geboren am 5. September 1941
erschossen am 2. Oktober 1971
in der Nähe des Brandenburger Tors
an der Sektorengrenze zwischen Berlin-Tiergarten und Berlin-Mitte
Dieter Beilig wird nach seiner Festnahme zum sogenannten Führungspunkt des Grenztruppen-Regiments gebracht. Unterwegs versucht er, seinen Bewachern zu entwischen, wird aber sofort wieder eingefangen. Im Führungspunkt angelangt, muss er - von zwei Grenzsoldaten bewacht - in einem kleinen Raum auf einem Stuhl Platz nehmen und warten. Als er erneut versucht zu entfliehen - so jedenfalls stellen es die Grenzer dar, wird er ohne jede Vorwarnung aus nächster Nähe erschossen.In Berlin geboren und im Westteil der Stadt aufgewachsen, ist Dieter Beilig 20 Jahre alt, als die Sektorengrenze im August 1961 abgeriegelt wird. Wie viele West-Berliner seiner Generation will er die gewaltsame Teilung der Stadt nicht tatenlos hinnehmen. Er geht gegen das DDR-Grenzregime auf die Straße und macht mit seinen Protestaktionen im West-Berlin der frühen 1960er Jahre immer wieder von sich reden. Dass der überzeugte Mauergegner im Oktober 1971 an der Berliner Mauer zu Tode kommt, wird erst viele Jahre später bekannt. Denn bis zum Ende der DDR halten die Verantwortlichen in Ost-Berlin geheim, was geschieht, als Dieter Beilig am 2. Oktober 1971 in der Nähe des Brandenburger Tores auf die Mauer steigt.
Seit seiner Kindheit lebt Dieter Beilig im Stadtbezirk Kreuzberg, der zum amerikanischen Sektor gehört. Er stammt aus einfachen Verhältnissen und hat seinen Vater, der als Soldat im Zweiten Weltkrieg gefallen ist, nie kennen gelernt. Seine Mutter hat es nicht leicht mit dem Heranwachsenden, sie ist ihrem einzigen Sohn aber zeitlebens eine wichtige Bezugsperson. [1] Eine Bäckerlehre bricht er ab, findet schließlich Beschäftigung als ungelernter Arbeiter bei der Bundesdruckerei und eine Wohnung in der Köpenicker Straße, unmittelbar am Kreuzberger Ufer der Spree, das die Grenze zum Ost-Berliner Stadtbezirk Friedrichshain bildet. Nicht weit entfernt liegt die Oberbaumbrücke, bis zum 13. August 1961 ein viel benutzter Übergang zwischen Ost und West. Hier muss Dieter Beilig bald hautnah miterleben, wie Grenzposten auf Flüchtlinge schießen. Um dagegen zu protestieren, lässt er sich immer wieder neue Aktionen einfallen. Dabei gerät er ein ums andere Mal mit der West-Berliner Polizei in Konflikt. So wird er im Juli 1962 vorübergehend festgenommen, weil er Rauchkörper über die Mauer geworfen hat. [2] Einen Monat später ist das Bild des rothaarigen, sommersprossigen Jugendlichen in vielen Zeitungen zu sehen. Denn im August 1962 beteiligt er sich in vorderster Reihe an den Demonstrationen, die am ersten Jahrestag des Mauerbaus und nach dem Tod von Peter Fechter stattfinden. Dabei trägt er ein großes Holzkreuz mit der Aufschrift „Wir klagen an" vor sich her. Was ihn damals bewegt hat, schildert Beilig später so: „Mit einem Kreuz zog ich am 13. August 1962 durch West-Berlin und dieses stellte ich da auf, wo Peter Fechter ermordet wurde. Denn es war Mord. (…) Er hatte ja ein Recht, dass man ihm half. (…) Ich habe keine Verbrechen begangen. Habe mich nur gegen das sinnlose Morden gewandt. (…) Ich bin ein Arbeiter, verachte aber jede Art von totalitärer Diktatur, ob bei Hitler oder jetzt. Ich liebe die Freiheit und die Menschenwürde." [3]
