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Kowalczuk, Ilko-Sascha: DDR-Geschichte

(Auszug)

Das Jahr 1961


Nach dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 bemühte sich die SED-Führung, die Auseinandersetzungen um „revisionistische und objektivistische Tendenzen" zu beenden. Jetzt kam der Entwicklung eines „sozialistischen Bewusstseins" und dem forcierten „Aufbau des Sozialismus" im Zusammenhang mit der „nationalen Grundkonzeption" eine besondere Bedeutung zu. Bis 1961 sollte die DDR die Bundesrepublik „erreichen und übertreffen". Dazu bedurfte es nicht nur ökonomischer und politischer Anstrengungen, sondern ebenso ideologischer Eingriffe, um ein „neues Bewusstsein" bei den Menschen herauszubilden. Dieser „neue Mensch" sollte sich dadurch auszeichnen, dass er den Weisungen der Parteiführung unbedingt Folge leistet und die Wendungen der Politik kritiklos und ohne oppositionelles Aufbegehren mitträgt. Der Mauerbau war nicht nur eine Bewährungsprobe für den „neuen Menschen", sondern speziell für die Intelligenz.

In seinem Vorfeld verschlechterte sich die Stimmung beinahe stetig. Anfang August 1961 mobilisierte die SED ihre Parteigruppen an den Hochschulen. Ohne dass genau gesagt worden wäre, was geschehen wird, herrschte erhöhte Alarmbereitschaft. Unmittelbar nach dem 13. August war die Lage an den Hochschulen zunächst ruhig - es waren Semesterferien. Da parteiliche Kräfte an den Hochschulen zusammengezogen worden waren, überrascht es auch nicht, dass in den ersten Stimmungsberichten die Zustimmung zu den „Maßnahmen" überwog. Allerdings ist auch schon in dieser Zeit vielfach die Meinung vertreten worden, der Mauerbau sei einem bevorstehenden Zusammenbruch der DDR zuvorgekommen. Und „wenn die Regierung der DDR Panzer und Bajonette auffährt, dann bestätigt das, wie wenig Freiheit es gibt". Aus der Bergakademie Freiberg etwa wurde gemeldet, „bevor solche rigorosen Maßnahmen getroffen werden, hätte man besser den Lebensstandard erhöhen sollen, durch das Abriegeln der Grenzen hat die Regierung der DDR jetzt die Möglichkeit, unsere eigenen Arbeiter zu unterdrücken und auszubeuten". Der Propaganda, wonach sich der Mauerbau gegen die „Rollback-Politik" des Westens richte, wurde häufig die rhetorische Frage entgegengehalten, „warum die Kampfgruppen mit dem Gewehr nach Osten und mit dem Rücken zum Brandenburger Tor stehen. Sind die Gewehre', so fragt man, gegen unsere Bevölkerung gerichtet'"?

Die Intelligenz verhielt sich zurückhaltend und abwartend. Zwar waren kaum zustimmende Meinungsäußerungen zu vermelden, aber ebenso hielten sich direkt ablehnende in Grenzen. Vielerorts argwöhnten Intelligenzler, dass die sozialen Zugeständnisse nunmehr rückgängig gemacht würden, weil die Gefahr der „Republikflucht" weitgehend gebannt sei. Außerdem befürchteten viele, dass man nun endgültig vom internationalen Wissenschaftsbetrieb abgeschnitten sei und die Einheit der deutschen Wissenschaft, an die insbesondere im Osten noch viele glaubten, zerbreche. Ausgesprochen feindlich gegenüber der SED trat nur eine kleine Minderheit auf. Dies passte in den Gesamtkontext. Zwar sind bis zum 4. September 1961 insgesamt 6 041 Personen aus allen Bevölkerungskreisen verhaftet und davon 3 108 inhaftiert worden, zumeist wegen Hetze und Staatsverleumdung, aber es kam nicht zu mehr Streiks als in vergleichbaren Zeiträumen der Vorjahre. Obwohl nach dem Mauerbau die größte Verhaftungs- und Verurteilungswelle seit 1953 losbrach, sind die meisten „strafbaren Handlungen" Aktionen Einzelner gewesen, sodass im Gegensatz zu 1953 die allgemeine Lage relative Entspanntheit vermittelte. Die Erklärung für die relative Ruhe liegt auf der Hand: Die Bevölkerung hatte seit 1953 lernen müssen, ihre Ablehnung zu verbergen. Zustimmung zu ihrer Politik konnte die SED nicht erwarten, aber eine offene Rebellion brauchte sie angesichts des Waffenmonopols und der sowjetischen Panzer im Lande ebenfalls nicht zu befürchten. Die meisten Intelligenzler verhielten sich nicht anders als Arbeiter und Bauern.

