Todesopfer > Kollender, Michael

Urteil des Bundesgerichtshofs in der Strafsache gegen Rolf S. und Ernst R. vom 17. Dezember 1996

Az.: 5 StR 137/96; Fall Michael Kollender, erschossen an der Berliner Mauer

Abschrift [Auszug]

17. Dezember 1996

Bundesgerichtshof
Az.: 5 StR 137/96

URTEIL

Im Namen des Volkes

In der Strafsache gegen

1. Rolf Walter Heinz S.,
geboren 1944,

2. Ernst R.,
geboren 1940,

wegen Totschlags.

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 17. Dezember 1996, [...] für Recht erkannt:

1. Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und des Angeklagten S. wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 12. September 1995 aufgehoben, soweit der Angeklagte S. verurteilt worden ist.

Der Angeklagte S. wird freigesprochen.

Seine notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

2. Die Revision der Staatsanwaltschaft, den Freispruch des Angeklagten R. betreffend, wird verworfen.

Die dem Angeklagten R. im Revisionsverfahren erwachsenen notwendigen Auslagen fallen der Staatskasse zur Last.

- Von Rechts wegen -

Gründe:

[...]

II. [Gründe für Bestätigung der Revision]

[...]

1. Die Revision der Staatsanwaltschaft ist unbegründet, soweit sie der Freisprechung des Angeklagten R. gilt. Es kann dahinstehen, ob das Verhalten dieses Angeklagten aufgrund gültigen DDR-Rechts gerechtfertigt war. Er war jedenfalls entschuldigt. Dabei nimmt der Senat ungeachtet der Begleitumstände des Falles die Beweiswürdigung des Tatrichters, der Angeklagte R. habe nur "Sperrfeuer" mit bedingtem Tötungsvorsatz schießen wollen, hin. Nach den Feststellungen ist letztlich nicht auszuschließen, dass der Angeklagte R. - unter Berücksichtigung der Kürze der ihm verbliebenen Überlegungszeit - geglaubt hat, der Fluchtversuch sei in der konkreten Situation ohne Gefährdung seiner selbst und der anderen Grenzsoldaten nicht anders als durch den konkreten Schusswaffeneinsatz sicher zu verhindern.

Das Landgericht verweist auf die Rechtfertigung von Schusswaffengebrauch mit bedingtem Tötungsvorsatz durch die „Vorschrift über die Organisation und Führung der Grenzsicherung in der Grenzkompanie" vom 8. Februar 1964 (DV-30/10; vgl. BGHSt 39, 353, 366 f.; 40, 241, 242 f.) -Nr. 114d, 115 -. Es meint, der Rechtfertigungsgrund sei in Fällen von Flüchtlingen, die zugleich bewaffnete Fahnenflüchtige waren und mit ihrem Verhalten den Verbrechenstatbestand des § 4 Abs. 2 lit. a des Militärstrafgesetzes der DDR vom 24. Januar 1962 (GBl DDR S. 25; später § 254 Abs. 2 StGB-DDR) erfüllten, hinzunehmen. Der Bundesgerichtshof hat diese Frage noch nicht entschieden (vgl. dazu BGHSt 40, 48, 51). Nach seiner bisherigen Rechtsprechung ist allerdings ein Rechtfertigungsgrund für die vorsätzliche Tötung von Personen, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die innerdeutsche Grenze zu überschreiten, wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte als unwirksam anzusehen (BGHSt 41, 101 m.w.N.; entsprechend BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 1996 - 2 BvR 1851/94 u. a.).