Als er diese Zeilen schreibt, sitzt der junge West-Berliner in DDR-Haft, denn er ist im April 1964 unter ungeklärten Umständen in die Fänge der Stasi geraten. [4] Im Westen wird damals vermutet, Dieter Beilig sei nach Ost-Berlin entführt worden. [5] Stasi-Akten wiederum behaupten, er sei am Abend des 29. April 1964 in betrunkenem Zustand zum Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße gefahren, habe sich bei der Passkontrolle gemeldet und erklärt, dass er mit dem MfS Kontakt aufnehmen wolle. [6] Nach seiner Verhaftung sieht sich Dieter Beilig endlosen Verhören ausgesetzt und bleibt monatelang in Untersuchungshaft. Schließlich wird er aufgrund seiner Anti-Mauer-Aktivitäten angeklagt und im Dezember 1964 vom Ost-Berliner Stadtgericht wegen „staatsgefährdender Propaganda und Hetze" sowie "staatsgefährdender Gewaltakte" zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. [7] Ab Januar 1965 sitzt er im Zuchthaus Brandenburg, zeitweise in Einzelhaft, weil er sich gegen das Wachpersonal aufgelehnt und sich an Ausbruchplänen beteiligt haben soll. [8] Seine Mutter in West-Berlin erfährt erst nach wochenlanger Ungewissheit, was ihm widerfahren ist und schaltet daraufhin einen Rechtsanwalt ein. 1966 wird der politische Häftling von der Bundesrepublik freigekauft und von den DDR-Behörden weit vor Ablauf der verhängten Strafe im September in den Westen entlassen.
Danach wohnt Dieter Beilig wieder in Berlin-Kreuzberg. Seinen politischen Überzeugungen ist er vermutlich weiterhin treu, auch wenn es nach der Haftentlassung still um ihn bleibt. In dieser Zeit ändert sich die Stimmung in West-Berlin grundlegend. Weite Teile der Bevölkerung beginnen die fortdauernde Teilung der Stadt als unumstößliche Realität zu betrachten und befürworten die unter Willy Brandt eingeleitete Entspannungspolitik. [9] Zu den Ergebnissen dieses Politikwandels gehört das Vier-Mächte-Abkommen vom September 1971. Einen Monat später, am 2. Oktober, steigt Dieter Beilig am Brandenburger Tor auf die Mauer. Ob er an diesem Samstagmorgen ein Zeichen für oder gegen die „neue Ostpolitik" des früheren Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin setzen will, bleibt ungewiss. Als er auf der Mauer entlang läuft, wird er von West-Berliner Polizisten bedrängt und aufgefordert, herunterzukommen. Stattdessen springt er, ohne erkannt zu werden, mit dem Ruf „Freiheit für Deutschland. Willy ist der Größte" auf die andere Mauerseite. [10]
Was danach auf Ost-Berliner Gebiet passiert, entzieht sich den Blicken westlicher Beobachter. Grenztruppen- und Stasi-Berichten zufolge wird Dieter Beilig sofort festgenommen und anhand seines Personalausweises identifiziert. [11] Solche Vorfälle, von der DDR als „ungesetzliche Grenzübertritte" und „feindliche Provokationen" angesehen, sind Anfang der 1970er Jahre an exponierten Orten wie dem Brandenburger Tor keine Seltenheit. [12] Um negative Schlagzeilen zu vermeiden, werden die unerwünschten Eindringlinge in der Regel abgeführt, einem Verhör unterzogen und ohne großes Aufheben nach West-Berlin zurückgeschickt. Dieter Beilig wird nach seiner Festnahme zum sogenannten Führungspunkt des Grenztruppen-Regiments gebracht, der sich im Gebäude der Akademie der Künste am nahe gelegenen Pariser Platz befindet. Unterwegs versucht er, seinen Bewachern zu entwischen, wird aber sofort wieder eingefangen. Im