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Grenzgang

Wanderung durchs Niemandsland

von Martin Ahrends
Der Grenzstreifen nahe Dreilinden Anfang der 90er Jahre
In Zehlendorf bin ich geboren und mit sechs Jahren nach Kleinmachnow umgezogen. Bis zum Mauerbau konnte ich zu meiner Großmutter fahren, dann wurde der Westen eine verblassende Erinnerung. Mit zweiunddreißig konnte ich in den Westen ausreisen, aber dann bis zur Maueröffnung nicht mehr in den Osten zurück. Erst war ich eingesperrt, dann ausgesperrt. Das Hier und das Dort sind für mich getrennt. Zwei Welten und zwei Leben, die nicht zusammenpassen. Und sind doch nur ein paar Schritte jetzt. Angeblich. Ich will das ausprobieren. Wenn ich zu Fuß von Wannsee nach Kleinmachnow ginge, müßte es jetzt sein, als ginge ich durch die Kulissen meiner Gegenwart hindurch und käme geradewegs von hinten durch die Kulissen meiner Kinderzeit. Getrennt oder verbunden durch eine geheimnisvolle „Hinterbühne", die ich niemals betreten habe. Das Niemandsland als ein leeres Theater mit einer Bühne vorn und einer hinten raus. Da müßten zwei Welten zusammenpassen, die in meinem Leben nichts miteinander zu tun haben. Es soll jetzt einen kurzen Weg geben, der über den Riß führt. Das Komische: Es ist gar kein Riß, es ist wahrscheinlich bloß gelber Sand mit ein paar Schottersteinen. Der Riß ist in meinem Kopf. Ich kenne diese Hälfte und jene und weiß von Landkarten her, daß das zusammenhängen soll. Aber daß es wirklich zusammenhängt, daß ich von meinem jetzigen Leben in das meiner Kindheit gelange in zehn Minuten Fußweg, daß diese mir zeitlich und räumlich streng getrennten Welten jetzt zu verbinden sind auf einem Trampelpfad, das ist schon aufregend. Es ist, als käme ich in Berlin aus der Tür und stünde am Atlantik. Nein, an einem Flecken, den ich kenne wie keinen sonst, der hier aber nichts zu suchen hat.

„Es war immer eine Verharmlosung, die Mauer eine Reisebeschränkung zu nennen."


Brücke des Stahnsdorfer Dammes über die ehemalige Autobahn bei Dreilinden Anfang der 90er Jahre
Ich zieh den Mantel an und mach mich zu Fuß auf den Weg über die Grenze, die schon keine mehr ist. Bin neugierig auf dies DAZWISCHEN. Neugierig ist ein zu schwaches Wort. Scharf bin ich auf diese Spalte und scharf war ich darauf schon immer. Scharf wie die Hunde und die Minen. Ihre Unnahbarkeit hat mich nicht losgelassen. Ich hab mich von ihr infizieren lassen. Die Grenze hatte einen Sog, der nie aufgehört hat, auch wenn ich ihn vergaß. Sie hat mich in die Träume verfolgt. Das Übertreten ist mir zur Manie geworden, vielleicht, weil ich dies eine, willkürliche „Ende der Welt" nicht überschreiten konnte. Statt an MEINE Grenzen zu gehen, anstatt mich irgendwie einzufädeln oder zu kollidieren, ging ich an DIE Grenze, ging hier elegisch angeschwollen spazieren, um mich der Rechtschaffenheit meines stillen Scheiterns zu vergewissern. Ich bilde mir ein, sie nie ganz aus dem Blickfeld verloren zu haben, obwohl nichts leichter war als das. Sie dunkelte das Leben ein, aber ganz allmählich und unmerklich. Um so mehr hab ich auf sie hingestarrt, um mich ans Eingedunkelte nicht zu gewöhnen. Hatte Angst, darin unterzugehen, in einem durch bloße Zeitanhäufung immer unabänderlicheren und selbstverständlicheren, aber doch nichtsdestoweniger verkehrten Zustand. Was war denn so unerträglich an ihr? Manche schlichten Gemüter nannten sie eine Reisebeschränkung. Das war sie auch. Am unerträglichsten war die Demütigung, die von ihr ausging, die tagtäglich ins Land sickerte und uns unmerklich veränderte.

Wir unterlagen Beschränkungen, unter denen sich das Nicht-Reisen-Können harmlos ausnahm. Es war immer eine Verharmlosung, die Mauer eine Reisebeschränkung zu nennen, aber mit diesem Namen konnte man leben: Wir haben sonst auch alles, bloß reisen können wir nicht. - Die Redensart bedeutete, sich aus dem Zustand allgemeiner Beschränkung fortzumogeln, wenn man ihn denn überhaupt als solchen wahrnahm. Die allgemeine Beschränkung hatte einen Grund und sie hätte als Phase der Sühne auch einen Sinn haben können, wenn man sich nicht daraus fort gemogelt hätte, indem man sie eine touristische Unbequemlichkeit nannte.

Wenn man das, was man zum Guten wenden könnte mit seiner Kraft und seinem Mut und guten Willen - wenn man das aus idiotischen Gründen sein Lebtag nicht ändern darf, dann beschädigt einen das. Der seelische Ausweg war, die Verhinderungsgründe nicht für idiotisch zu halten. Für historisch notwendig, für eine gerechte Strafe, für ein historisches Experiment, für etwas Großes jedenfalls, denn es ist jämmerlich, an etwas Kleinem zu scheitern. Also noch nicht einmal wirklich zu scheitern, sondern so nach und nach abzusterben, auszutrocknen, zu verblödeln.

