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Todesopfer

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Herbert Halli
Den Opfern der Mauer: Fenster des Gedenkens der Gedenkstätte Berliner Mauer; Aufnahme 2010

Herbert Halli

geboren am 24. November 1953 erschossen am 3. April 1975

in der Zimmerstraße/Ecke Otto-Grotewohl-Straße
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Mitte und Berlin-Kreuzberg
Herbert Halli war 21 Jahre alt und stammte aus Brandenburg-Plaue. Entgegen seines Antrags und seiner Unterschriftsleistung im Personalausweis fertigte das Volkspolizeikreisamt Brandenburg seinen Ausweis auf den Vornamen Norbert aus. Seit November 1974 war er als Elektromonteur beim VEB Bau- und Montagekombinat, Ingenieurhochbau Berlin, beschäftigt; seit dem 1. April 1975 arbeitete er auf der Baustelle des Palastes der Republik.Erst nach dem Ende der DDR kam die Wahrheit ans Licht: Darüber, dass Herbert Halli im April 1975 nicht durch einen selbstverschuldeten Unfall, sondern durch gezielte Schüsse an der Mauer gestorben ist, konnte die Staatssicherheit seine Familie und Verwandten, Freunde und Kollegen solange täuschen, bis die Akten zugänglich wurden. Geglaubt habe sie die ihr vermittelte Unfallversion allerdings die ganzen Jahre nicht, berichtete Herbert Hallis Mutter zwanzig Jahre nach der Tötung ihres Sohnes im Jahr 1995. [1]
Herbert Halli, erschossen an der Berliner Mauer: Wohnheimkarte, 6. November 1974
Herbert Halli, geboren am 24. November 1953 in der Stadt Brandenburg, erlernt den Beruf eines Elektromonteurs. Während seines Dienstes bei der Nationalen Volksarmee in Torgelow heiratet er; kurz darauf kommt ein gemeinsamer Sohn zur Welt. Doch die Ehe hält nicht lang. Noch vor seiner Scheidung Ende 1974 zieht Herbert Halli von Brandenburg nach Ost-Berlin. [2] Dort arbeitet er zunächst auf verschiedenen Baustellen, bis er eine Anstellung beim VEB Bau- und Montagekombinat/Ingenieurhochbau Berlin findet, der am Bau des „Palastes der Republik" beteiligt ist. Sein Zuhause ist nun ein Arbeiterwohnheim in Lichtenberg, wo er sich sein Zimmer mit einem Mitbewohner teilen muss. Mit ihm zusammen gründet der 21-Jährige im Wohnheim einen FDJ-Jugendclub, dessen stellvertretender Leiter er wird. Zugleich beantragt er die Aufnahme in die SED. [3] Es kann scheinen, als würde er Wert darauf legen, sich besonders rasch und gründlich in die gegebenen politischen Verhältnisse zu integrieren. [4]
Herbert Halli, erschossen an der Berliner Mauer: Arbeitsausweis (Ausstellungsdatum: 1974/75)
Am 3. April 1975 gibt Herbert Halli seinen Einstand auf der Baustelle „Palast der Republik". Schon um 15.00 Uhr beginnt das Trinkgelage mit den Arbeitskollegen im gemeinsamen Aufenthaltsraum. Gegen 21.00 Uhr verlässt er diesen in stark angetrunkenem Zustand, ohne sich zuvor von seinen Kollegen zu verabschieden. Auch fährt er nicht ins Wohnheim, sondern benutzt den Linienbus 32 in Richtung der Grenze in Berlin-Mitte. An der Endhaltestelle weigert er sich zunächst auszusteigen; vielleicht ist er aber auch bloß eingeschlafen. Es kommt zu einem kurzen Handgemenge mit dem Busfahrer, bei dem er seine Brieftasche mit seinem Personalausweis und weiteren persönlichen Unterlagen verliert. Herbert Halli verlässt schließlich den Bus und läuft in Richtung Grenze. Als der Busfahrer kurz darauf dessen Brieftasche findet und sie der Volkspolizei übergibt, hat Herbert Halli bereits die Sperranlagen nahe der Zimmer-/Otto-Grotewohl-Straße erreicht. [5]

