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Chris Gueffroy: Offener Brief von Mitgliedern oppositioneller Gruppen in der DDR an die Bevölkerung

Leipzig, 15. März 1989

Offener Brief an die Bevölkerung der DDR

Leipzig, 15.3.89

Am Montag, dem 13.3., wurde gegen 19.00 der Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Menschenrechte, Wolfgang Sarstedt von seiner Arbeitsstelle durch Mitarbeiter des MfS zugeführt. Am gleichen Tag wurde Michael Arnold von der Initiativgruppe Leben, der sich auf dem Wege in die Nicolaikirche befand, um am allmontäglichen Friedensgebet teilzunehmen, zugeführt. Ihm wurde vorgeworfen, in der Innenstadt Leipzig fotografiert zu haben. Beide befinden sich wieder auf freiem Fuße.

Als sich nach dem Friedensgebet ein Zug von 600 zumeist Ausreisewilligen BürgerInnen formierte, wurde dieser von zivilen und uniformierten Sicherheitskräften teilweise gewaltsam daran gehindert, sich für mehr individuelle Rechte und gegen einen Überwachungsstaat (in Sprechchören wurde “Stasi weg" skandiert) auszusprechen. Einige der DemonstrantInnen wurden mit Füßen getreten uns einige festgenommen. Gunter Schröder wurde ein Plakat, welches er wenige Sekunden hochgehalten hatte, entrissen und festgenommen. Journalisten und Kameraleute, die den Demonstrationszug begleiteten, wurden bei ihrer Arbeit behindert.

Wir fragen uns, wann die Staatsführung der DDR endlich begreift, daß obrigkeitsstaatliche Maßnahmen, wie die vom 13. März in Leipzig, nicht dem inneren Frieden dienen. Eine Regierung, die ständig darauf bedacht ist, ihre friedenspolitischen Aktivitäten darzustellen, aber den inneren Frieden mit Privilegien, Bespitzelung und Denunziation gegen Menschen, die nichts weiter tun als durch die Verfassung garantierte Menschenrechte wahrzunehmen, selbst aushöhlt, wird sich auf Dauer in außenpolitische Isolation begeben und das noch bestehende Vertrauen eines Teiles der Bevölkerung in ihre Entscheidungen verlieren. Wenn der Führung der DDR nicht das selbe Schicksal wie das der rumänischen Regierung wiederfahren soll, muß sie unverzüglich mit der Demokratisierung sämtlicher gesellschaftlicher Strukturen beginnen. Dabei wird sie nicht umhinkönnen, alle Menschenrechte zu respektieren und entsprechend zu handeln. Dies schließt das Recht auf Reisefreiheit und das Recht, seinen Wohnsitz auch außerhalb der DDR zu wählen ein. Dieses Recht darf nicht aufgrund verwandschaftlicher Beziehungen und Ergebensheitsbekundungen gegenüber der SED von staatlichen Organen „verliehen" werden.

Die Bevölkerung eines Landes, welche sich in ihrer Mehrheit als Gefangene einer Regierung empfindet, wird nie ihre ganze Kraft für das Wohl dieses Landes einsetzen, sondern in einen Zustand der Lüge und Resignation verfallen oder aufbegehren. Es bleibt – und das nicht nur für die Regierung der DDR – beschämend, wenn der Zustand der Lüge bis in die Gräber von Toten reicht. Chris Gueffroy wurde im Februar am sogenannten antifaschistischen Schutzwall von Grenzsoldaten der DDR ermordet. Er war nicht der erste und wird auch nicht der letzte gewesen sein – leider.

120 Personen waren am 23. Februar zu seiner Beerdigung gekommen, aber nichteinmal am Grabe fand die Wahrheit Platz. Der Mord wurde als „tragischer Unglücksfall" bezeichnet, was den Zustand der Lüge gegenüber dunklen Stellen in der Geschichte der DDR besonders beschämend aufzeigt.

Wenn wir, ob Parteigenosse oder Christ, Intellektueller oder Arbeiter etwas ändern wollen, müssen wir zuerst die Dinge so benennen wie und was sie sind. Jeder muß an seinem Ort beginnen die Wahrheit zu sagen. Wenn die Angst vor der Wahrheit einer Offenheit weicht, wird es überflüssig, Druckerzeugnisse zu zensieren, Journalisten bei ihrer Arbeit zu behindern oder Menschen wegen ihrer Meinungsbekundung zu inhaftieren. Nur – jeder muß eben an seinem gesellschaftlichen Platz damit beginnen und solidarisch für seinen Nachbarn eintreten.

Mitglieder des Arbeitskreises Gerechtigkeit
Mitglieder der Initiativgruppe Leben
[Mitglieder der Arbeitsgruppe Menschenrechte]
Mitglieder des Jugendkonvents
Arbeitsgruppe Friedensdienst

Quelle: Matthias-Domaschk-Archiv Berlin
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