Führungspunkt angelangt, muss er – von zwei Grenzsoldaten bewacht - in einem kleinen Raum auf einem Stuhl Platz nehmen und warten. Als er erneut versucht zu entfliehen – so jedenfalls stellen es die Grenzer dar, wird er ohne jede Vorwarnung aus nächster Nähe erschossen. Gegen 9.43 Uhr, so die entsprechende Meldung der DDR-Grenztruppen, habe der „Grenzverletzer" den Versuch unternommen, aus dem Fenster zu flüchten. „Der die Sicherung leitende Zugführer" habe daraufhin „die Schusswaffe angewandt" und „die Person durch einen Schuss aus der MPi in den Oberkörper" verletzt. [13] Dieter Beilig ist vermutlich auf der Stelle tot. [14]
Angesichts der zahlreichen Besucher auf beiden Seiten des Brandenburger Tors gehen Grenztruppenführung und Stasi anfangs davon aus, dass sich der Todesfall kaum verheimlichen lassen werde. Prophylaktisch täuscht die Stasi deshalb einen Notwehrakt vor: Nachträglich werden die Fingerabdrücke des toten Dieter Beilig auf der Tatwaffe angebracht, um ein „Beweismittel" zu schaffen, dass Beilig, wie es in einem Stasi-Aktenvermerk heißt, „einen Angehörigen der Grenztruppen entwaffnen wollte, wodurch die Anwendung der Schusswaffe notwendig war." [15] Als sich jedoch herausstellt, dass es von den beteiligten Grenzern abgesehen weder im Osten noch im Westen Augenzeugen gibt, geht die Stasi dazu über, den Tod von Dieter Beilig gänzlich zu vertuschen. Behörden und Angehörige im anderen Teil der Stadt erhalten auch auf Nachfrage keine Auskunft. Vergebens wendet sich ein West-Berliner Rechtsanwalt im Auftrag von Dieter Beiligs Mutter an die zuständigen Stellen in der DDR. 1988 stirbt sie, ohne jemals Aufschluss über das Schicksal ihres Sohnes erhalten zu haben. [16]
Nach dem Ende der DDR werden das Verbrechen und seine Vertuschung im Zuge der Ermittlungen gegen den Todesschützen aufgedeckt. Wie sich zeigt, handelt es sich bei dem Schützen um einen ehemaligen Grenztruppen-Offizier, der mittlerweile verstorben ist, so dass es gegen ihn nicht zur Anklageerhebung kommt. [17] Parallel dazu strengen die Strafverfolgungsbehörden ein Ermittlungsverfahren gegen elf vormalige Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit und der Justizbehörden der DDR an. Ihnen wird vorgeworfen, an der Verschleierung der Umstände von Dieter Beiligs Tod beteiligt gewesen zu sein. Drei ehemalige MfS-Angehörige werden schließlich angeklagt. Die Berliner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass sie den Todesschützen durch die Fälschung von Beweismitteln begünstigt haben. In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin weigern sich die Angeklagten jedoch, zur Aufklärung der Manipulation beizutragen. Im Juni 1999 werden sie freigesprochen, weil ihnen der Vorwurf der Begünstigung nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden kann. [18]
Das Schicksal von Dieter Beilig wird im Jahr 2003 anlässlich des Umbaus der Akademie der Künste auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. [19] Im Innern des Gebäudes machen seit der Wiedereröffnung Bodenmarkierungen die Lage des Grenztruppenstützpunktes kenntlich, in dem er zu Tode kam. Wo die sterblichen Überreste von Dieter Beilig verscharrt wurden, nachdem Stasi-Mitarbeiter die Einäscherung seines Leichnams im Krematorium Baumschulenweg in Berlin-Treptow veranlasst hatten, ist bis heute nicht bekannt.