Gegen 21.45 überwindet er einen zwei Meter hohen Metallgitterzaun und die Hinterlandmauer. Bei dem Versuch, sich dem letzten Sperrelement, der Grenzmauer zu West-Berlin, zu nähern, berührt er einen Signalzaun und löst optischen und akustischen Alarm aus. Ein Grenzposten im nahegelegenen Beobachtungsturm eilt nach unten, während sein Postenführer zunächst der Führungsstelle Meldung erstattet, bevor auch er den Turm verlässt. Der erste Posten feuert einen Warnschuss ab. Halli wirft sich zu Boden, und springt im nächsten Moment wieder hoch, um zur Hinterlandmauer zurückzurennen; sein Fluchtvorhaben hat er sichtlich aufgegeben. Aus einer Entfernung von etwa einhundert Metern gibt nun der Postenführer stehend freihändig einen Schuss aus seiner Kalaschnikow ab. Er trifft Herbert Halli in den Rücken, als dieser schon im Begriff ist, unweit des damaligen „Hauses der Ministerien", des ehemaligen „Reichsluftfahrtministeriums" und heutigen Bundesfinanzministeriums, über die Hinterlandmauer zurück nach Ost-Berlin zu klettern. Mit einem Bauchhöhlendurchschuss wird Herbert Halli in das Krankenhaus der Volkspolizei in Berlin-Mitte eingeliefert. Gegen 22.45 Uhr erliegt er dort seinen schweren Verletzungen. [6]

Auf der West-Berliner Seite der Grenze scheint niemand den Vorfall bemerkt zu haben. Wegen der „politisch-operativen Situation" – so steht unter anderem das Treffen der Regierungschefs zur Unterzeichnung des KSZE-Abkommens in Helsinki bevor – hält es die Stasi für angebracht, die Umstände seines Todes zu verschleiern. Mit der Volkspolizei vereinbart sie, alle Eintragungen über den Vorfall zu streichen und keine schriftlichen Meldungen abzusetzen. Zugleich verschiebt sie den Todeseintritt um 24 Stunden auf den 4. April 1975 und lässt auf dem Standesamt in der Sterbeurkunde einen Unfall als Todesursache eintragen. [7]

Die Staatsanwaltschaft wird mit einem gefälschten Leichenfundbericht hinters Licht geführt: Demzufolge wurde Halli ohne Hinweise auf Fremdverschulden und ohne äußere Verletzungen tot in einer Baugrube gefunden – von einem fiktiven „Hauptwachtmeister Fritsche", der eigens als Zeuge erfunden wird.

Für seine „vorbildliche Einsatzbereitschaft und Pflichterfüllung" erhält der Todesschütze vier Tage später eine „Medaille für vorbildlichen Grenzdienst"; über die tödlichen Folgen seines Schusses wird er nicht informiert. [8]

Auch die Angehörigen und Arbeitskollegen des Getöteten werden zunächst in dem Glauben gelassen, Herbert Halli sei noch am Leben. Selbst eine Vermisstenanzeige der Mutter nimmt die Volkspolizei noch am 10. April ungerührt entgegen. Erst zwei Wochen später, nachdem man völlig sicher ist, dass der Vorfall weder auf östlicher noch auf westlicher Seite beobachtet wurde, unterrichtet die Staatssicherheit die Mutter und im Anschluss daran die Arbeitsstelle über den Tod des 21-Jährigen – in einer „legendierten" Version. Herbert Halli, so wird mitgeteilt, wäre stark alkoholisiert in eine Baugrube nahe der tschechoslowakischen Botschaft gestürzt und dort am 4. April ohne Ausweis tot aufgefunden worden. Die durchgeführten Untersuchungen hätten ergeben, dass er ohne Fremdeinwirkung ums Leben gekommen sei.

Unter dem Druck der Staatssicherheit verzichtet seine Mutter darauf, den Sohn noch einmal zu sehen und stimmt der Einäscherung des Leichnams zu. Leistungen der staatlichen Sozialversicherung oder der Arbeitsstelle werden der Familie mit der Begründung verwehrt, dass ihr Angehöriger durch eigenes Verschulden umgekommen sei. Am 8. Mai 1975 wird Herbert Halli unter großer Anteilnahme auf dem Friedhof in Brandenburg-Plaue im Grab seines Vaters beigesetzt; das gefälschte Todesdatum der Stasi wird später in seinen Grabstein gemeißelt.

Herbert Hallis Fluchtversuch ließ sich deshalb so gut vertuschen, weil er für viele, die ihn kannten, völlig überraschend gewesen wäre. Nur wenige wussten von geheimen Fluchtgedanken. Seiner Mutter soll er einmal die Grenze in Berlin-Mitte gezeigt und gesagt haben, "hier wäre es ganz einfach". [9] Auch seiner geschiedenen Frau waren seine Fluchtträume nicht fremd. Als sie von Hallis Verschwinden erfuhr, war ihr erster Gedanke: „'Herbert ist in die Bundesrepublik gegangen'. Er wollte immer schon in die Bundesrepublik zu seinem Bruder nach Kiel", teilt sie 1995 in einem Brief der Zentralen Ermittlungsstelle für Regierungs- und Vereinigungskriminalität der Berliner Polizei mit. [10] Die Frage, inwiefern es dem jungen Mann gelungen war, den eigenen Fluchttraum nicht nur vor anderen zu verbergen, sondern auch in sich selbst so einzukapseln, dass er sich nur an diesem Wendepunkt seines Lebens zur politischen Integration hin und nur unter hohem Alkoholeinfluss seiner bemächtigen und offenbar für ihn selbst überraschend zur Tat drängte – diese Frage muss ebenso offen bleiben wie der mögliche Zusammenhang seiner Flucht mit einem Brief, den er kurz zuvor in seinem Wohnheim vorfand. Unbekannte drohten darin, ihn ebenso wie bereits zuvor einen anderen Mitbewohner aus dem Fenster zu stürzen und zu töten, weil er ihnen den Zutritt zum Jugendclub verweigert hätte. Vielleicht versuchte der 21-Jährige durch eine Flucht nach West-Berlin demselben Schicksal zu entgehen. [11] Unter den Bauarbeitern hätten rauhe Sitten geherrscht; wegen der vielen tätlichen Auseinandersetzungen und Fensterstürze wäre das Wohnheim damals auch „Fliegerschule" genannt worden, erinnerte sich Hallis Mitbewohner. [12]

