kommen würde. Ich darf hier noch einmal die besonders infame Unterstellung erwähnen, wir seien „nicht friedensfähig".

Meine Damen und Herren, genau das Gegenteil von all dem, was Sie vorausgesagt haben, ist eingetreten: Heute haben wir - und wir sind glücklich darüber - mehr Verständigung und Gemeinsamkeit in Deutschland und in Europa als jemals zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Heute stehen wir - für jedermann erkennbar - am Beginn eines neuen Abschnitts der europäischen und der deutschen Geschichte - eines Abschnitts, der über den Status quo, über die bisherigen politischen Strukturen in Europa hinausweist.

Dieser Wandel ist zuallererst ein Werk der Menschen, die auf der Gewährung von Freiheit bestehen, auf der Achtung ihrer Menschenrechte und auf dem Recht, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen.

Alle, die in und für Europa Verantwortung tragen, müssen diesem Willen der Menschen und Völker Rechnung tragen. Wir alle sind jetzt aufgerufen, eine neue Architektur für das Europäische Haus, für eine dauerhafte und für eine gerechte Friedensordnung auf unserem Kontinent zu gestalten, wie es ja auch Generalsekretär Gorbatschow und ich in unserer gemeinsamen Erklärung hier in Bonn am 13. Juni bekräftigt haben.

Dabei müssen, meine Damen und Herren, die legitimen Interessen aller Beteiligten gewahrt werden. Das gilt selbstverständlich - ich betone dies - auch für die deutschen Interessen.

Wir nähern uns damit dem Ziel, das sich das Atlantische Bündnis bereits im Dezember 1967 gesetzt hatte. Herr Abgeordneter Vogel, wenn Sie die Unterschriften nachlesen, werden Sie unschwer feststellen, wer damals für die Bundesrepublik gezeichnet hat. Dort heißt es -- ich zitiere --:
Eine endgültige und stabile Regelung in Europa ist... nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärtigen Spannungen in Europa bildet. Jede derartige Regelung muß die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren.
.
Meine Damen und Herren, wenn das unsere gemeinsame Grundlage ist, dann können Sie, wie ich hoffe, auch dem Folgenden zustimmen:

Der Weg zur deutschen Einheit, das wissen wir alle, ist nicht vom „grünen Tisch" oder mit einem Terminkalender in der Hand zu planen. Abstrakte Modelle kann man vielleicht polemisch verwenden, aber sie helfen nicht weiter.

Aber wir können, wenn wir nur wollen, schon heute jene Etappen vorbereiten, die zu diesem Ziel hinführen. Ich möchte diese Ziele an Hand eines Zehn-Punkte-Programms erläutern:

Erstens: Zunächst sind Sofortmaßnahmen erforderlich, die sich aus den Ereignissen der letzten Wochen ergeben, insbesondere durch die Fluchtbewegung und die neue Dimension des Reiseverkehrs.

Die Bundesregierung ist zu sofortiger konkreter Hilfe dort bereit, wo diese Hilfe jetzt benötigt wird. Wir werden im humanitären Bereich und auch bei der medizinischen Versorgung helfen, soweit dies gewünscht wird und auch nützlich ist.

Wir wissen auch, daß das Begrüßungsgeld, das wir für jeden Besucher aus der DDR einmal jährlich zahlen, keine Lösung für die Finanzierung von Reisen sein kann. Letztlich muß die DDR selbst ihre Reisenden mit den nötigen Devisen ausstatten.

Wir sind aber bereit, für eine Übergangszeit einen Beitrag zu einem Devisenfonds zu leisten. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß der Mindestumtausch bei Reisen in die DDR entfällt, Einreisen dorthin erheblich erleichtert werden und die DDR einen eigenen substantiellen Beitrag zu einem solchen Fonds leistet.

Unser Ziel ist und bleibt ein möglichst ungehinderter Reiseverkehr in beide Richtungen.

Zweitens: Die Bundesregierung wird wie bisher die Zusammenarbeit mit der DDR in allen Bereichen fortsetzen, die den Menschen auf beiden Seiten unmittelbar zugute kommt. Das gilt insbesondere für die wirtschaftliche, wissenschaftlich-technologische und kulturelle Zusammenarbeit. Besonders wichtig ist eine Intensivierung der Zusammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes. Hier kann schon in aller Kürze, wie immer sonst die Entwicklung sein mag, über neue Projekte entschieden werden.

Das gleiche gilt - der Bundespostminister hat die entsprechenden Gespräche eingeleitet - für einen möglichst baldigen umfassenden Ausbau der Fernsprechverbindungen mit der DDR und des Telefonnetzes der DDR.

