Todesopfer > Lange, Johannes

MfS-Abschlussbericht zum Fluchtversuch und zur Erschießung von Johannes Lange, 2. Mai 1969

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Abschlußbericht

Am 9. April 1969 gegen 21.55 Uhr versuchte der DDR-Bürger
    Lange, Johannes geb. am 17. 12. 1940 in Dresden Beruf: Dekorationsmaler zuletzt Bauhilfsarbeiter im VEB (B) Baukombinat Dresden wohnhaft: 801 Dresden, (...) Familienstand: ledig - ein Kind
die Staatsgrenze der DDR nach Westberlin im Grenzabschnitt des 35. Grenzregimentes in Berlin-Mitte, Fritz-Heckert-Straße, Höhe Adalbertstraße in Richtung Westberlin zu durchbrechen. Nachdem er bereits den Hinterlandssicherungszaun, den Metallstreckzaun und den Signalsicherungszaun überwunden hatte, wurden, da zu diesem Zeitpunkt die Postenablösung erfolgte, von insgesamt acht Grenzposten aus drei LMGs und fünf MPls 148 Schuß abgegeben, wovon vier Schüsse den Lange am Oberschenkel, Brustkorb, Hals und Kopf trafen und ihn tödlich verletzten.

Aus dem Sektionsbericht des Gerichtsmedizinischen Instituts der Humboldt-Universität geht hervor, daß als Todesursache die mehrfache Schußverletzung mit Durchtrennung der rechten Halsschlagader und Halsblutader sowie die offene Schädelhirnverletzung anzusehen ist.

Durch die Feuerführung wurden, wie die Hauptabteilung I/Abwehr feststellte, vier Einschüsse an der Häuserwand des auf Westberliner Gebiet liegenden Gebäudes Leuschnerdamm Ecke Bethaniendamm ermittelt, durch die wahrscheinlich nur Putzschäden entstanden.

Zwei Querschläger beschädigten im eigenen Hinterland einen Fensterrahmen und eine Fensterscheibe im Krankenhaus Berlin-Mitte, Fritz-Heckert-Straße und ein Einschuß verursachte Putzschaden an der Häuserwand eines Wohnhauses in der Fritz-Heckert-Straße. Der Schaden im Krankenhaus Berlin-Mitte wurde sofort durch den Rat des Stadtbezirks Berlin-Mitte beseitigt.

Aus Pressemeldungen Westberliner Publikationsorgane geht hervor, daß angeblich die Scheibe eines Schwesternaufenthaltsraumes im Westberliner Bethanien-Krankenhaus sowie zwei Scheiben in Wohnungen in Westberlin, Leuschnerdamm 1 und 11 zerstört wurden.

Aus diesen Pressemeldungen ist ersichtlich, daß der Gegner nicht genau über den Tathergang informiert ist und nur vermutet, daß der Grenzverletzer getötet wurde.

Unmittelbar nach der Grenzverletzung hatten sich auf Westberliner Gebiet ca 15 Zivilpersonen und Westberliner Polizisten angesammelt, die die Grenztruppen der MVA beschimpften und versuchten mit Blitzlicht Fotoaufnahmen zu machen. Zwei Westberliner Polizisten durchluden ihre Waffen, um die Grenzposten der NVA zu provozieren.

Durch Angehörige der NVA - Grenze wurde festgestellt, daß auch Beschimpfungen von bisher noch nicht aufgeklärten Personen dem Krankenhaus Berlin-Mitte erfolgten.

Durch inoffizielle Aufklärung der Kreisdienststelle Mitte der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin wurde bekannt, daß ein Patient
    (...) geb. am (...) wohnhaft: (...)
im Entlassungsraum im Erdgeschoß des genannten Krankenhauses sich nach dem Schußwaffengebrauch erregte und schimpfte, weil ein Querschläger aus der Mauerkante des Fensters einen halben Ziegelstein herausgeschlagen hat und das Projektil auf den Tisch dieses Raumes gefallen ist.