„Plötzlich geht die Grenze auf - das war ihr wie ein Hohn"


Brücke des Stahnsdorfer Dammes über die ehemalige Autobahn bei Dreilinden Anfang der 90er Jahre
Meine Mutter wohnt da heute noch, in Kleinmachnow am Südwestrand Berlins. Sie hat in der Nacht des 9. November das Gehupe am Grenzübergang Drewitz hören können. Als sie aus dem Radio erfuhr, was los ist, hat sie sich ins Bett gelegt und die Decke über die Ohren gezogen. Wollte nichts hören von dem Theater, von den Verbrüderungsszenen. Plötzlich geht die Grenze auf - das war ihr wie ein Hohn. Als ginge das so einfach, wie es an diesem Tag wirklich ging: Tür zu, Tür auf. Hat ihre besten Jahre hinter der Grenze verbracht, und dann heißt es: April, April! November, November!

Seither habe ich sie wieder besuchen können, was mir trotz der legalen Ausreise in den Westen verboten war. Konnte sie wieder besuchen, aber nicht so direkt und zu Fuß, wie das jetzt möglich geworden ist. Mußte über den Grenzübergang Düppel, wo man kurz nach der Grenzöffnung noch kontrolliert wurde, wie vor dreißig Jahren, vor dem Mauerbau. Damals stand das Postenhäuschen auf der anderen Straßenseite. War auch nicht so stabil, bloß eine provisorische grüne Holzbaracke. Die innerdeutsche Grenze war überhaupt sehr provisorisch damals, als wir 1957 von Zehlendorf nach Kleinmachnow zogen. Vaters neue Anstellung unterlag der Bedingung, im Osten zu wohnen. Aber was hieß das schon. Meine Eltern haben die Besatzungszonen nicht allzu ernst genommen. Außerdem konnte man ja jederzeit hin und her. Vater ist morgens mit dem Rad über die Grenze zur S-Bahn im Westen gefahren und mit der wieder in den Ostteil, zum Funkhaus Oberschöneweide. Er mußte also zweimal über die Grenze, fuhr quer durch den Westen zur Arbeit, weil das schneller ging als außenrum. Die innerdeutsche Grenze war ihm etwas Vorübergehendes. - Und tatsächlich war ja die Teilung ein vorübergehender Zustand. Nur, daß sie fast dreißig Jahre am Vorübergehen gehindert werden würde, hätte mein Vater damals für einen wüsten Alptraum gehalten. Nach dem Umzug, als Acht-, Neun-, Zehnjähriger, bin ich mit dem Rad oft von Kleinmachnow zur Großmama nach Zehlendorf gefahren. Die Grenzer kannten mich und haben mich durchgewinkt. Das war meine Vorstellung von einer Grenze.

„Daß dieser tiefe Einschnitt ohne eine Antwort blieb ..."


Brücke des ‚Stahnsdorfer Dammes’ über die ehemalige Autobahn bei Dreilinden Anfang der 90er Jahre
Der dreizehnte August war ein strahlender Sonntag, die Eltern schliefen noch, als Klaus vor meinem Fenster stand und pfiff. Wir sausten mit den Rädern zum Grenzübergang Düppel. Da war nun wirklich kein Durchkommen mehr, die Bahnschranken runtergelassen, ein paar Bohlen quergelegt. Unverschämt! Das konnte ja nicht so bleiben! Das würden sich die Kleinmachnower nicht gefallen lassen, die hier täglich hin und her fluteten. Ja, das hat mich damals am stärksten irritiert: Daß niemand etwas dagegen unternahm. Daß dieser tiefe Einschnitt ohne eine Antwort blieb.

Da wuchs über Jahrzehnte etwas nach innen, was nicht heraus durfte. Ich hab nie ganz begriffen, wie man Leute so absperren kann, und sie wehren sich nicht. Wie haben die sich danach grüßen können auf den Kleinmachnower Straßen? Konnten die sich in die Augen sehen? Ich kann mich nicht an Einzelheiten erinnern. An die atmosphärischen Veränderungen allerdings. Alles war anders geworden und sollte doch weitergehen. Es war ein anderer Ton in der Luft, ein höhnischer Widerhall von der Umfriedung her. Und die Antwort drückte, die ausgeblieben war. Der verschluckte Protest. Es gab viele Scheidungen. Man traf sich nicht mehr, wie man sich früher getroffen hatte. Viele zogen klammheimlich fort. Was ist mit den Leuten geschehen in all den Jahren danach. Sie selbst konnten die Veränderung kaum merken, sie kam ganz allmählich und alle waren davon betroffen. Was wurde anders? Im Märchen von Dornröschen hat die Dauer die Gestalt einer Dornenhecke, sie verleibt das Schloß ein und seine innere Kultur, die Bewohner fallen in eine besondere Art von Schlaf, aus dem sie nur von außen wieder erweckt werden können. Die Innenräume dunkeln allmählich ein, die Hecke läßt den verkehrten Zustand als immer natürlicher erscheinen, die Chancen, je wieder zu erwachen, schwinden, je höher sie wächst, das heißt: je länger sie dauert. Aber - was niemand weiß - sie hat ihre bestimmte Zeit. Wer vor dieser Zeit kommt, muß an ihr scheitern. Ich habe oft gelesen, daß es in der DDR nur an einem Mutigen gefehlt habe, der die schlichte Wahrheit vom nackten König auszusprechen gewagt hätte. Irrtum, deren gab es mehrere, aber sie scheiterten, weil sie zur Unzeit aufgestanden waren. Ich sehe den unzeitig erwachten Küchenjungen im schlafenden Schloß umhertappen, durch einen eigentlich öffentlichen Raum irren, in dem jeder nur noch mit sich selbst beschäftigt ist: mit seinen vegetativen Funktionen und mit seinen Träumen. Der Küchenjunge wird vergeblich versuchen, diesen und jenen zu wecken, er wird sich alsbald vor ihnen fürchten und flüchten. Ein Held? Er hat niemanden befreit. Von Dornen zerschunden, endlich im Freien, wird er nach dem Schloß zurückschauen und sich vielleicht wünschen, nie erwacht zu sein.