Mit Rücksicht auf die Bedeutung der den Bürgern der DDR insbesondere auch für Ausreisen in den anderen Teil Deutschlands weitgehend verwehrten Ausreisefreiheit wäre eine im Ergebnis gleiche Beurteilung der Rechtswidrigkeit eines Schusswaffeneinsatzes mit Tötungsvorsatz auch gegen fahnenflüchtige Soldaten der DDR an der innerdeutschen Grenze nicht ganz fernliegend. Gleiches gilt - namentlich im Blick auf das Ausmaß des Grenzsoldaten befohlenen Schusswaffeneinsatzes an der innerdeutschen Grenze (vgl. dazu nur BGHSt 39, 1, 20 und BVerfG a.a.O. unter Hinweis auf BVerfGE 36, 1, 35) - für entsprechende Fälle, in denen der Flüchtling seinerseits bewaffnet war, jedenfalls bevor er von sich aus konkrete Anstalten zum Einsatz der mitgeführten Waffe gemacht hatte. Angesichts der vom Landgericht zutreffend angestellten Erwägung, dass die Annahme unwirksamer Rechtfertigung nach Tatortrecht auf Fälle extremen, offensichtlichen Unrechts beschränkt bleiben muss, ist die Beurteilung der Rechtswidrigkeit in Fällen wie dem hier vorliegenden dennoch problematisch: Hier sind einerseits das Recht auf Leben und die Ausreisefreiheit des Flüchtlings zu bedenken. Andererseits konnte das Ausmaß des von diesem aus Sicht der Grenzsoldaten ausgehenden Rechtsbruchs als deutlich gewichtiger angesehen werden. Eine bestehende Gefährdung der Grenzsoldaten, schon bevor der Flüchtling konkret zum Einsatz seiner Waffe ansetzte, ist mit zu bedenken. Der Senat braucht die Frage hier nicht zu entscheiden. Ihre Beantwortung folgt nicht zwanglos aus der bisherigen Rechtsprechung.

Das Verhalten des Angeklagten, der als Grenzsoldat mit bedingtem Tötungsvorsatz auf einen bewaffneten Fahnenflüchtigen geschossen hat, um dessen Flucht zu verhindern,ist jedenfalls entschuldigt, weil eine Rechtswidrigkeit des hierauf gerichteten Schießbefehls - entsprechend § 5 Abs. 1 WStG - für den Angeklagten nach den ihm bekannten Umständen nicht offensichtlich war (vgl. BGHR WStG § 5 Abs. 1 Schuld 3). Schon beim Schußwaffeneinsatz mit bedingtem Tötungsvorsatz gegen unbewaffnete zivile Flüchtlinge hat der Senat deutlich gemacht, dass die Annahme der Offensichtlichkeit der Rechtswidrigkeit des so weit gehenden Schießbefehls für den indoktrinierten einfachen DDR-Grenzsoldaten problematisch ist (vgl. BGHSt 39, 1, 32 ff.; 39, 168, 185 ff.; BGH NStZ 1993, 488; siehe insbesondere BVerfG, Beschluss vom 24. Oktober 1996 - 2 BvR 1852/94 - zu BGHSt 40, 241, 250 f.; vgl. auch Horstkotte in: Ebke/Vagts - Hrsg. -, Demokratie, Marktwirtschaft und Recht, 1995, S. 213, 228 f.). Richtet sich der Schießbefehl auf Schusswaffeneinsatz mit bedingtem Tötungsvorsatz gegen einen flüchtenden bewaffneten Deserteur, kommen gewichtige für die Möglichkeit einer Rechtmäßigkeit des Befehls in diesem Spezialfall sprechende Besonderheiten dazu, welche unter tatsächlichen Begleitumständen, wie sie hier festgestellt sind, die Annahme, die Rechtswidrigkeit sei offensichtlich, nicht mehr zulassen.

Der Freispruch des Angeklagten R. aus Rechtsgründen ist mithin jedenfalls deshalb nicht zu beanstanden, weil sein Verhalten mindestens entschuldigt war.

Quelle: StA Berlin, Az. 2 Js 79/91, Bd. 4, Bl. 87-95; das Urteil ist vollständig abgedruckt in: Klaus Marxen/Gerhard Werle (Hg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht. Band 2/1. Teilband: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, Berlin/New York 2002, S. 277-28
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