Pressestimmen West im September
In der „New York Herald Tribune" vom 19. September 1961 fordert der amerikanische Kolumnist Walter Lippmann angesichts der physischen Teilung Deutschlands, die durch den Mauerbau – den die gesamte NATO-Allianz hingenommen habe – zur vollständigen Tatsache geworden sei, „neue Entscheidungen". Die Tatsache der Teilung, die der Westen bisher nicht zugegeben habe, sei anzuerkennen. „Die Entscheidung, der sich die Westdeutschen gegenübersehen, ist, ob sie sich völlig und mit ganzem Herzen zum Westen bekennen – zur NATO, zum Gemeinsamen Markt, zu den Vereinten Nationen und zu dem Gewebe politischer und kultureller Verbindungen, die die westliche Gesellschaft ausmachen. Oder ob sie beim Westen bleiben, aber mit geistigen Vorbehalten wie beispielsweise dem, die Wiedervereinigung von den Sowjets erhandeln zu wollen. Ich meine nicht, daß die Deutschen auf die Wiedervereinigung verzichten können oder sollen. Aber sie werden lange darauf warten müssen, und es wird vieles geschehen müssen, um sie endlich möglich zu machen."
In der „Christ und Welt" vom 22. September 1961 kommentiert Sebastian Haffner die Zäsur des 13. August 1961: „Was man in der Bewegtheit des täglichen Geschehens vielleicht gar nicht so bemerkt hätte, das stürzt einem nach einer Zäsur von vier Wochen mit voller Wucht ins Auge: die epochale Veränderung, welche die Katastrophe des 13. August bewirkt hat. Das Katastrophale, Weltverändernde war nicht Ulbrichts Aktion: Die lag in der Luft, wenn man sie auch eigentlich erst nach dem Friedensvertrag erwartet hatte. Das Katastrophale, immer noch hohl Nachhallende, war die absolute westliche Passivität, die vollkommene Ratlosigkeit, Hilflosigkeit und Verständnislosigkeit, mit der sich die Berliner Schutzmächte, darunter die immer noch materiell stärkste Macht der Erde, Amerika, wie ein überzahmer Pudel den Knochen aus dem Maul nehmen ließen. Das bis zur Geistesgestörtheit ahnungslose Kommuniqué, mit dem Mr. Rusk (den ich vor zehn Jahren als einen liebenswürdigen Ministerialbeamten gekannt habe) noch am selben Abend das Ungeheuerliche beruhigt quittierte, diese fast erleichterte, fast erfreute Feststellung, daß sich die Maßnahme ja nur gegen die Ost-Berliner und Ostdeutschen richtete, machte aller Welt klar, daß die gegenwärtigen Führer Amerikas sich wichtigste Rechte nicht nur widerstandslos wegnehmen lassen, daß sie es nicht einmal merken, wenn man sie ihnen wegnimmt. Seitdem ist nichts mehr dasselbe, was es vorher war: wir leben in einer veränderten, sehr zum Argen veränderten Welt. (...) Der Westen agiert nicht mehr in Berlin. Allenfalls reagiert er; oft nicht einmal das. Das ist außerordentlich verbitternd."
Unter der Frage „Warum der 13. August vermeidbar gewesen wäre?" behauptet Marion Gräfin Dönhoff in der „Zeit" vom 29. September 1961: Wenn die NATO-Außenministerkonferenz, die vom 5.-8. August 1961 in Paris tagte, einen festen Fahrplan für Ost-West-Besprechungen vorgelegt hätte, wie Amerikaner und Engländer dies ursprünglich beabsichtigt hätten, „so hätte Chruschtschow sicher nicht fünf Tage später das Risiko auf sich genommen, den Vier-Mächte-Status Berlins einseitig und mit Gewalt zu brechen – denn damals hielt er das noch für ein Risiko."
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