Text: Christine Brecht
Seit seiner Kindheit lebt Dieter Beilig im Stadtbezirk Kreuzberg, der zum amerikanischen Sektor gehört. Er stammt aus einfachen Verhältnissen und hat seinen Vater, der als Soldat im Zweiten Weltkrieg gefallen ist, nie kennen gelernt. Seine Mutter hat es nicht leicht mit dem Heranwachsenden, sie ist ihrem einzigen Sohn aber zeitlebens eine wichtige Bezugsperson. [1] Eine Bäckerlehre bricht er ab, findet schließlich Beschäftigung als ungelernter Arbeiter bei der Bundesdruckerei und eine Wohnung in der Köpenicker Straße, unmittelbar am Kreuzberger Ufer der Spree, das die Grenze zum Ost-Berliner Stadtbezirk Friedrichshain bildet. Nicht weit entfernt liegt die Oberbaumbrücke, bis zum 13. August 1961 ein viel benutzter Übergang zwischen Ost und West. Hier muss Dieter Beilig bald hautnah miterleben, wie Grenzposten auf Flüchtlinge schießen. Um dagegen zu protestieren, lässt er sich immer wieder neue Aktionen einfallen. Dabei gerät er ein ums andere Mal mit der West-Berliner Polizei in Konflikt. So wird er im Juli 1962 vorübergehend festgenommen, weil er Rauchkörper über die Mauer geworfen hat. [2] Einen Monat später ist das Bild des rothaarigen, sommersprossigen Jugendlichen in vielen Zeitungen zu sehen. Denn im August 1962 beteiligt er sich in vorderster Reihe an den Demonstrationen, die am ersten Jahrestag des Mauerbaus und nach dem Tod von Peter Fechter stattfinden. Dabei trägt er ein großes Holzkreuz mit der Aufschrift „Wir klagen an" vor sich her. Was ihn damals bewegt hat, schildert Beilig später so: „Mit einem Kreuz zog ich am 13. August 1962 durch West-Berlin und dieses stellte ich da auf, wo Peter Fechter ermordet wurde. Denn es war Mord. (…) Er hatte ja ein Recht, dass man ihm half. (…) Ich habe keine Verbrechen begangen. Habe mich nur gegen das sinnlose Morden gewandt. (…) Ich bin ein Arbeiter, verachte aber jede Art von totalitärer Diktatur, ob bei Hitler oder jetzt. Ich liebe die Freiheit und die Menschenwürde." [3]
Als er diese Zeilen schreibt, sitzt der junge West-Berliner in DDR-Haft, denn er ist im April 1964 unter ungeklärten Umständen in die Fänge der Stasi geraten. [4] Im Westen wird damals vermutet, Dieter Beilig sei nach Ost-Berlin entführt worden. [5] Stasi-Akten wiederum behaupten, er sei am Abend des 29. April 1964 in betrunkenem Zustand zum Grenzübergang am Bahnhof Friedrichstraße gefahren, habe sich bei der Passkontrolle gemeldet und erklärt, dass er mit dem MfS Kontakt aufnehmen wolle. [6] Nach seiner Verhaftung sieht sich Dieter Beilig endlosen Verhören ausgesetzt und bleibt monatelang in Untersuchungshaft. Schließlich wird er aufgrund seiner Anti-Mauer-Aktivitäten angeklagt und im Dezember 1964 vom Ost-Berliner Stadtgericht wegen „staatsgefährdender Propaganda und Hetze" sowie "staatsgefährdender Gewaltakte" zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt. [7] Ab Januar 1965 sitzt er im Zuchthaus Brandenburg, zeitweise in Einzelhaft, weil er sich gegen das Wachpersonal aufgelehnt und sich an Ausbruchplänen beteiligt haben soll. [8] Seine Mutter in West-Berlin erfährt erst nach wochenlanger Ungewissheit, was ihm widerfahren ist und schaltet daraufhin einen Rechtsanwalt ein. 1966 wird der politische Häftling von der Bundesrepublik freigekauft und von den DDR-Behörden weit vor Ablauf der verhängten Strafe im September in den Westen entlassen.