„Vom vielen Rübergucken wird man krank ..."



Mein Schulfreund Klaus wohnte im Grenzgebiet, ich durfte ihn nicht besuchen, eigentlich. Seine Mutter hatte nichts dagegen, wenn ich durch den Vorgarten ins Haus schlüpfte, Grenzer kamen selten vorbei. Aber eine Nachbarin paßte sehr genau auf, wer ein und aus ging, sie saß oft auf der Veranda, trank Kaffee, strickte, las Zeitung und hatte den Eingang dabei immer im Blick. Sie hatte schon mehrmals die Grenzer alarmiert, wenn ihr was verdächtig vorgekommen war. Vor ihr mußten wir uns hüten. Wenn sie nicht auf der Veranda saß, wenn wir sie nicht orten konnten, schien es mir, als sähe sie durch alle Fenster gleichzeitig. Im hohen Gras haben wir uns angepirscht, sind über den Bürgersteig gerobbt wie richtige Grenzverletzer. Einmal gab Klaus mir seine Jacke und Mütze, ich ging voraus als Klaus 1, er folgte mit Abstand als Klaus 2. Er kam also doppelt aus der Schule, was der Nachbarin nicht auffiel. Mit diebischem Vergnügen schlossen wir die Tür, legten unsere Ranzen ab, stürmten auf den Dachboden und bezogen unseren Ausguck gen Westen. Die Westhäuser waren nur zehn Meter entfernt. Wir konnten sehen, wie die Westmenschen auf dem Balkon saßen, Kaffee tranken, strickten, Zeitung lasen und manchmal zu uns rüberwinkten. Wir sahen die Berliner Doppelstockbusse an ihrer Endhaltestelle ankommen und abfahren, wir sahen die Busfahrer ihr Brot auspacken und reinbeißen. Wir konnten lange rübergucken und immer wieder. Obwohl da wenig passierte, nichts, das uns in ähnlicher Weise fasziniert hätte, wenn wir es bei uns im Osten gesehen hätten. Es war streng verboten, das Grenzgebiet zu betreten, und es war auf eine weit subtilere Art verboten, rüberzugucken: es verbot sich sozusagen von selbst, sich für drüben zu interessieren, weil man ja einer von hier war: ein junger Pionier, der nur Verachtung hat für die letzen Zuckungen des faulenden Kapitalismus. Oder: weil man da nicht hinkonnte. Vom vielen Rübergucken wird man krank, hatte die Mutter von Klaus gesagt. Und in diesem Sinne gab es auch ein nichtoffizielles Verbot, das man vielleicht als ein psychohygienisches bezeichnen könnte. Auf diese für mich damals recht verschwommene Weise verbot sich das Rübergucken von selbst und hatte dieses Verbotes wegen seinen besonderen Reiz. Aber das war es nicht allein. Wenn ich den Blick beschreiben soll, mit dem ich damals, als 10jähriger rüberguckte, dann scheint mir das Wort „ungläubig" am treffendsten. Die reale Nähe und reale Ferne lagen übereinander und ließen die Bilder schwimmen, steigerten meine Sinneseindrücke von Pausenbrot essenden BVG-Busfahrern ins Sensationelle. Ich saß auf Klaus‘ Dachboden und starrte aus dem Fenster, ungläubig. Wenn es Palmen und Zypressen gewesen wären, hätte ich es geglaubt. Aber es waren dieselben Kiefern, die auch auf unserer Seite standen.

„Und plötzlich die Ruhe, als ob man einen Fluß abgesperrt hat und das Wasser steigt hinterm Damm"



Die alte Autobahn bei Dreilinden Anfang der 90er Jahre
Vor ein paar Wochen waren sie hier noch hin und her geflutet, nun lag das Flußbett trocken. Und keine Spuren des Fließens mehr. War mal ein Grenzübergang gewesen, sind hier täglich hin und her geflutet. Und plötzlich die Ruhe, als ob man einen Fluß abgesperrt hat und das Wasser steigt hinterm Damm. Konnte so aussehen, als hätte nie jemand rübergewollt. Und ich hörte die Flut steigen. Das Rüberwollen verbarg sich ringsum in den Häusern. Ich sah, welcher Aufwand nötig war, das Rüberwollen abzuscheiden. Im glattgeharkten Grenzstreifen sammelten sich die Fluchtträume, wurden alt und fingen an zu schimmeln. Ich hab mich gefragt: Warum lassen sie das mit sich machen. Warum gehen die nicht wie am ersten Mai in einem breiten Demonstrationszug einfach geradeaus auf die Grenze zu, so weit es geht und bleiben da friedlich stehen und gucken rüber. Was für eine gewaltige Demonstration wäre das gewesen, dies massenhafte Rübergucken. Aber sie waren nur als Einzelne unterwegs, hastig, gesenkten Kopfes, und sie bogen immer ab, wo sie früher drauf zugegangen waren. Es war allem Anschein nach noch dasselbe Land, in dem sie herumliefen und abbogen. Aber sie selbst waren offenbar dabei, andere zu werden. Und irgendwann war aus dem lichten Zukunftsstaat ein muffiger Innenraum geworden, halb zugewachsene Fenster. Und die ganz normalen Leute ein bißchen verkrabbelmonstert.