Über den Ausbau der Eisenbahnstrecke Hannover-Berlin wird weiter verhandelt. Ich bin allerdings der Auffassung, daß dies zu wenig ist und daß wir angesichts der jetzt eingetretenen Entwicklung uns einmal sehr grundsätzlich über die Verkehrs- und Eisenbahnlinien in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland unterhalten müssen.

Vierzig Jahre Trennung bedeuten ja auch, daß sich die Verkehrswege zum Teil erheblich auseinanderentwickelt haben. Das gilt nicht nur für die Grenzübergänge, sondern beispielsweise auch für die traditionelle Linienführung der Verkehrswege in Mitteleuropa, für die Ost-West-Verbindungen.

Es ist nicht einzusehen, weshalb die klassische Route Moskau-Warschau-Berlin-Paris, die ja immer über Köln führte und zu allen Zeiten große Bedeutung hatte, im Zeitalter schneller Züge und am Vorabend des Ausbaus eines entsprechenden europäischen Verkehrswesens nicht mit eingebracht werden sollte.

Drittens: Ich habe angeboten, unsere Hilfe und unsere Zusammenarbeit umfassend auszuweiten, wenn ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt wird. „Unumkehrbar" heißt für uns und vor allem mich, daß sich die DDR-Staatsführung mit den Oppositionsgruppen auf eine Verfassungsänderung und auf ein neues Wahlgesetz verständigt.

Wir unterstützen die Forderung nach freien, gleichen und geheimen Wahlen in der DDR unter Beteiligung unabhängiger, das heißt selbstverständlich auch nichtsozialistischer, Parteien. Das Machtmonopol der SED muß aufgehoben werden.

Die geforderte Einführung rechtsstaatlicher Verhältnisse bedeutet vor allem die Abschaffung des politischen Strafrechts und als Konsequenz die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, wirtschaftliche Hilfe kann nur dann wirksam werden, wenn grundlegende Reformen des Wirtschaftssystems erfolgen. Dies zeigen die Erfahrungen mit allen RGW-Staaten - mit Belehrungen von unserer Seite hat das nichts zu tun. Die bürokratische Planwirtschaft muß abgebaut werden.

Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren. Wir wissen: Wirtschaftlichen Aufschwung kann es nur geben, wenn sich die DDR für westliche Investitionen öffnet, wenn sie marktwirtschaftliche Bedingungen schafft und privatwirtschaftliche Betätigungen ermöglicht. Wer in diesem Zusammenhang den Vorwurf der Bevormundung erhebt, den verstehe ich nicht.

In Ungarn und in Polen gibt es jeden Tag Beispiele dafür, an denen sich doch die DDR - ebenfalls Mitgliedstaat des RGW - ohne weiteres orientieren kann.

Unser und mein dringender Wunsch ist es, daß es möglichst rasch zu einer solchen Gesetzgebung kommt. Denn es wäre für uns ein wenig erfreulicher Zustand, wenn - was ich ebenfalls wünsche - Privatkapital aus der Bundesrepublik Deutschland in Polen und noch mehr - die Dinge entwickeln sich sehr erfreulich - in Ungarn investiert würde und mitten in Deutschland diese Investitionen ausbleiben. Wir wollen, daß möglichst viele derartige Investitionen von möglichst zahlreichen Unternehmen Betätigt werden.

Ich will es noch einmal klar unterstreichen: Dies sind keine Vorbedingungen, sondern das ist schlicht und einfach die sachliche Voraussetzung, damit Hilfe überhaupt greifen kann. Im übrigen kann kein Zweifel daran bestehen, daß dies auch die Menschen in der DDR wollen. Sie wollen wirtschaftliche Freiheit, und sie wollen damit die Früchte ihrer Arbeit endlich ernten und mehr Wohlstand gewinnen.

Wenn ich heute die Diskussion zu diesen Thema - der künftigen Wirtschaftsordnung in der DDR - innerhalb der SED selbst verfolge - wir werden es in ein paar Tagen auf dem Parteitag der SED vor aller Öffentlichkeit erleben können -, dann kann ich beim besten Willen nicht erkennen, daß derjenige, der das hier ausspricht, sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischt. Ich finde das ziemlich absurd.

Viertens: Ministerpräsident Modrow hat in seiner Regierungserklärung von einer Vertragsgemeinschaft gesprochen. Wir sind bereit, diesen Gedanken aufzugreifen. Denn die Nähe und der besondere Charakter der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland erfordern ein immer dichteres Netz von Vereinbarungen in allen Bereichen und auf allen Ebenen.

