Material Guided Tour > Rede von Winston Churchill in Fulton/USA, 5. März 1946

Rede von Winston Churchill in Fulton/USA, 5. März 1946

Rede von Winston Churchill in Fulton/USA, 5. März 1946

[...] Wir können uns vor der Tatsache nicht verschließen, daß die Freiheiten, deren sich der Bürger im ganzen britischen Empire erfreut, in zahlreichen Ländern, von denen einige sogar sehr mächtig sind, nicht bestehen. In diesen Ländern wird der Bürger allen Arten der Kontrolle unterstellt, und zwar in einem Maße, das den Grundsätzen der Demokratie zuwiderläuft. Die Macht des Staates wird schrankenlos ausgeübt, sei es durch Diktatoren oder durch gewisse politische Parteien und politische Polizeiorganisationen. Es ist heute, wo es so viele Schwierigkeiten gibt, nicht unsere Pflicht, uns mit Gewalt in die inneren Angelegenheiten von Ländern einzumischen, die wir im Krieg nicht besiegt haben, aber wir dürfen nie aufhören, furchtlos die großen Prinzipien der Freiheit und der Menschenrechte zu proklamieren, die das gemeinsame Erbe der englischsprechenden Welt sind.

Ein Schatten ist auf die Erde gefallen, die erst vor kurzem durch den Sieg der Alliierten hell erleuchtet worden ist. Niemand weiß, was Sowjetrußland und die kommunistische internationale Organisation in der nächsten Zukunft zu tun gedenken oder was für Grenzen ihren expansionistischen und Bekehrungstendenzen gesetzt sind, wenn ihnen überhaupt Grenzen gesetzt sind. Ich habe hohe Achtung und Bewunderung für das tapfere russische Volk und meinen Kameraden aus der Kriegszeit, Marschall Stalin. Großbritannien – und sicher auch Amerika – empfindet für die Völker Rußlands Sympathie und Wohlwollen, und es ist entschlossen, trotz allen Differenzen und Rückschlägen unentwegt an der Errichtung einer dauernden Freundschaft mit Rußland zu arbeiten. Wir verstehen, daß Rußland seine Grenzen im Westen gegen einen eventuellen neuen deutschen Angriff sichern muß.

Von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ist ein "Eiserner Vorhang" über den Kontinent gezogen. Hinter jener Linie liegen alle Hauptstädte der alten Staaten Zentral- und Osteuropas: Warschau, Berlin, Prag, Wien, Budapest, Belgrad, Bukarest und Sofia. Alle jene berühmten Städte liegen in der Sowjetsphäre und alle sind sie in dieser oder jener Form nicht nur dem sowjetrussischen Einfluß ausgesetzt, sondern auch in ständig zunehmendem Maße der Moskauer Kontrolle unterworfen.

Nur Athen mit seinem unsterblichen Ruhm ist frei und kann seine Zukunft nach Wahlen, die unter britischer, amerikanischer und französischer Überwachung durchgeführt werden, selbst bestimmen. Die von Rußland beherrschte polnische Regierung ist ermutigt worden, sich in unrechtmäßiger Weise und in gewaltigem Ausmaße in deutsche Angelegenheiten einzumischen und Massenausweisungen von Millionen von Deutschen anzuordnen, wie man sie bisher noch nicht kannte. Die kommunistischen Parteien, die in allen diesen östlichen Staaten Europas bisher sehr klein waren, sind überall großgezogen worden, sie sind zu unverhältnismäßig hoher Macht gelangt und suchen jetzt überall die totalitäre Kontrolle an sich zu reißen. Fast in jedem Fall herrscht eine Polizeiregierung, und bisher ist mit Ausnahme der Tschechoslowakei noch nirgends die Demokratie eingeführt worden. Die Türkei und Iran sind beide höchst beunruhigt über die Forderungen, die an sie gestellt werden, und über den Druck, den die Moskauer Regierung auf sie ausübt.

In Berlin haben die Russen den Versuch unternommen, in ihrer Zone die Kommunistische Partei großzuziehen, indem den Führern der deutschen Linken besondere Vorteile eingeräumt wurden. Als die Kämpfe im letzten Juni eingestellt wurden, zogen sich die amerikanischen und britischen Armeen auf Grund eines früheren Abkommens nach Westen zurück, und zwar an einigen Stellen auf einer 650 km breiten Front bis 250 km, um den Russen die Besetzung dieses gewaltigen von den westlichen Demokratien eroberten Gebietes zu ermöglichen. Wenn die Sowjetregierung jetzt durch eigenmächtige Handlungen versucht, in diesen Gebieten ein kommunistisches Deutschland großzuziehen, dann wird dies in den britischen und amerikanischen Zonen ernste Schwierigkeiten zur Folge haben und die geschlagenen Deutschen in die Lage versetzen, sich den Russen oder den westlichen Demokratien anzubieten. Welches auch die Schlußfolgerungen sind, die aus diesen Tatsachen gezogen werden können, eines steht fest, das ist sicher nicht das befreite Europa, für dessen Aufbau wir gekämpft haben. Es ist nicht ein Europa, das die unerläßlichen Elemente eines dauernden Friedens enthält.

Ich glaube nicht, daß Sowjetrußland den Krieg will. Was es will, das sind die Früchte des Krieges und die unbeschränkte Ausdehnung seiner Macht und die Verbreitung seiner Doktrin. Was wir aber heute, solange noch Zeit vorhanden ist, in Erwägung ziehen müssen, das sind die Mittel zur dauernden Verhütung des Krieges und zur Schaffung von Freiheit und Demokratie in allen Ländern. Nach dem zu schließen, was ich während des Krieges bei unseren russischen Freunden und Verbündeten gesehen habe, bewundern sie nichts so sehr wie Kraft und Macht, und nichts verachten sie so sehr wie militärische Schwäche. Aus diesem Grunde ist die alte Doktrin des Gleichgewichts der Mächte etwas Ungesundes. Wir können es uns nicht leisten, mit einer knappen Überlegenheit an Macht zufrieden zu sein, weil wir auf diese Weise Gefahr laufen, eine andere Macht in Versuchung zu führen, die Kraftprobe bestehen zu wollen. Wenn die Westmächte in strenger Anlehnung an die Satzung von San Franzisko zusammenstehen, dann wird ihr Einfluß zur Förderung der Grundsätze von San Franzisko gewaltig sein, und niemand wird in Versuchung geraten, sie zu belästigen. Wenn die Westmächte aber uneinig werden und auseinanderfallen oder in ihrer Pflichterfüllung schwanken und wenn alle diese entscheidenden Jahre ungenützt verrinnen, dann wird uns die Katastrophe allerdings mit größter Wahrscheinlichkeit ereilen.

Quelle: Jürgen Weber (Hg.), 30 Jahre Bundesrepublik Deutschland, Bd. II: Entscheidungsjahr 1948, München 1979, S. 34f.

Zum Seitenanfang