„Irgendwann glaubte ich auch den Kiefern nicht mehr"



Ich wurde den ungläubigen Blick nicht mehr los, er war von DDR-internen Erlebnissen bestätigt worden. Irgendwann glaubte ich auch den Kiefern nicht mehr, die mir in meinem Teil Deutschlands erreichbar waren, die mir eigentlich so nah wie nah, so entfernt wie entfernt hätten sein können, die also zum Beispiel, wenn sie auf dem großen Ravensberg standen, und ich sie vom Bahnhof Bergholz aus sah, wirklich eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt hätten gewesen sein können, wenn ich nicht das Kindheitsbild dieser Drübenbäume im Kopf gehabt hätte als Metapher für eine in meinen Studien- und ersten Berufsjahren gewonnene Distanz zu dem, was mir hätte nahe sein sollen, das Selbstverständliche, meine Welt, die rechtselbische Halbwelt. So saß ich denn öfter auf Bahnhöfen und stierte in die Ferne, anstatt Fußmärsche zum Erreichbaren zu unternehmen.

Um doch irgendwie klar zu sehen, hab ich mich für den Blick von außen entschieden. Hab von Drüben rübergeguckt in mein Land, von dem Ausguck am ehemaligen Übergang, von dem mein Westbruder mir zugewinkt hatte. Ein Blick, der schwer auszuhalten ist, wenn man vom Ausguck nicht wieder herunterkommt, weil man ja nicht im Westen lebt. Der einen irgendwann nötigt, das Land wirklich zu verlassen.

„Wir wußten, daß man der Mauer nicht entkam, wenn man sie übersprang"


Der Grenzstreifen nahe Dreilinden Anfang der 90er Jahre
Mein Freund Klaus, mit dem ich am 13. August staunend vor dem geschlossenen Grenzübergang gestanden hatte, ist ein paar Wochen später abgehauen, wie man damals sagte. Am Abend vorher war er bei mir. Er stellte mir die rätselhafte Frage, was ich davon halten würde, wenn er eines Tages verschwunden wäre. Ich fragte nach, wie er das meine, mehr wollte er aber nicht sagen, die Frage habe keinen konkreten Anlaß, er frage nur mal so. Ich kann mich nicht erinnern, wie dieses letzte Gespräch fortging, ich erinnere mich nur an diesen kleinen Testballon. Brauchte er Ermutigung, wollte er zurückgehalten sein, ich weiß es nicht. Ich begriff überhaupt nicht, worauf er hinauswollte. Dann war er wirklich verschwunden, und es sickerte die Nachricht durch, er sei mit seinem Bruder und seiner Mutter durchgekommen, als sein Bruder auch den Vater holen wollte, seinen sie erwischt worden. Nun sei Klaus mit der Mutter im Westen, der Bruder mit dem Vater im Knast. Was sich wohl auch deshalb herumsprach, weil es ein abschreckendes Beispiel war. Die Sätze, die es einen Fehler nannten, jetzt noch durchkommen zu wollen, nahmen zu, und sie meinten immer auch, daß es überhaupt ein Fehler sei, rüber zu wollen. Ganz unabhängig von der offiziellen Propaganda, nein, ganz unabhängig wohl doch nicht, legten wir uns Sätze zurecht, die uns aushalten ließen, was wir nicht ändern konnten. Eine gesunde Reaktion. Aber das hat uns nicht besser gemacht. In den ersten Jahren nach dem Mauerbau kursierten einige solcher Geschichten vom Verschwinden. Ich erinnere mich, daß sie etwas Peinliches hatten, daß man sie ungern hörte und weitergab. Es war eine Atmosphäre entstanden, in der über Fluchtversuche nur nebenhin geredet wurde. Wenn es das offizielle Schweigegebot nicht gegeben hätte, dann hätten wir es uns erfinden müssen. Es war immer auch ein willkommenes Alibi, um das Abgesperrtsein nicht noch näher an sich herankommen zu lassen, als es ohnehin war. Man wußte ja, vielleicht auch ohne es zu wissen, daß man selbst schuld war an der ganzen deutschen Misere. Zumindest aber, dass man unter Besatzung stand, insouverän war. Daher auch blieb der Protest aus, den die Mauer wohl in anderen Ländern nach sich gezogen hätte. Wir wußten, ohne es zu wissen, daß man der Mauer nicht entkam, wenn man sie übersprang.

„Und die Nachrichten kamen von Zehlendorf nach Kleinmachnow wie von einem anderen Stern"