Ab Ende August 1961 begann sich an den Hochschulen die Situation allmählich zu verschärfen. Die Berichterstatter notierten, dass zwar die meisten mit irgendwelchen Maßnahmen gerechnet hatten, aber kaum jemand den Bau einer Mauer mitten durch eine Stadt für möglich gehalten hatte. Immer häufiger artikulierten Hochschullehrer und Studenten, die DDR habe sich ins Unrecht gesetzt: „Man redet von Einheit, aber man zieht Stacheldraht." Ein Institutsdirektor aus Dresden sagte gar: „Wenn ich gewusst hätte, dass die am 13. August solche Maßnahmen ergreifen, wäre ich nie bei den Nazis ins Zuchthaus gegangen und wäre auch nicht in die DDR gekommen." Mit einem Parteiausschluss kam dieser Mann glimpflich davon. Zugleich steigerte sich der Unmut unter den Wissenschaftlern, weil alle bezweifelten, dass die geplante „Störfreimachung" auch nur den Hauch einer Chance hätte zu gelingen. Ohne westliche Apparaturen, Gerätschaften, Bücher und Fachzeitschriften sei eine „normale" Wissenschaft nicht mehr möglich.

Der Mauerbau zog an den Universitäten und Hochschulen kurzfristig zwei Konsequenzen nach sich. Zum einen flüchteten Hunderte Universitätsangehörige in den Westen, vom Professor bis zum Studenten und Angestellten. Allein an der Berliner Charité fehlten nach dem 13. August über fünfzig Ärzte, nahezu jeder zehnte der dort beschäftigten Ärzte. Das hing auch damit zusammen, dass gerade in Berlin eine Reihe Mediziner, Natur- und Agrarwissenschaftler noch immer im Westteil der Stadt wohnten. Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld des 13. August 1961 flohen mehr Studenten und Wissenschaftler als in den Jahren 1959 oder 1960 insgesamt.

Die zweite kurzfristige Folge der Absperrmaßnahmen waren scharfe Auseinandersetzungen der SED mit einzelnen Personen, die sich kritisch gegenüber der kommunistischen Politik äußerten. An der Humboldt-Universität zu Berlin kam es nach dem 13. August 1961 zu 57 parteiinternen Verfahren. Die eigentlichen Auseinandersetzungen spielten sich jedoch zwischen SED-Leitungen und staatlichen Behörden (Staatssekretariat für Hochschulwesen [SfH], MfS) einerseits und Universitätsmitgliedern, die nicht der SED angehörten, andererseits ab. Es kam an allen Universitäten und Hochschulen zu Relegationen und Exmatrikulationen, allein an der Universität in Leipzig bis zum 22. September 1961 zu insgesamt 54. Die Gründe waren allesamt politischer Natur, weshalb einige der exmatrikulierten Studenten vom MfS verhaftet und verurteilt wurden. Im Zusammenhang mit dem Mauerbau erfolgten 227 Exmatrikulationen, wobei die höchsten Anteile auf Leipzig und Berlin entfielen. Es gab darüber hinaus fast doppelt so viele Disziplinarverfahren. Bis Anfang Januar 1962 sind wegen oppositioneller Handlungen gegen den Mauerbau mindestens 30 Studenten und Studentinnen verhaftet und verurteilt worden. An der Humboldt-Universität betraf das bis zum 11. September 1961 allein mindestens 15 Studierende.