Auch seine Arbeitskollegen schenken damals offenbar der Legende der Staatssicherheit Glauben. Keiner von ihnen kommt auf den Gedanken, dass Herbert Halli einen Fluchtversuch unternommen haben könnte, gilt er ihnen doch als „linientreu". [13] Als kurze Zeit später ein befreundeter Volkspolizist der Mutter gegenüber erwähnt, sie würde die genauen Todesumstände ihres Sohnes nie erfahren, da daran manipuliert worden sei, nährt dies ihre ersten Zweifel an der offiziellen Version. Eine überraschende Auszeichnung mit dem „Banner der Arbeit" im Jahr darauf interpretiert die Mutter deshalb auch als den Versuch einer „Wiedergutmachung" für den Tod ihres Sohnes. [14]

Im Zuge der Aufklärung der Gewalttaten an der Mauer decken Berliner Kriminalbeamte im Jahr 1995 die Verschleierung der Todesumstände von Herbert Halli auf. Im November 1996 erhebt die Berliner Staatsanwaltschaft Anklage gegen den Todesschützen, der bis zur Einleitung des Verfahrens nicht wusste, dass er einen Menschen getötet hatte und vor Gericht glaubhaft beteuert, dass er die Tat bedauere und schwer an ihr trage. Im Juni 1998 wird er wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr auf Bewährung verurteilt. [15]

Text: Martin Ahrends/Udo Baron/Hans-Hermann Hertle

[1] Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung von Paula St. vom 2.2.1995 in Brandenburg, in: StA Berlin, Az. 27 Js 189/94, Bd. 2, Bl. 99. [2] Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung von Christa L. vom 31.1.1995, in: StA Berlin, Az. 27 Js 189/94, Bd. 2, Bl. 84-87. [3] Vgl. Bericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zur Grenzprovokation in Berlin-Mitte am 3.4.1975, Berlin, den 14.4.1975, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 3421, Bl. 6-13. [4] Ebd. [5] Ebd. [6] Vgl. Operative Tagesmeldung Nr. 04/IV/75 des MfNV/Operativer Diensthabender vom 3./4.4.1975, in: BArch, VA-01/32893, Bd. 1, Bl. 133. [7] Vgl. Beglaubigte Abschrift aus dem Sterbebuch von Herbert Halli vom 20.12.1994, in: StA Berlin, Az. 27 Js 189/94, Bd.1, o. Bl.; Bericht der ZERV vom 25.1.1995, in: StA Berlin, Az. 27 Js 189/94, Bd.2, Bl. 47-51. [8] Vgl. Befehl Nr. 15/75 des Stellvertreter des Ministers und Chef der Grenztruppen der DDR über Kader, 7.4.1975, in: BArch, GT 6096, Bl. 238. [9] Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung von Paula St. vom 2.2.1995 in Brandenburg, in: StA Berlin, Az. 27 Js 189/94, Bd. 2, Bl. 100. [10] Schreiben von Monika B. an die ZERV, 31.3.1995, in: StA Berlin, Az. 27 Js 189/94, Bd. 2, Bl. 181. [11] Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung von Christa L. vom 31.1.1995, in: StA Berlin, Az. 27 Js 189/94, Bd. 2, Bl. 84-87. [12] Vgl. Niederschrift der Zeugenvernehmung von Gerold S. am 14.3.1995, in: StA Berlin, Az. 27 Js 189/94, Bd. 2, Bl. 178. [13] Vgl. Abschlussbericht der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zur Grenzprovokation in Berlin-Mitte am 3.5.1975, Berlin, den 23.5.1975, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 3421, Bl. 2-4. [14] Vgl. Niederschrift der Tonbandvernehmung von Paula S. durch die ZERV vom 2.2.1995, in: StA-Archiv, Az. 27 Js 189/94, Bd.2, Bl. 96-100. [15] Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 26.6.1998, in: StA Berlin, Az. 27 Js 189/94, Bd. 3a, Bl. 45-51.
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