Der Grenzstreifen nahe Dreilinden Anfang der 90er Jahre
Noch im August einundsechzig habe ich meinem Bruder geschrieben, der in Zehlendorf bei der Großmama geblieben war. Ich wollte mich mit ihm am ehemaligen Übergang Düppel treffen. Wollte ihn da leibhaftig stehen sehen, um mich zu vergewissern, daß es ihn und das Drüben noch gab. Und, um dieser blöden Absperrung zu zeigen, daß sie für mich nicht galt. Was da geschehen war, das war mir nicht recht begreiflich ich brauchte Nachhilfeunterricht. Meine Mutter übrigens auch, die wäre fast in der Psychiatrie gelandet, weil sich alles in ihr dagegen wehrte. Mein Vater, der damals schon einigen Einfluß hatte, konnte es ihr ermöglichen, im November einundsechzig zu ihrer Mutter nach Zehlendorf zu fahren. Für einen Tag. Danach, sagt meine Mutter, war es „gut". Ich hab das selbst erlebt, als ich meinen Bruder am geschlossenen Grenzübergang traf, im September zweiundsechzig. Danach war es auch für mich 'gut', ich hab an diesem Tag so einigermaßen begriffen, was geschehen war. Er hatte meine Postkarte wirklich bekommen, auf der in Kinderkrakelschrift für jeden lesbar eine Verabredung an der Grenze getroffen wurde. Wir trafen uns dort, wo ich meinen Bruder immer verabschiedet hatte, wenn er nach dem Wochenende zurück zur Großmama mußte. Mußte, denn am liebsten wäre er bei uns, bei seiner Familie im Osten geblieben, bei der Mutter, dem Halbbruder und dem Stiefvater. Der aber wollte ihn nicht bei sich haben. Den Sohn des GIs, das Kind eines Besatzers. Eines Siegers. Wer weiß, was da alles bei meinem Vater zusammenkam. Lauter unbewußte Sachen, denn so recht wahrhaben wollte er das nicht: daß er den Stiefsohn ausschloß aus der jungen Familie, daß der da drüben bleiben mußte. Das war so eine stillschweigende Übereinkunft, darüber wurde nicht gesprochen, das verstand sich von selbst. Und war doch alles andere als selbstverständlich. Die Mauer kam meinem Vater entgegen. Nun hatten die Umstände entschieden, nun war die Sache für ihn geklärt. Obwohl er den Bruder natürlich immer noch und jederzeit hätte zu sich nehmen können. Aber es war jetzt leichter zu vergessen, weil er ihm nicht mehr unter die Augen kam. Und die Nachrichten von einem Heim, in das die Großmutter ihn hatte geben müssen, und aus dem er immer wieder türmte, kamen von Zehlendorf nach Kleinmachnow wie von einem anderen Stern.

„Beide Hälften dienten einander als Müll-Deponien, zur Geschichtsentsorgung"



Kalisalzkraut (salsola kali) im Asphalt der alten Autobahn bei Dreilinden
Bald darauf trat der Vater auch der Partei bei und redete mir von der braunen Vergangenheit, die da drüben wieder das Haupt erhebe, gegen die wir aber nun gesichert seien. Die Mauer war ja nicht nur hinderlich, sondern auch nützlich. Womit man nichts zu tun haben wollte, womit man nicht zurechtkam, das ließ man hinter ihr zurück, das verwies man nach „drüben". Was ja nicht nur für ihn galt, womit er sich bestätigt finden konnte in der großen Politik: Beide Hälften dienten einander als Müll-Deponien, zur Geschichtsentsorgung. Solange die Mauer stand. Nun fehlt sie, nun ist altes wieder da, was man sich mit ihrer Hilfe glaubte vom Halse geschafft zu haben.

Ich hatte solche Abgrenzungsbedürfnisse nicht, weil ich noch ein Kind war. Mir war die Welt ganz, und diese Schneise und ihre drohende Unnahbarkeit eine freche Lüge. Die wollte ich nicht gelten lassen und kam mir heldisch vor, als ich meinen Bruder am ehemaligen Übergang Düppel traf. Die Grenze war schon ein ganzes Jahr geschlossen und immer weniger Aussicht, daß man sie wieder öffnen würde. Eben waren die provisorischen Zäune durch massive Mauerteile aus Beton ausgetauscht worden. Ich hätte ihn gar nicht sehen können, wenn man nicht im Westen einen Ausguck gebaut hätte. Da hatte er sein neues Rad hochgehievt um es mir vorzuführen. Aber er war so weit weg, daß ich weder sehen noch verstehen konnte, was er mir zeigte. Ich lernte: So einfache Sachen gingen nun nicht mehr. Jedes Wort mußte gebrüllt werden, das nahm den Worten ihre Musik. Sie dienten nicht mehr der Näherung, im Gegenteil, ich sah ihn wegrutschen, während er da gegenüber auf dem westlichen Ausguck stand. Wir haben bald mit dem Gebrüll aufgehört. Ein grüner Lastkraftwagen näherte sich, die Grenzer griffen mich und sperrten mich in eine Zelle, um mich dem Politoffizier vorzuführen. Von nun an wußte ich, daß es ihnen ernst war, und daß diese Grenze wohl doch etwas anderes war, als ein grünes Holzhäuschen, an dem man vorbeigewinkt wurde.

„Dieses Gebüsch, sich hier an den Boden schmiegen, dieser verwachsene Wald als Zuflucht, das hab ich oft geträumt"



Gleise der ehemaligen Stahnsdorfer Friedhofsbahn
Es war ja nicht nur, daß wir der Grenze zu nahe wohnten. Sie log eine Trennung, die ich nicht wahrhaben wollte. Ehrlicherweise hätte ich da durchrennen müssen in die Zäune, in den Kugelhagel. Solang ich das nicht tat, lebte ich unehrlich. Meine Fluchtträume halfen dem ab, solange sie als Pläne, als realisierbare Möglichkeiten erscheinen konnten. Ich war auf sie angewiesen, auf das Schlupfloch, das es da irgendwo und irgendwann für mich geben würde. So nahmen sie Jahr um Jahr den Charakter von Ersatzhandlungen an und blieben unverzichtbar. Gegen meine Ohnmacht erfand ich Träume von dem einen großen Schritt über die grell beschienenen Zäune hin. Von einer gurrenden Riesentaube, auf die ich mich legen, in deren Gefieder ich mich festkrallen wollte. Zur wirklichen Flucht wäre vielleicht die nüchterne Geistesgegenwart vonnöten gewesen, mit der unser Nachbar noch im Oktober Einundsechzig seine Trittleiter flugs an die Mauer rückte und ganz unbemerkt drüberhüpfte. In einem Western hatte ich so ein handbetriebenes Schienenfahrzeug gesehen, eine Draisine. Und ich träumte fortan, damit über die eingleisige S-Bahnstrecke zwischen Stahnsdorf und Wannsee - die sogenannte Friedhofslinie - zu entkommen. Pumpend, mit windgesträubtem Haar auf dem rasenden Gefährt, von Stahnsdorf unbemerkt durch den Wald. Donnernd über die schmale Brücke, die schräg den Teltowkanal quert, im Abendlicht nur ein Schatten, aber weithin hörbar. Durch einen gekrümmten Graben dann am Bahnhof Dreilinden vorbeigehuscht. Da haben sie mich im Visier, doch ich verschwinde schon im Tunnel und entkomme ihnen wenn ich mich hier ins Gebüsch werfe. Dieses Gebüsch, sich hier an den Boden schmiegen, dieser verwachsene Wald als Zuflucht, das hab ich oft geträumt.

