Material > Dokumente > 1961 > August > Offener Brief von Stephan Hermlin an Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass, 17. August 1961

Offener Brief von Stephan Hermlin an Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass, 17. August 1961

Offener Brief von Stephan Hermlin an Wolfdietrich Schnurre und Günter Grass, 17. August 1961

Herrn Wolfdietrich Schnurre
Berlin-Zehlendorf West,
Goethestr. 29

Herrn Günter Grass,
Berlin-Grunewald,
Karlsbader Str. 16

Sie haben gestern, am 16. August 1961, einen offenen Brief an eine Reihe von Schriftstellern in der Deutschen Demokratischen Republik gerichtet. Da ich zu den von Ihnen genannten Empfängern gehöre, erlaube ich mir, das Folgende zu bemerken:

Sie wünschen, ich möge „die Tragweite der plötzlichen militärischen Aktion vom 13. August bedenken". Ich könnte mit den Worten eines offiziellen Sprechers in Washington darauf erwidern, daß die Rechte der westlichen Besatzungsmächte in West-Berlin durch die Maßnahmen der Deutschen Demokratischen Republik nicht angetastet wurden. Dies ist die Antwort, die bereits aus dem Westen gekommen ist, soweit die Frage der Tragweite aufgeworfen wird. Ich will es mir aber nicht ganz einfach machen, zumal ich kein Sprecher der amerikanischen Regierung bin.

Sie schrieben: „Wenn westdeutsche Schriftsteller sich die Aufgabe stellen, gegen das Verbleiben eines Hans Globke zu schreiben; wenn westdeutsche Schriftsteller das geplante Notstandsgesetz des Innenministers Gerhard Schröder ein undemokratisches Gesetz nennen; wenn westdeutsche Schriftsteller vor einem autoritären Klerikalismus in der Bundesrepublik warnen, dann haben Sie genauso die Pflicht, das Unrecht vom 13. August beim Namen zu nennen."

Ihr Argument, daß bei früherer Gelegenheit bereits in ähnlicher Form auftauchte, resultiert aus einem Trugschluß. Wenn Sie, Schnurre und Grass, gegen Globke und Schröder auftreten, die Sie regieren, so bin ich keineswegs verpflichtet, gegen meine Regierung aufzutreten, die Globke und Schröder etwas nachdrücklicher bekämpft als Sie beide es tun - das sei bei allem Respekt vor Ihrer Zivilcourage gesagt. Vielmehr ist meine Regierung bei dieser ihrer Tätigkeit meiner Zustimmung sicher. Tatsächlich ist das, was Sie das Unrecht vom 13. August nennen, eine staatliche Aktion gegen die Globke-Schröder-Politik.

Das Unrecht vom 13. August? Von welchem Unrecht sprechen Sie? Wenn ich Ihre Zeitungen lese und Ihre Sender höre, könnte man glauben, es sei vor vier Tagen eine große Stadt durch eine Gewalttat in zwei Teile auseinandergefallen. Da ich aber ein ziemlich gutes Gedächtnis habe und seit vierzehn Jahren wieder in dieser Stadt lebe, erinnere ich mich, seit Mitte 1948 in einer gespaltenen Stadt gelebt zu haben, einer Stadt mit zwei Währungen, zwei Bürgermeistern, zwei Stadtverwaltungen, zweierlei Art von Polizei, zwei Gesellschaftssystemen, in einer Stadt, die beherrscht [wird] von zwei einander diametral entgegengesetzten Konzeptionen des Lebens. Die Spaltung Berlins begann Mitte 1948 mit der bekannten Währungsreform. Was am 13. August erfolgte, war ein logischer Schritt in einer Entwicklung, die nicht von dieser Seite der Stadt eingeleitet wurde.

Ich habe meiner Regierung am 13. August kein Danktelegramm geschickt und ich würde meine innere Verfassung auch nicht als eine solche „freudige Zustimmung", wie manche sich auszudrücken belieben, definieren. Wer mich kennt, weiß, daß ich ein Anhänger des Miteinanderlebens bin, des freien Reisens, des ungehinderten Austausches auf allen Gebieten des menschlichen Lebens, besonders auf dem Gebiet der Kultur.

Aber ich gebe den Maßnahmen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik meine uneingeschränkte ernste Zustimmung. Sie hat mit diesen Maßnahmen, wie sich bereits zeigt, den Antiglobkestaat gefestigt, sie hat einen großen Schritt vorwärts getan zur Errichtung eines Friedensvertrages, der das dringendste Anliegen ist, weil er allein angetan ist, den gefährlichsten Staat der Welt, die Bundesrepublik, auf ihrem aggressiven Weg zu bremsen.

Ich erinnere mich noch sehr genau an das ekelerregende Schauspiel einer sogenannten nationalen Erhebung, das ich am 30. Januar 1933 als ganz junger Mensch am Brandenburger Tor erlebte. Zehntausende von Hysterikern teilten einander damals tränenüberströmt mit, Deutschland sei endlich von der Knechtschaft erlöst. Hätten damals am Brandenburger Tor rote Panzer gestanden, wäre der Marsch nach dem Osten nie angetreten worden, brauchten keine Eichmann-Prozesse stattzufinden und säßen wir heute zu dritt in einer unzerstörten, ungeteilten Stadt am Alex oder am Kurfürstendamm im Café.

In Ihrem Brief wird sehr deutlich an die Adressaten appelliert, sie mögen sich nicht vor einer Antwort drücken, es gäbe angesichts der heutigen Situation kein schweigen, so wenig - wie Sie schreiben - wie gerade zwischen 1933 und 1945. Offenbar haben Sie doch nicht sehr genau überlegt, an wen Sie das geschrieben haben, denn Ihre Adressaten, zumindest die Mehrzahl von ihnen, schwiegen gerade zwischen 1933 und 1945 nicht, im Gegensatz zu so vielen patentierten Verteidigern der westlichen Freiheit des Jahres 1961. Ich bin überzeugt, daß es meiner Antwort an Deutlichkeit nicht gebricht, und hoffe, daß wir uns bald in freundlicheren Stunden wiedersehen werden.

Stephan Hermlin

Quelle: Hans Werner Richter (Hg.), Die Mauer oder Der 13. August, Reinbek 1961, S. 66-68
Zum Seitenanfang