Danach wohnt Dieter Beilig wieder in Berlin-Kreuzberg. Seinen politischen Überzeugungen ist er vermutlich weiterhin treu, auch wenn es nach der Haftentlassung still um ihn bleibt. In dieser Zeit ändert sich die Stimmung in West-Berlin grundlegend. Weite Teile der Bevölkerung beginnen die fortdauernde Teilung der Stadt als unumstößliche Realität zu betrachten und befürworten die unter Willy Brandt eingeleitete Entspannungspolitik. [9] Zu den Ergebnissen dieses Politikwandels gehört das Vier-Mächte-Abkommen vom September 1971. Einen Monat später, am 2. Oktober, steigt Dieter Beilig am Brandenburger Tor auf die Mauer. Ob er an diesem Samstagmorgen ein Zeichen für oder gegen die „neue Ostpolitik" des früheren Regierenden Bürgermeisters von West-Berlin setzen will, bleibt ungewiss. Als er auf der Mauer entlang läuft, wird er von West-Berliner Polizisten bedrängt und aufgefordert, herunterzukommen. Stattdessen springt er, ohne erkannt zu werden, mit dem Ruf „Freiheit für Deutschland. Willy ist der Größte" auf die andere Mauerseite. [10]
Was danach auf Ost-Berliner Gebiet passiert, entzieht sich den Blicken westlicher Beobachter. Grenztruppen- und Stasi-Berichten zufolge wird Dieter Beilig sofort festgenommen und anhand seines Personalausweises identifiziert. [11] Solche Vorfälle, von der DDR als „ungesetzliche Grenzübertritte" und „feindliche Provokationen" angesehen, sind Anfang der 1970er Jahre an exponierten Orten wie dem Brandenburger Tor keine Seltenheit. [12] Um negative Schlagzeilen zu vermeiden, werden die unerwünschten Eindringlinge in der Regel abgeführt, einem Verhör unterzogen und ohne großes Aufheben nach West-Berlin zurückgeschickt. Dieter Beilig wird nach seiner Festnahme zum sogenannten Führungspunkt des Grenztruppen-Regiments gebracht, der sich im Gebäude der Akademie der Künste am nahe gelegenen Pariser Platz befindet. Unterwegs versucht er, seinen Bewachern zu entwischen, wird aber sofort wieder eingefangen. Im Führungspunkt angelangt, muss er – von zwei Grenzsoldaten bewacht - in einem kleinen Raum auf einem Stuhl Platz nehmen und warten. Als er erneut versucht zu entfliehen – so jedenfalls stellen es die Grenzer dar, wird er ohne jede Vorwarnung aus nächster Nähe erschossen. Gegen 9.43 Uhr, so die entsprechende Meldung der DDR-Grenztruppen, habe der „Grenzverletzer" den Versuch unternommen, aus dem Fenster zu flüchten. „Der die Sicherung leitende Zugführer" habe daraufhin „die Schusswaffe angewandt" und „die Person durch einen Schuss aus der MPi in den Oberkörper" verletzt. [13] Dieter Beilig ist vermutlich auf der Stelle tot. [14]
Angesichts der zahlreichen Besucher auf beiden Seiten des Brandenburger Tors gehen Grenztruppenführung und Stasi anfangs davon aus, dass sich der Todesfall kaum verheimlichen lassen werde. Prophylaktisch täuscht die Stasi deshalb einen Notwehrakt vor: Nachträglich werden die Fingerabdrücke des toten Dieter Beilig auf der Tatwaffe angebracht, um ein „Beweismittel" zu schaffen, dass Beilig, wie es in einem Stasi-Aktenvermerk heißt, „einen Angehörigen der Grenztruppen entwaffnen wollte, wodurch die Anwendung der Schusswaffe notwendig war." [15] Als sich jedoch herausstellt, dass es von den beteiligten Grenzern abgesehen weder im Osten noch im Westen Augenzeugen gibt, geht die Stasi dazu über, den Tod von Dieter Beilig gänzlich zu vertuschen. Behörden und Angehörige im anderen Teil der Stadt erhalten auch auf Nachfrage keine Auskunft. Vergebens wendet sich ein West-Berliner Rechtsanwalt im Auftrag von Dieter Beiligs Mutter an die zuständigen Stellen in der DDR. 1988 stirbt sie, ohne jemals Aufschluss über das Schicksal ihres Sohnes erhalten zu haben. [16]