„Das lebensgefährliche Niemandsland liegt still um mich herum"



Kolonnenweg der Grenzsoldaten im ehemaligen Grenzgebiet bei Dreilinden
Auf meinem Fußweg vom Bahnhof Wannsee zum Gartenhaus meiner Mutter quere ich die S-Bahn, die wieder ganz selbstverständlich nach Potsdam fährt, und stutze: Gleich hinter der S-Bahnbrücke zweigt eine Straße ab, deren Namen ich aus meiner Kindheit kenne. Hier, so behauptet das Schild, beginne der Stahnsdorfer Damm, auf dem ich früher ins Kleinmachnower Schwimmbad gefahren bin. Ich überprüfte die dreiste Behauptung anhand der Karte - sie stimmt. Der Stahnsdorfer Damm, der hier beginnt, führt, mehrfach unterbrochen, direkt nach Kleinmachnow. Der Karte nach müßten diese beiden Welten zusammenpassen, nur kenne ich die Nahtstelle nicht, die achtundzwanzig Jahre lang Niemandsland war. Keine blasse Ahnung, wie das zusammengehören soll, das Hier und Dort, das Damals und das Heute. So laufe ich auf diesem Stahnsdorfer Damm in Richtung Kleinmachnow, gewärtig, unvermutet in die Welt meiner Kindheit einzubrechen. Der Damm endet schon bald an einem Schießplatz der American Forces, den ich weiträumig umgehen muß. Dahinter setzt er sich fort, kaum mehr erkennbar unter altem Laub, er steigt an, überbrückt eine alte unbenutzte Autobahn und bricht ab. Ich stehe auf der Brücke des unterbrochenen Stahnsdorfer Dammes, über dem am Grenzübergang Drewitz abgetrennten Wurmfortsatz der Reichsautobahn. Der Blick auf diese zweispurige Betonpiste, die von den Rändern her zuwächst, die zwischen hohen Kiefern mit sanfter Krümmung im Wald verschwindet ... Was ist daran so faszinierend? Was treibt mich da hinunter und entlangzulaufen, auf einer leeren Autobahn? Daß ich sie nun allein benutzen darf, und als Fußgänger, der hier sonst breitgefahren würde? Als Grenzgänger, der hier vor kurzem noch im Kugelhagel gestanden hätte? Das quasi Lebensgefährliche ist es wohl, was diesen Spaziergang so vergnüglich macht. Das lebensgefährliche Niemandstand liegt still um mich herum. Etwas wird hier verschwiegen, etwas hallt hier nach. Diese Traumpiste hat hier all die Jahre gelegen und auf mich gewartet: daß ich da entlangrenne. Sie ist übers Warten gealtert und schließlich zugewachsen. Wie mein brennender Wunsch, hier irgendwann einmal entlangzurennen gealtert und zugewachsen ist. Verwachsene, verwilderte Lebenspfade. Die verschwundene Autobahn, über die man in den ersten Nachkriegskarossen fuhr, ist wieder aufgetaucht aus dem Grenzversteck. Wozu mag sie inzwischen gedient haben, wer oder was fuhr dort entlang? Nur immer die Grenzer auf ihren müden Motorrädern? Oder doch ein Gespenst? Die Verwilderung im Grenzstreifen ist so viel wahrer als die Kulissen und Kaschuren, darein ich aufwuchs, und die man für ein Neues Deutschland ausgab. Ich sehe hier einen Fliegenden Holländer auf und ab fahren, den Nachkriegsmann in seinem offenen Borgwart-Isabella. Seit Jahrzehnten gefangen auf dem gekrümmten Stück Autobahn, fährt er fröhlich seine Strecke, Glen Miller im Radio, den offenen Himmel vorm Bug, er ist nicht gealtert.

„So eine Gegend ist das, durchzuckt von riskanten Aktionen"


Stufen des alten S-Bahnhofs Dreilinden
Hinter der Kurve taucht der Koloß einer Brücke auf, die nichts Wichtiges mehr überbrückt und nichts mehr trägt als liegengelassene Schotterstreifen, zwischen denen halbhohe Birken und Robinien stehen. Hier quert die nach dem Krieg demontierte Stammbahn zwischen Berlin und Potsdam das aufgegebene Stück Autobahn. Viel Aufwand, die große Geste reichsstädtischer Verkehrsplanung. Es sieht wie eine späte Eroberung aus und ist das Gegenteil. Tote Geleise, Pisten, Peitschenlampen. Ein paar vertrocknete Disteln. Das jetzt so schutzlos vor mir liegen zu haben, es anglotzen zu dürfen, das so lang Verborgene, das Allerheiligste der Grenze. In ihre geheimsten Regionen vorgedrungen. Das unberührte, das geschändete Niemandsland zur Besichtigung freigegeben. Schauplatz meiner Fluchtträume: Als ich über diese Autobahn gehe, ist mir, als hätten sie auf die Landschaft abgefärbt. Sieht wie eine leblose Gegend aus, springt aber jemand um sein Leben über diese Piste hin; springt vor peitschenden MPi-Salven mit einem einzigen Sprung von Straßenrand zu Straßenrand, hechtet mit aufgerissener Beinschere ins Unterholz. So eine Gegend ist das, durchzuckt von riskanten Aktionen.

