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Deutschlandradio Berlin, Kalenderblatt 15. Juni 1961, vom 15. Juni 2001

Walter Ulbrichts Pressekonferenz vom 15. Juni 1961

Deutschlandradio Berlin, Kalenderblatt 15. Juni 1961, vom 15. Juni 2001

Sendemanuskript

In der Geschichte der Berliner Mauer spielen zwei Pressekonferenzen mit völlig unvermuteten Äußerungen eine zentrale Rolle. Am Ende, am 9. November 1989, gab Günter Schabowski auf eine beiläufige Frage eines Journalisten die Antwort, die zum Mauerfall führte. Am Anfang, am 15. Juni 1961, stand Walter Ulbricht in einer Pressekonferenz Rede und Antwort. Da tat er den merkwürdigen Ausspruch, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten. Vor 40 Jahren war das.

„Hier sind alle Sender des deutschen demokratischen Rundfunks. Auf einer stark besuchten internationalen Pressekonferenz beantwortete heute der Vorsitzende des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Walter Ulbricht, aktuelle Fragen zum Thema Friedensvertrag und zum Westberlin-Problem. Wir übertragen Ihnen nun Ausschnitte aus dieser bedeutsamen Pressekonferenz."

So kündigte der DDR-Rundfunk seine fast zweistündige Sondersendung vom 15. Juni 1961 an. Tatsächlich war die Pressekonferenz mit über 300 internationalen Teilnehmern außergewöhnlich gut besucht. Der Grund dafür war, dass die Sowjetunion und die DDR die deutsch-deutschen Verhältnisse neu und endgültig regeln wollten.

„Die Sowjetregierung schlägt vor, schon jetzt ohne jede Verzögerung eine Friedenskonferenz einzuberufen, einen Friedensvertrag abzuschließen und auf dieser Grundlage die Frage West-Berlins als einer freien Stadt zu lösen."

So hieß es in einem Memorandum der Sowjetunion vom 4. Juni 1961. Bis auf den Vorschlag, auch gleich einen Friedensvertrag abzuschließen, entsprachen die vorgesehenen Regelungen dem Vorschlag, den die UdSSR bereits 1958 gemacht hatte. Damals hatte sie verkündet, dass sie sich nicht mehr an das Potsdamer Abkommen, das die Präsenz der Alliierten in Berlin garantierte, gebunden fühle. West-Berlin sollte, so der Vorschlag, eine selbstständige freie politische Einheit werden. In die Belange dieser Stadt dürfte sich kein anderer Staat - erst recht keiner der beiden deutschen - einmischen. Die Kontrolle über alle Verkehrswege nach West-Berlin sollte allerdings bei dem Land liegen, über dessen Territorium sie führten - bei der DDR. Die Sowjetunion gab dem Westen bei diesem „Berlin-Ultimatum" 6 Monate Zeit, einer solchen Regelung zuzustimmen. Andernfalls würde sie separate Abkommen mit der DDR schließen. Die Antwortnote der USA war deutlich:

„Die Regierung der Vereinigten Staaten wird eine einseitige Aufkündigung der übernommenen Verpflichtung seitens der sowjetischen Regierung hinsichtlich des freien Zugangs nicht akzeptieren."

Die USA machten klar, dass sie bereit waren, diesen Zugang auch militärisch zu verteidigen. Das Ultimatum verstrich und das Problem „Westberlin" blieb bestehen. Ein Problem vor allem für die DDR, denn dem Arbeiter- und Bauernstaat gingen die Arbeiter aus. Allein 1960 flüchteten 199.000 DDR Bürger in den Westen .Zumeist über Berlin, denn die 1.400 Kilometer lange grünen Grenze zur Bundesrepublik war bereits seit 1952 gegen „Republikflucht" gesichert. In Ost-Berlin allerdings konnte man in die S-Bahn steigen und für 20 Pfennig das politische System wechseln. Dass die DDR und die Sowjetunion irgendwann etwas dagegen unternehmen würden, war allen Beobachtern klar.

„Jetzt betritt der Vorsitzende des Staatsrates, Genosse Walter Ulbricht, den Saal. Die Konferenz beginnt. Meine Damen und Herren! Auf der Tagesordnung des Jahres 1961 steht – das weiß heute jeder – der Friedensvertrag mit Deutschland und die Lösung des Westberlinproblems."