Diese Zusammenarbeit wird zunehmend auch gemeinsame Institutionen erfordern. Bereits bestehende Kommissionen könnten neue Aufgaben erhalten, weitere könnten gebildet werden. Ich denke dabei insbesondere an die Bereiche Wirtschaft, Verkehr, Umweltschutz, Wissenschaft und Technik, Gesundheit und Kultur.

Ich brauche nicht zu betonen, daß bei all dem, was jetzt zu geschehen hat, für uns Berlin voll einbezogen bleiben muß. Das war, ist und bleibt unsere Politik.

Fünftens: Wir sind aber auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, das heißt eine bundesstaatliche Ordnung, in Deutschland zu schaffen. Das setzt aber eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR zwingend voraus.

Dabei könnten wir uns nach schon bald freien Wahlen folgende Institutionen vorstellen:
  • einen gemeinsamen Regierungsausschuß zur ständigen Konsultation und politischen Abstimmung,
  • gemeinsame Fachausschüsse,
  • ein gemeinsames parlamentarisches Gremium
  • und manches andere mehr angesichts einer völlig neuen Entwicklung.
Die bisherige Politik gegenüber der DDR mußte sich angesichts der Verhältnisse im wesentlichen auf kleine Schritte beschränken, mit denen wir vor allem versuchten, die Folgen der Teilung für die Menschen zu mildem und das Bewußtsein für die Einheit der Nation wachzuhalten und zu schärfen. Wenn uns künftig eine demokratisch legitimierte, das heißt frei gewählte Regierung als Partner gegenübersteht, eröffnen sich völlig neue Perspektiven.

Stufenweise können neue Formen institutioneller Zusammenarbeit entstehen und ausgeweitet werden. Herr Präsident, meine Damen und Herren, ein solches Zusammenwachsen liegt in der Kontinuität der deutschen Geschichte. Staatliche Organisation in Deutschland hieß in unserer Geschichte fast immer auch Konföderation und Föderation. Wir können doch auf diese historischen Erfahrungen zurückgreifen. Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, daß weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.

Sechstens: Die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen bleibt eingebettet in den gesamteuropäischen Prozeß, das heißt immer auch in die West-Ost-Beziehungen. Die künftige Architektur Deutschlands muß sich einfügen in die künftige Architektur Gesamteuropas. Hierfür hat der Westen mit seinem Konzept der dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung Schrittmacherdienste geleistet.

Generalsekretär Gorbatschow und ich sprechen in der Gemeinsamen Erklärung vom Juni dieses Jahres, die ich bereits zitiert habe, von den Bauelementen eines „gemeinsamen europäischen Hauses". Ich nenne beispielhaft dafür:
  • Die uneingeschränkte Achtung der Integrität und der Sicherheit jedes Staates. Jeder Staat hat das Recht, das eigene politische und soziale System frei zu wählen.
  • Die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker.
  • Die Verwirklichung der Menschenrechte.
  • Die Achtung und Pflege der geschichtlich gewachsenen Kulturen der Völker Europas.
Mit alledem wollen wir - so haben es Generalsekretär Gorbatschow und ich festgeschrieben - an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anknüpfen und zur Überwindung der Trennung Europas beitragen.

Siebtens: Die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft der Europäischen Gemeinschaft ist und bleibt eine entscheidende Konstante der gesamteuropäischen Entwicklung. Wir wollen und müssen sie weiter stärken.

Die Europäische Gemeinschaft ist jetzt gefordert, mit Offenheit und Flexibilität auf die reformorientierten Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas zuzugehen. Dies haben die Staats- und Regierungschefs der EG-Mitgliedstaaten kürzlich bei ihrem Treffen in Paris ja auch so festgestellt. Hierbei ist die DDR selbstverständlich eingeschlossen:

Die Bundesregierung befürwortet deshalb den baldigen Abschluß eines Handels- und Kooperationsabkommens mit der DDR, das den Zugang der DDR zum Gemeinsamen Markt erweitert, auch was die Perspektive 1992 betrifft.

Wir können uns für die Zukunft sehr wohl bestimmte Formen der Assoziierung vorstellen, die die Volkswirtschaften der reformorientierten Staaten Mittel- und Südosteuropas an die EG heranführen und damit das wirtschaftliche und soziale Gefälle auf unserem Kontinent abbauen helfen. Das ist eine der ganz wichtigen Fragen, wenn das Europa von morgen ein gemeinsames Europa sein soll.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, den Prozeß der Wiedergewinnung der deutschen Einheit verstehen wir immer auch als europäisches Anliegen. Er muß deshalb auch im Zusammenhang mit der europäischen Integration gesehen werden. Ich will es ganz einfach so formulieren: Die EG darf nicht an der Elbe enden, sondern muß die Offenheit auch nach Osten wahren.