Seitens der Ärzte und des Pflegepersonals wurden keine negativen Äußerungen ermittelt. Durch inoffizielle Hinweise der Abteilung VII/2 der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin wurde erst am 2. 5. 1969 bekannt, daß sich zum Zeitpunkt der Grenzprovokation des Lange der Kraftfahrer des Rettungsamtes Berlin (...) mit seinem Krankentransportwagen am Krankenhaus Berlin-Mitte befand.

Unmittelbar nachdem die Grenzprovokation verhindert worden war, begab sich (...) zum dort aufenthältlichen Angehörigen der Grenztruppen und bot seine Hilfe an. Da er zurückgewiesen wurde, berichtete er von diesem Vorfall seinen Arbeitskollegen, die daraufhin eine negative Haltung zu den Grenztruppen einnahmen und äußerten, daß sie keine Hilfe geben würden, falls Angehörige der Grenztruppen in Notlage geraten.

(...) wird als ein gewissenhafter Mitarbeiter des Rettungsamtes eingeschätzt. Vor einigen Monaten wurde er ausgezeichnet, weil er einem Angehörigen der Deutschen Volkspolizei, der mit einem Funkstreifenwagen schwer verunglückte, sofortige Hilfe erwies und dadurch dessen Leben rettete.

Die Aufklärung der Täterpersönlichkeit ergab, daß Lange bis 1959 Freiwilliger Helfer der Volkspolizei war und dann wegen eines Diebstahls entpflichtet wurde.

Er verließ daraufhin am 31. 3. 1959 illegal die DDR und wohnte nach dem sogenannten Notaufnahmeverfahren in Solingen.

Am 22. 5. 1961 kehrte er in die DDR zurück, wobei er angab, daß er sich dadurch einer Einberufung zur Bundeswehr entziehen wollte.

Im Jahre 1962 erhielt Lange eine Gefängnisstrafe von einem Jahr, weil er sich der Wehrerfassung zur NVA durch ein illegales Verlassen der DDR entziehen wollte.

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(...) lebte seit 1963 mit einer (...) namens (...) in Dresden zusammen, (...) und im Jahre 1964 ein weiteres Kind von Lange gebar.

Dieses Verhältnis löste Lange im August 1968 und versuchte daraufhin am 3. 8.1968 illegal die DDR zu verlassen, wobei er am 12. 8. 1968 durch eine Streife der CSSR-Grenzsicherungsorgane an der tschechoslowakisch-westdeutschen Grenze festgenommen wurde.

Lange wurde nach seiner Festnahme an die Behörden der DDR überstellt und am 8. 10. 1968 wegen dieser Straftat in Dresden zu einem Jahr drei Monaten Freiheitsentzug bedingt verurteit. Am gleichen Tage erfolgte seine Haftentlassung.

Seit diesem Zeitpunkt wohnte er in einem Ledigenwohnheim des VEB Baukombinat Dresden, wo er auch als Bauhilfsarbeiter arbeitete.

Nach Einschätzung seiner Arbeitskollegen zeigte Lange eine schlechte Arbeitsmoral. Er blieb wiederholt der Arbeit fern und brachte 'schlechte Arbeitsleistungen. Seit dem 28. 3. 1969 erschien er nicht mehr zur Arbeit.

Es wird vermutet, daß er finanzielle Schwierigkeiten hatte, da er sich wiederholt Geld von Arbeitskollegen borgte. Am 30. 3. 1969 wurde Lange letztmalig im Wohnheim gesehen.

Über seinen weiteren Aufenthalt bis zum 9. 4. 1969 konnte nichts festgestellt werden.

Ermittlungen erbrachten auch keine Hinweise, daß Lange Verbindungen nach Westberlin, Westdeutschland oder dem kapitalistischen Ausland unterhielt.