„Ausgewachsene Bäume auf einem Bahnsteig, den ich als reinlich gefegt in Erinnerung habe"

Der Grenzstreifen nahe Dreilinden Anfang der 90er Jahre
Wo bin ich jetzt, was liegt rechts, was links von mir? Bin ich auf dem Mond? Den Eingang in dieses Zwischenland kenne ich, den Ausgang auch. Ich bin in ein Nirgendwo geraten. Wenn es doch einen Turm gäbe, an dem ich mich orientieren könnte. Wenn man das doch einmal von oben sehen könnte, wie es vordem immer verboten war, weil von oben her das Zusammenhängende deutlicher ist als das Trennende. Das Trennende ließ sich nur aus der Horizontalen aufrechterhalten. Sobald man in die Vertikale ging, fiel es hin. Unsere manischen Träume vom Fliegen.

Bahngeleise verrotten im Trassengraben, das muß die eingleisige Stahnsdorfer Friedhofsbahn sein, der Bahnhof Dreilinden ganz nahe. Ich folge der Trasse, bald schon unterquert sie die aufgegebene Straße nach Kleinmachnow, den Teerofendamm, und wird von Sand verschlungen, verschwindet unter der aufgeschütteten Grenzschneise, wo einst ein Tunnel war. Hier wäre ich gescheitert mit meiner Draisine. Oder ich hätte mich in den Sand gebohrt. Die Sandmassen über den Schienen sehen noch heute so aus, als müßte man sich da hineinwühlen.

Der S-Bahnhof Dreilinden ist zugewachsen. Hier sind die 28 Jahre mit Händen zu greifen: ausgewachsene Bäume auf einem Bahnsteig, den ich als reinlich gefegt in Erinnerung habe. Wildwuchs, Verwilderung, Unkraut. Wie lang braucht so ein Draht, um da einzuwachsen. Was geschah uns in dieser Zeit. Werde ich Antwort finden bei diesen schlichten Metaphern, die ich anfassen kann mit allen zehn Fingern: Draht im Baum, Draht essender Baum, eingewachsener Draht im ausgewachsenen Baum? Jetzt kann ich es anfassen. Aber begreifen?

Als Zeichen der Schuld an allerart Grenzverletzungen, die in unserem Namen begangen worden waren, hatten wir die Grenze im eigenen Land? Die Grenze als eine Nötigung, den Nachkriegs-Zustand anzunehmen als den a-normalen, der es war und sein mußte, wenn daraus etwas gelernt werden sollte? Etwas daraus zu lernen, hätte aber vorausgesetzt, daß man sich über Jahrzehnte hin nicht an sie gewöhnte. Sie nicht irgendwann als Teil des Alltags nahm. Das konnten nur Märtyrer. Sie war ein Mahnmal und sie hatte ihre Zeit. Erst nach ihrer Zeit wird sie als das große Zeichen unseres Scheiterns bewußt.

„Die deutsche Grenze, auf die ich jahrzehntelang scharf war, ist erloschen wie die Neonpeitschen darüber"

Hinweisschild für Spaziergänger im Kleinmachnower Buschgraben
Wir hatten unsere Lektion Bescheidung zu lernen - über die Hungers- und Wohnungsnöte des unmittelbaren Nachkriegs hinaus. Ich wuchs in eine Sühnelandschaft hinein, entwickelte das Selbstbewußtsein eines schuldig Geborenen. Gab meinen Kindern jüdische Namen, um die immerhin aufzurufen, deren Asche der Boden war, auf dem ich täglich ging. Erlernte ein politisches Verhalten, das mich nicht in die Gefahr brachte, mitschuldig zu werden an den Verbrechen meines Staates, wie es meinen Eltern geschehen war. Wachsam, couragiert sein, den Mund aufmachen, auch öffentlich. Das waren die Lehren, die der Sühnezeit einen Sinn gaben. Daß wir im Osten damit wiederum ins Messer liefen, steht auf einem anderen Blatt. Und dies Ins-Messer-Laufen war wohl auch deshalb so gemäßigt, so ungewiß und so verschwommen, weil die Genossen selbst mehr oder weniger deutlich das Paradoxon ihres Antifaschismus empfanden, unter dessen Regime das schuldige Volk über seine politische Unmündigkeit, die eben hätte überwunden werden sollen, nie hinauskam.

Die Querwege im Westen so nahe der Schneise ... Wer ging da spazieren? Konnte man das? Konnte man so nahe heran, und es geschah einem nichts? Was war diese Grenze von hier aus? Jedenfalls etwas ganz anderes, es ist diesen Spazierwegen anzusehen. Die deutsche Spalte. - Dem Monstrum wenigstens einen Namen geben. Einen Namen, den es immerhin von mir hat, wenn es sich auch sonst nicht hat beeindrucken lassen von meinen Sperenzchen. Ich hab über sie hin und gegen sie an geträumt, aber das hat sie nicht erschüttert. Nun ist von dem Mysterium der Spalte nur ein Streifen staubigen Sandes geblieben; ich werde sie nie erobern können.