Nach dem Ende der DDR werden das Verbrechen und seine Vertuschung im Zuge der Ermittlungen gegen den Todesschützen aufgedeckt. Wie sich zeigt, handelt es sich bei dem Schützen um einen ehemaligen Grenztruppen-Offizier, der mittlerweile verstorben ist, so dass es gegen ihn nicht zur Anklageerhebung kommt. [17] Parallel dazu strengen die Strafverfolgungsbehörden ein Ermittlungsverfahren gegen elf vormalige Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit und der Justizbehörden der DDR an. Ihnen wird vorgeworfen, an der Verschleierung der Umstände von Dieter Beiligs Tod beteiligt gewesen zu sein. Drei ehemalige MfS-Angehörige werden schließlich angeklagt. Die Berliner Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass sie den Todesschützen durch die Fälschung von Beweismitteln begünstigt haben. In der Hauptverhandlung vor dem Landgericht Berlin weigern sich die Angeklagten jedoch, zur Aufklärung der Manipulation beizutragen. Im Juni 1999 werden sie freigesprochen, weil ihnen der Vorwurf der Begünstigung nicht mit der erforderlichen Sicherheit nachgewiesen werden kann. [18]
Das Schicksal von Dieter Beilig wird im Jahr 2003 anlässlich des Umbaus der Akademie der Künste auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt. [19] Im Innern des Gebäudes machen seit der Wiedereröffnung Bodenmarkierungen die Lage des Grenztruppenstützpunktes kenntlich, in dem er zu Tode kam. Wo die sterblichen Überreste von Dieter Beilig verscharrt wurden, nachdem Stasi-Mitarbeiter die Einäscherung seines Leichnams im Krematorium Baumschulenweg in Berlin-Treptow veranlasst hatten, ist bis heute nicht bekannt.
Text: Christine Brecht
[1]
Vgl. BStU, MfS, AS 754/70, Bd. XVI, Nr. 3, Bl. 152-159, sowie Berliner Zeitung, 11.8.2003. Fotos seiner Mutter gehören zu den wenigen Dingen, die Dieter Beilig bei seinem Tod am 2. Oktober 1971 bei sich trug. Vgl. ebd., Nr. 4, Bl. 3.
[2]
Vgl. Bericht der West-Berliner Polizeiinspektion Kreuzberg betr. vorläufige Festnahme wegen Werfens eines Rauchkörpers über Grenzmauer in SBS, 26.7.1962, in: PHS, Bestand Grenzvorkommnisse, o. Pag. sowie Vermerk der West-Berliner Polizeiinspektion Kreuzberg betr. vorläufige Festnahme wegen Werfens eines Wurfkörpers über die Grenzmauer in den SBS, 15.8.1962, in: Ebd.
[3]
Handschriftlicher Brief von Dieter Beilig aus dem Zuchthaus Brandenburg an DDR-Generalstaatsanwaltschaft Streit, o.D. [um 1965/66], in: BStU, MfS, 5040/65, Gefangenenakten, Bl. 86-87, Zitat S. 87.
[4]
Vgl. Ereignismeldung der West-Berliner Schutzpolizei, 19.6.1964, in: PHS, Bestand Ereignismeldung der West-Berliner Schutzpolizei, o. Pag.
[5]
Vgl. Bild-Zeitung, 19.6.1964.
[6]
Vgl. Festnahmebericht [des MfS/]HA Passkontrolle-Fahndung/KPP Bhf.-Friedrichstraße/Arbeitsgruppe 1, 30.4.1964, in: BStU, MfS, 5040/65, Ermittlungsakten, Bl. 31, sowie die Information der VfS Groß-Berlin/Abt. IX, 30.4.1964, in: Ebd., Bl. 37-41. Da das MfS bestrebt war, Beilig als Rädelsführer zu überführen, werden seine Anti-Mauer-Aktivitäten hier und in anderen Stasi-Unterlagen stark aufgebauscht, wie der Vergleich mit West-Berliner Überlieferungen zeigt.
