Todesopfer > Kube, Karl-Heinz

Brief der Schwester von Karl-Heinz Kube zum Freispruch für den Todesschützen ihres Bruders (Märkische Allgemeine Zeitung, 8. September 1993)

Zu "Freispruch für Grenzer" und "Das Schuldbewußtsein bleibt", 2.9. und 3. 9., Seite 1 bzw. Seite 3

Soll ihr Schuldbewußtsein die einzige Strafe sein? Im Sommer 1989 habe ich die DDR verlassen, nicht zuletzt deshalb, weil ich nicht mehr in einem Land leben wollte, in dem Menschen erschossen werden, nur weil sie die Welt kennenlernen wollten - so wie mein Bruder Karl-Heinz im Jahre 1966.

Und nun muß ich erleben, daß nach Recht und Gesetz des Landes, in das ich damals "geflohen" bin, die Menschen, die die tödlichen Schüsse abgegeben haben, völlig straffrei bleiben, daß ihr Schuldbewußtsein die einzige Strafe bleiben soll. Ihre Schuld hat sich mit dem Freispruch nicht erledigt - nicht für die Menschen, die den damals 17jährigen Karl-Heinz Kube geliebt haben, nicht für mich, seine jüngste Schwester. Als er 1966, kurz vor Weihnachten, erschossen wurde, war ich fast sieben Jahre alt. Es war das erste wirkliche Leid, das ich erlebt habe, und bis heute ist es unvergessen.

Ich liebte meinen großen Bruder sehr. Und auch er hatte seine kleine Schwester sehr lieb. Ich erinnerte mich, daß er nie Nein sagte, egal, welchen Wunsch ich äußerte.

Wir waren eine große Familie, und es war sehr schwer, alle Wünsche zu erfüllen. Kalle schleppte aus dem Müll einen alten Puppenwagen an, den er reparierte und putzte, denn seine kleine Schwester sollte einen eigenen Puppenwagen, den sie sich sehnlichst gewünscht hatte, haben. Als er sich einen Motorroller kaufte, besorgte er gleich einen Kindersitz dazu, denn ich war noch zu klein für den Rücksitz. Als ich eingeschult wurde, kaufte Kalle, mein großer Bruder, die größte Schultüte und füllte sie von seinem wenigen Lehrlingsgeld. Als kurz vor Weihnachten 1966 die schreckliche Nachricht kam, daß unser Kalle tot ist, wollten wir es einfach nicht glauben. Unsere Mutter brach zusammen, als sterbe sie selbst jeden Moment. Es begann eine furchtbare Zeit. Mama wollte aus Verzweiflung selbst nicht mehr leben. Ihr Schmerz stieg ins Unermeßliche, als wir - ohne jeglichen Kommentar — eine Urne zugeschickt bekamen... Seit diesem Dezember 1966 gab es keine fröhliche Weihnacht mehr in unserer Familie.

Der Lebensmut und die Lebenskraft meiner Mutter reichten, bis auch ich, ihr jüngstes Kind, auf "eigenen Füßen" stand. Sie starb im Dezember 1983, zwei Tage vor Kalles Todestag. Sie war erst 54 Jahre alt.

Wieder hatte sie wochenlang dieser seelische Schmerz, diese Ungewißheit, was mit Kalle damals wirklich passiert war, ob er gelitten hat, ob er nach ihr gerufen hat..., gequält. Sie ist daran zerbrochen.

Nun sind diese vier Angeklagten freigesprochen. Aber sie sind nicht frei von Schuld. Sie sagen, sie hätten es nicht gewollt und sie hätten es nicht gewußt. Aber sie haben geschossen! Sie sagen, sie hätten nicht gezielt. Aber sie haben getroffen! Und jeder von ihnen wußte, wenn er trifft, kann er töten. Und sie haben getötet!

Karola L(...), Hamburg

Quelle: Märkische Allgemeine Zeitung, 8. September 1993
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