Die deutsche Grenze, auf die ich jahrzehntelang scharf war, ist erloschen wie die Neonpeitschen darüber. Das ist jetzt wieder die brave alte Stammbahntrasse, eine schnurgerade breite Schneise durch den Düppler Forst. Weit hinten treffen sich, bläulich verschwimmend die Kiefern von rechts und links. Wenn meine Enkel hier vielleicht wieder mit der Eisenbahn von Berlin nach Potsdam fahren wie einstmals die Könige und Kaiser, werden sie hinter dem Fenster Bäume sehen, Straßen, Häuser. Und nichts als das. Nichts wird von dieser Grenze erzählen und ihrer tödlichen Verweigerung. Ich werde das nie so sehen können wie sie. Sie werden es nie so sehen können wie ich.

„Man läßt das erstmal so liegen, dies überanstrengte Stückchen Erde"

Wanzensamen im ehemaligen Grenzstreifen
Ich komme aus einer Richtung, die absolut unmöglich ist. Wie sollte ich ihnen das erklären? Komme durch deren Rand hindurch in meine Kinderwelt. Auf dieser Straße haben wir Völkerball gespielt. Der alte Wandel kratzt noch genau wie damals im Garten herum, sieht auf, erkennt mich nach zwanzig Jahren! Die letzte randständigste Straße, die ich jetzt von außen her betreten habe, krümmt sich noch wie eh und je von der Grenze weg. Es gibt keinerlei Anzeichen, daß dies jetzt keine Sackgasse mehr sein soll, daß dies plötzlich etwas anderes wäre als äußerste Peripherie, daß man von hier aus irgendwo anders hin käme als wieder zurück, ins Landesinnere. Von meinem Trampelpfad abgesehen. Das einzige, was man sich bis jetzt an Verbindung leistet zwischen HIER und DORT, sind diese Trampelpfade. Man läßt das erstmal so liegen, dies überanstrengte Stückchen Erde.

Hier ist das Revier, in dem ich zu Hause war, und das nun plötzlich nach einer Seite hin offen sein soll, wo es immer eine Wand hatte. Ein leichter Wind kommt auf, und ich werde das Gefühl nicht los, daß es zieht, Zugluft von der rausgebrochenen Wand. Das Revier zu erweitern oder zu begrenzen ist wohl schwerer als es zu wechseln. Die alte Stadt Lassahn liegt am Schaalsee, dessen Ufer dreißig Jahre lang Grenzgebiet war. Unten am See sieht man nur Kinder baden und angeln. Die Badestelle hat noch heute einen merkwürdig provisorischen Charakter. Nichts Wiedergewonnenes, wieder in Besitz Genommenes, sondern ein geduldeter Übergriff der Unmündigen, als wäre in Lassahn nie gebadet und geangelt worden, als gäbe es nicht die jahrhundertealte Vorgeschichte der Absperrung, die in ein paar Jahrzehnten zur Gewohnheit wurde. Von jedem Punkt des Ortes aus ist der See zu sehen. Der schmale, tiefklare Schaalsee, von dem her Lassahn sich gründete, von dem es über die Jahrhunderte lebte, von ihm mußte man lernen, gründlich abzusehen. Es hätte zu weh getan, täglich erinnert zu werden, daß man an diesem Ufer lebt. Der aufgesparte Schmerz steht jetzt bevor und muß nachgeholt werden, wenn man wieder die paar Schritte hinuntergeht zum See.

Sich immer bewußt zu bleiben, daß ein Zustand, der das halbe Leben währte, und an den sich zu gewöhnen einiges gekostet hat, nur ein Zwischendurch war: Sich dessen immer bewußt zu bleiben, ist wahrscheinlich nicht zumutbar. Sich dessen jetzt wieder bewußt zu werden, muß zumutbar sein.

„Was haben wir mit uns machen lassen ..."

Kalisalzkraut (salsola kali) im Asphalt der alten Autobahn bei Dreilinden
Angekommen in Mutters Küche. Da sitzt der Bruder, der nach der Scheidung vor dreißig Jahren aus dem West-Heim zu ihr in den Osten kam. Seither wohnen sie zusammen, von kurzen Unterbrechungen abgesehen, mißlungenen Versuchen, einander noch einmal loszulassen. Aber davon reden wir nicht. Wir reden von der Grenze. Mit ihrem botanischen Kennerblick hat die Mutter das Terrain untersucht. Sie berichtet von seltenen Dünengewächsen und besonderen Vogelarten, von urwaldartigen Biotopen im Kleinmachnower Buschgraben, die da in ungestörten Jahrzehnten hatten wachsen können. Verwilderter Wein, Erlen, Schwertlilien und Hartriegel stehen im Wasser. Im Dickicht brüten Sumpf- und Teichrohrsänger, man hört Nachtigallen und Zaunkönige. Ich würde sie nie direkt fragen können: Mutter, was ist mit UNS geschehen in den Jahren, was haben wir mit uns machen lassen. Sie verabscheut die Art von Pathos, der ich zuneige. Aber ich höre genau zu, wenn sie mir nebenhin von den anspruchslosen Kräutern erzählt, die jetzt den Todesstreifen bewohnen. Vom Kalisatzkraut, das starr und pieksig im Sand der Schneise kauert, das sich in trockenen Sommern schreiend rot färbt, mangels Wassers. Von Wanzensamen und blauem Igelgras, zähen, störrischen Gewächsen, die auf Sparflamme leben, deren Leben daraus besteht, zu überdauern, abzuwarten. Im Winter lassen sie los, werden losgerissen und kollern mit dem harschen Wind über vergifteten Sand. So streut das Kraut seinen Samen aus, läßt sich verwehen, bleibt hängen in den Resten rostiger Elektrozäune. Die Grenzschneise wird lange nicht zuwachsen; da wächst so gut wie nichts, weiß meine Mutter, zu viel Pestizid im Boden. Ob man das nicht mit einem Gegengift neutralisieren könnte, fragte ich sie. Nein, sagte sie, das muß sich selbst heilen, das braucht Zeit.
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