Der wichtigste Anlass für heftige Diskussionen an den Universitäten war neben dem Mauerbau die forcierte Militarisierung und die Einführung der Wehrpflicht. Nach anfänglichem Zögern der Studierenden konnte schon bald gemeldet werden, dass rund neunzig Prozent der Studenten den Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee (NVA) ableisten würden. Die Berichterstatter räumten ein, dass die hohen Prozentzahlen „nicht darüber hinwegtäuschen [dürften], dass bei vielen Studenten noch erhebliche Unklarheiten bestehen". Vor allem äußerten viele Studenten, dass sie nicht auf ihre „deutschen Brüder und Schwestern" schießen würden.

1961 gab es im Gegensatz zu 1953 oder 1956/57 kaum graduelle Unterschiede im Verhalten zwischen den einzelnen sozialen Gruppen und Schichten, die Ablehnung des Mauerbaus war allgemeiner Natur. An den Universitäten existierten aus zwei verschiedenen Gründen Unruheherde. Zum einen sollte die studentische Jugend ihre ideologische „Feuertaufe" bestehen, indem sie sich als „Avantgarde" an der weiteren Militarisierung der Gesellschaft beteiligte - eine Vorgabe der SED-Führung, die trotz beachtlicher Widerstände weitgehend und schnell umgesetzt wurde. Zum anderen erfolgten eine Reihe politischer Auseinandersetzungen mit Hochschullehrern, die durch den Bau der Mauer ihre wissenschaftliche Arbeit bedroht sahen. Vor allem Naturwissenschaftler, Human- und Veterinärmediziner befürchteten, in Zukunft vom westdeutschen und internationalen Wissenschaftsbetrieb vollends isoliert zu werden. Weil der Mauerbau die Arbeitsbedingungen der Wissenschaftler in einem höheren Maße als die der Arbeiter beeinträchtigte, kam es nach dem 13. August 1961 an den Universitäten teilweise zu schärferen Auseinandersetzungen als in den Betrieben. In Jena etwa flüchtete nach jahrelangen Auseinandersetzungen der angesehene Mathematiker Walter Brödel noch nach dem Mauerbau in den Westen. An der Universität waren beinahe einhundert Agitatoren eingesetzt, um die Universitätsangehörigen über das „schändliche Treiben" von Brödel aufzuklären. Dazu kamen Zeitungsartikel, Flugblätter und die obligatorischen Stellungnahmen, auch aus Großbetrieben Jenas. Die Historiker der Universität forderten pflichtgemäß, „Prof. Brödel jede Möglichkeit zu entziehen, an unserer Universität weiterhin gegen unsere gemeinsamen Aufgaben und Ziele zu wirken".

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Neben den vereinzelten Protesten und dem mehrheitlichen Schweigen der Intelligenz artikulierte sich aber in weitaus umfangreicherem Maße als 1953 oder 1956/57 offene Zustimmung zum Mauerbau und zur SED-Politik. Dafür existieren Beispiele aus allen Hochschulen, Fakultäten und Instituten. Besonders einhellig äußerten sich die Gesellschaftswissenschaftler, wobei als Beispiel auf die Historiker verwiesen wird. Denn im Gegensatz zu den medizinischen, veterinärmedizinischen und naturwissenschaftlichen Fakultäten, an denen „in breitem Umfang Unverständnis für die Maßnahmen vom 13. August" herrschte, zählten die Historischen Institute zu den ideologischen Vorposten an den Universitäten. Die Historiker gehörten zu den wichtigsten geistigen Vorkämpfern und den ideologischen Maurern der Mauer. Nach dem Mauerbau bekannte sich ein „weltoffener Historiker" wie Walter Markov „vorbehaltlos und öffentlich zur Politik von Partei und Regierung". In Berlin warfen die „Genossen Historiker" die Frage auf: „Warum gibt es bei uns an der Universität keine Kampfgruppe? Es sei notwendig, dass auch wir über einen festen Einsatzstamm verfügen, der notfalls mit Waffen umzugehen versteht." Der „bürgerliche" Historiker Eduard Winter erteilte den „politischen und ideologischen Dunkelmännern der Vergangenheit, die sich in Westdeutschland wieder die Macht erschlichen haben" eine Absage. [...]

Quelle: Politik und Zeitgeschichte (B 30-31/2001), S. 27ff.

Aus Politik und Zeitgeschichte (B 30-31/2001), S. 22-30

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