[7]
Vgl. Urteil des Stadtgerichts von Groß-Berlin vom 11.12.1964, in: BStU, MfS, 5040/65, Gerichtsakten, Bl. 258.
[8]
Vgl. Handschriftliches Protokoll [eines Mitarbeiters des Strafvollzugs], Brandenburg, 20.4.1965, in: Ebd. Gefangenenakte, Bl. 62-63, und Handschriftlicher Aktenvermerk [eines Mitarbeiters des Strafvollzugs], Brandenburg, 11.8.1965, in: Ebd., Bl. 66.
[9]
Zum historischen Kontext vgl. Heinrich Potthoff, Im Schatten der Mauer. Deutschlandpolitik 1961 bis 1990, Berlin 1999, sowie Hans Georg Lehmann, Mit der Mauer leben? Die Einstellungen zur Berliner Mauer im Wandel, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 33-34 (1986), S. 19-34.
[10]
Vgl. Berliner Morgenpost, 3.10.1971; Der Tagesspiegel 3.10.1971; Spandauer Volksblatt, 3.10.1971.
[11]
Zum Hergang des Geschehens vgl. Information Nr. 972/71 des MfS-ZAIG, in: BStU, MfS, ZAIG Nr. 1992, Bl. 3-6, sowie die Information der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zur Grenzprovokation in Berlin-Mitte, Brandenburger Tor am 2.10.1971, 2.10.1971, in: BStU, MfS, HA IX, Nr. 17687, Bl. 44-51.
[12]
Für Angaben zu West-Ost-Grenzübertritten im Ausbildungsjahr 1970/71 vgl. Information Nr. 11/71 der NVA/Grenzkommando Mitte, 4.12.1971, in: BArch, GT 2152, Bl. 70-76.
[13]
Tagesmeldung Nr. 233/71 der NVA/Kommando der Grenztruppen/Operativer Diensthabender, 3.10.1971, in: BArch, GT 6376, Bl. 111-114, Zitat Bl. 111-112.
[14]
Ein Zeuge, der damals als Sanitäter hinzu gerufen wurde, gibt 1978 in der Bundesrepublik an, der Beschossene habe, als medizinische Hilfe eintraf, kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Vgl. Niederschrift der Zeugen-Vernehmung eines Augenzeugen durch die westdeutsche Grenzpolizei in Mellrichstadt, 27.2.1978, in: StA Berlin, Az. 27 Js 62/92, Bd. 1, Bl. 2-3.
[15]
Information der VfS Groß-Berlin/Abt. IX zur Grenzprovokation in Berlin-Mitte, Brandenburger Tor am 2.10.1971, 2.10.1971, in: BStU, MfS, HA IX Nr. 17687, Bl. 50; vgl. auch Maßnahmeplan [des MfS] betr. Anruf von Genossen Major Wolf/HA IX/9 am 4.10.71, o. D. [4.10.1971], in: BStU, MfS, AS 754/70, Bd. XVI, Nr. 3, Bl. 251.
[16]
Zu den erfolglosen Bemühungen, die unter anderem über DDR-Anwalt Wolfgang Vogel liefen, vgl. Befragungsprotokoll des damaligen Rechtsanwalts von Dieter Beilig durch die ZERV, 23.10.1992, in: StA Berlin, Az. 27/2 Js 62/92, Bd. 1, Bl. 93-134.
[17]
Vgl. Verfügung der Staatsanwaltschaft II bei dem Landgericht Berlin (27/2 Js 62/92), 28.2.1996, in: Ebd., Bd. 2, Bl. 139-140.
[18]
Vgl. Urteil des Landgerichts Berlin vom 8.6.1999, in: StA Berlin, Az. 28 Js 22/96, Bd. 5, Bl. 164a-164j, sowie „Stasi-Offiziere sollen Tötung vertuscht haben", Frankfurter Rundschau, 7.5.1999.
[19]
Vgl. Pressemitteilung der Akademie der Künste, 10.8.2003, und den Beitrag „Mauermord in der Akademie" in der Sendung „Kulturzeit", 3SAT, 11.8.2003.