Es war ein aufgeräumter und zuversichtlicher Walter Ulbricht, der sich den Fragen der Presse stellte. Die weltpolitische Situation im Frühsommer 1961 schien günstig für den Osten. Im April des Jahres hatten die USA mit der gescheiterten Invasion Kubas ein außenpolitisches Desaster erlebt und standen in weiten Teilen der Welt als imperialistischer Aggressor da. Demgegenüber war die Sowjetunion nach Gagarins Weltraumflug im Meinungshoch und strotze geradezu vor Selbstbewusstsein.

„Sie stellen die Frage, ob Westberlin das Recht haben wird, wirtschaftliche und finanzielle Unterstützung von anderen Staaten anzunehmen. Meine Meinung hierzu: Die freie Stadt Westberlin hat natürlich das Recht, nach Belieben wirtschaftliche Verträge abzuschließen. Sie kann Handelsverträge abschließen. Sie kann Schulden machen, so viel es ihr beliebt."

Die Schlüsselfrage der Pressekonferenz war jedoch eine andere, denn die Journalisten wussten um das Problem des Menschenschwunds in der DDR.

„Vine, Daily Mail. Glauben Sie nicht, dass jeder Deutsche, wenn das verwirklicht wird, das Recht haben sollte, sich innerhalb beider Teile Deutschlands frei zu bewegen und dass dieses Recht im Friedensvertrag verankert werden sollte? Ulbricht: Die Bewegungsfreihit aller Deutschen in beiden deutschen Staaten hängt davon ab, was die vier Mächte und die beiden deutschen Staaten als Verhandlungsergebnis fertig bringen."

In diesem Zusammenhang fragte eine westdeutsche Journalistin nach.

„Doherr, Frankfurter Rundschau: Bedeutet die Bildung einer Freien Stadt Ihrer Meinung nach, dass die Staatsgrenze am Brandenburger Tor errichtet wird? Und sind Sie entschlossen, dieser Tatsache mit allen Konsequenzen Rechnung zu tragen?"

Ulbrichts Antwort:

„Ich verstehe Ihre Frage so, dass es in Westdeutschland Menschen gibt, die wünschen, dass wir die Bauarbeiter der Hauptstadt der DDR dazu mobilisieren, eine Mauer aufzurichten. Mir ist nicht bekannt, dass eine solche Absicht besteht. Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!"

Keiner der anwesenden Pressevertreter hatte nach einer Mauer gefragt. Ohne Not offenbarte Ulbricht, was zwei Monate später geschehen sollte. Aufgefallen war dies damals jedoch niemandem.

„Bonn. Wer ist Herr Ulbricht? Bundestagspräsident Dr. Gerstenmeier antwortet auf die Pressekonferenz des Zonendiktators."

So kündete der RIAS die erste westdeutsche Stellungnahme an.

„Ich glaub, dass diese Pressekonferenz auch dem relativ Einfältigen klar machen kann, wo der Hase hinläuft, denn, meine Herrn: Wer die Luftkontrolle zu dieser freien Stadt in der Hand hat, der hat den Schlüssel für den Panzerschrank, der braucht nur rumzudrehen, den Schlüssel in die Tasche stecken... kurz und gut, der hat alles in der Hand. Insofern ist diese Sache, die der Ulbricht gestern vorgeschlagen hat, plump."

Gerstenmeier nahm ebenso wie alle anderen Beobachter und Kommentatoren das Thema Absperrung der Stadt oder gar Mauerbau überhaupt nicht auf. Bis heute ist nicht geklärt, ob Ulbricht damals irrtümlich oder gar bewusst einen bereits bestehenden Plan ausgeplaudert hatte, oder ob er einfach ein starkes Bild, eben den Bau einer Mauer, zur Illustration seiner Thesen nutzte. Noch im März 1961 war auf einer Tagung des Wahrschauer Paktes der Plan einer radikalen Absperrung West-Berlins verworfen worden. Ulbricht hatte vorgeschlagen, längs der Sektorengrenze eine 45 Kilometer lange Stacheldrahtbarriere quer durch die Stadt zu errichten. Chruschtschow lehnte dies als nicht in die gegenwärtige sowjetische Taktik passend ab. Die endgültige Moskauer Zustimmung zum Mauerbau gab es erst am 5. August 1961. Zu dieser Zeit schätze der Bundesnachrichtendienst die Lage noch so ein, dass seitens der DDR vor Ende des Jahres keine einschneidenden Maßnahmen zur Eindämmung Flüchtlingsstromes zu erwarten seien. Es spricht einiges dafür, dass Ulbrichts Äußerung erst im nachhinein zur entlarvenden Lüge wurde.

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten."

Quelle: DeutschlandRadio Berlin, Skript der Sendung "Kalenderblatt" vom 15. Juni 2001
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