Durch Mitarbeiter der Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden wurde die Mutter des Lange vom Tode ihres Sohnes informiert, die diese Nachricht sehr gefaßt aufnahm und bestätigte, daß sie keinerlei Kontakte mehr zu ihrem Sohn unterhielt, da sie sich von seiner (...) Lebensweise distanzierte.

Die Mutter des Lange war daran interessiert, daß der Tod ihres Sohnes in der Öffentlichkeit nicht bekannt wird und bat darum, daß die Urne auf dem Neustädtischen Friedhof Dresden an der Urnenstelle ihres verstorbenen Mannes beigesetzt wird. Die Überführung der Urne wurde über das Krematorium Berlin-Baumschulenweg, wo die Einäscherung des Lange am 15. 4. 1968 erfolgte, veranlaßt.

Durch die Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden wird in Verbindung mit der Kreisdienststelle Dresden-Stadt die operative Absicherung der Beisetzung gewährleistet.

Hinsichtlich der Alimentenverpflichtung gegenüber dem Kind der (...) wurde durch die Abteilung IX der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden eine Rücksprache mit dem Leiter der Bezirksstelle der Sozialversicherung genommen, der seinerseits zusicherte eine Klärung herbeizuführen. Das Ergebnis liegt zur Zeit noch nicht vor.

Durch die Abteilung VII/2 der Verwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin wurde über die Stadtkommandantur veranlaßt, daß im Grenzgebiet Berlin-Mitte, Fritz-Heckert-Straße sofort die dort vorhandenen Betonklötze an der Sicherungsmauer beseitigt werden, da vermutlich das Vorhandensein derselben für die Entschlußfassung des Lange, einen Grenzdurchbruch in diesem Abschnitt durchzuführen, begünstigend wirkte.

Bei der Aufklärung der Grenzprovokation des Lange wurde auch geprüft, inwieweit ein Zusammenhang zu der am 11. 4. 1969 im Grenzabschnitt Potsdamer Platz durch den
    S(...), Elmar geb. am (...) in (...) wohnhaft: (...)
erfolgten Grenzprovokation besteht.

Der Verdacht trat insbesondere deswegen auf, weil S(...) in Dresden wohnhaft ist und bis zum 2. 3. 1969 ebenfalls im VEB Baukombinat Dresden tätig war.

Die Überprüfungen ergaben, daß S(...) zwar beim VEB Bau-Union Dresden von 1962 bis 1965 gelernt hat, jedoch seine letzte Tätigkeit als Bauarbeiter nicht im Baukombinat Dresden, sondern im VE Verkehrs- und Tiefbaukombinat Dresden ausgeübt hat und beide Betriebe örtlich voneinander getrennt sind.

Weiterhin wurde festgestellt, daß S(...) am 9. 4. 1969 nach 18.00 Uhr die elterliche Wohnung in Dresden verließ und um 18.58 Uhr mit dem D-Zug nach Berlin gefahren ist. Dieser Zug traf gegen 21.48 Uhr auf dem Berliner Ostbahnhof ein. Somit ist nahezu ausgeschlossen, daß S(...) mit Lange an diesem Tage in Berlin zusammengetroffen sein kann, da die Grenzprovokation des Lange bereits um 21.55 Uhr erfolgte.

S(...) bestreitet ferner, sich bezüglich seines illegalen Verlassens der DDR in Dresden oder in der Hauptstadt der DDR mit anderen Personen verabredet oder getroffen zu haben bzw. mit anderen Personen gemeinsam nach Berlin gereist zu sein. Er will auch auf der Fahrt nach Berlin mit keiner Person Verbindung aufgenommen und sie von seinen Absichten unterrichtet haben.

Mit S(...) wurde eine Bilderkennung durchgeführt, bei der er Lange nicht identifizierte.

Die in Dresden geführten Ermittlungen ergaben keine Hinweise, daß sich S(...) und Lange kannten bzw. anderweitige Kontakte zueinander unterhielten. Major Oberleutnant

Quelle: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. 6, Nr. 4, Bl. 81-86
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