Nur in diesem Sinne - wir haben das Europa der Zwölf immer nur als einen Teil und nicht als das Ganze verstanden - kann die Europäische Gemeinschaft Grundlage einer wirklich umfassenden europäischen Einigung werden. Nur in diesem Sinne wahrt, behauptet und entwickelt sie die Identität aller Europäer. Diese Identität, meine Damen und Herren, ist nicht nur in der kulturellen Vielfalt Europas, sondern auch und vor allem in den Grundwerten von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Selbstbestimmung begründet.

Soweit die Staaten Mittel- und Südosteuropas die erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, würden wir es auch begrüßen, wenn sie dem Europarat und insbesondere auch der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beiträten.

Achtens: Der KSZE- Prozeß ist ein Herzstück dieser gesamteuropäischen Architektur. Wir wollen ihn vorantreiben und die bevorstehenden Foren nutzen:
  • die Menschenrechtskonferenzen in Kopenhagen 1990 und in Moskau 1991,
  • die Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn 1990,
  • das Symposion über das kulturelle Erbe in Krakau 1991 und
  • nicht zuletzt das nächste Folgetreffen in Helsinki.
Dort sollten wir auch über neue institutionelle Formen der gesamteuropäischen Zusammenarbeit nachdenken. Wir könnten uns eine gemeinsame Institution zur Koordinierung der West-Ost-Wirtschaf tszusammenarbeit sowie die Einrichtung eines gesamteuropäischen Umweltrates sehr gut vorstellen.

Neuntens: Die Überwindung der Trennung Europas und der Teilung Deutschlands erfordern weitreichende und zügige Schritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen mit der politischen Entwicklung Schritt halten und, wenn notwendig, beschleunigt werden.

Dies gilt im besonderen für die Wiener Verhandlungen über den Abbau konventioneller Streitkräfte in Europa und für die Vereinbarung vertrauensbildender Maßnahmen ebenso wie für das weltweite Verbot chemischer Waffen, das, wie ich hoffe, 1990 kommen wird. Dies erfordert auch, daß auch die Nuklearpotentiale der Großmächte auf das strategisch erforderliche Minimum reduziert werden können.

Das bevorstehende Treffen zwischen Präsident Bush und Generalsekretär Gorbatschow bietet eine gute Gelegenheit den jetzt laufenden Verhandlungsrunden neue Schubkraft zu geben.

Wir bemühen uns - auch in zweiseitigen Gesprächen mit den Staaten des Warschauer Paktes einschließlich der DDR -, diesen Prozeß zu unterstützen.

Zehntens: Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, das heißt die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.

Wir sind dankbar, daß wir in der Erklärung des Brüsseler NATO-Gipfels vom Mai dieses Jahres dafür erneut die Unterstützung unserer Freunde und Partner gefunden haben.

Meine Damen und Herren, wir sind uns bewußt, daß sich auf dem Weg zur deutschen Einheit viele schwierige Fragen stellen, auf die korrekterweise heute niemand eine abschließende Antwort geben kann. Dazu gehört vor allem auch - ich betone das - die ebenso schwierige wie entscheidende Frage übergreifender Sicherheitsstrukturen in Europa.

Die Verknüpfung der deutschen Frage mit der gesamteuropäischen Entwicklung und den West-Ost-Beziehungen - wie ich sie eben in zehn Punkten erläuterte - ermöglicht eine organische Entwicklung, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung trägt und - dies ist unser Ziel - einer friedlichen und freiheitlichen Entwicklung in Europa den Weg bahnt.

Nur miteinander und in einem Klima des wechselseitigen Vertrauens können wir die Teilung Europas, die immer auch die Teilung Deutschlands ist, friedlich überwinden.

Das heißt, wir brauchen auf allen Seiten Besonnenheit, Vernunft und Augenmaß, damit die jetzt begonnene - so hoffnungsvolle - Entwicklung stetig und friedlich weiterverläuft.

Was diesen Prozeß stören könnte, sind nicht Reformen, sondern deren Verweigerung. Nicht Freiheit schafft Instabilität sondern deren Unterdrückung. Jeder gelungene Reformschritt bedeutet für ganz Europa ein Mehr an Stabilität und einen Zugewinn an Freiheit und Sicherheit.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, in wenigen Wochen beginnt das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, ein Jahrhundert, das so viel Elend, Blut und Leid sah.

Es gibt heute viele hoffnungsvolle Zeichen dafür, daß die neunziger Jahre die Chancen für mehr Frieden und mehr Freiheit in Europa und in Deutschland in sich tragen. Es kommt dabei - jeder spürt dies - entscheidend auch auf unseren, den deutschen Beitrag an. Wir alle sollten uns dieser Herausforderung der Geschichte stellen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 134, 29.11.1989.
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