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Rede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, auf dem Kongreß anläßlich des Deutschlandtreffens der SPD, 12. August 1961

Rede des Regierenden Bürgermeisters von Berlin, Willy Brandt, auf dem Kongress anlässlich des Deutschlandtreffens der SPD, 12. August 1961

(Auszüge)

Heute abend, am 12. August, wird der 17 000. Flüchtling dieses Monats in Berlin ankommen. Zum erstenmal werden wir 3000 Flüchtlinge im Laufe von 24 Stunden aufzunehmen haben. Zur Zeit stehen Hunderte von Menschen vor den Flüchtlingslagern und warten auf Registrierung. Ich habe die amerikanischen Behörden gebeten, uns mit Feldküchen auszuhelfen, weil wir sonst vorübergehend in Verpflegungsschwierigkeiten kommen würden. Ich habe veranlaßt, daß der Abtransport durch Einbeziehung des Flugplatzes Tegel verstärkt wird.

3000 Menschen an einem Tag, jede halbe Minute eine Frau, ein Mann, ein Jüngling, Flüchtlinge im eigenen Lande. Sechzehn Jahre nach dem Ende des Krieges. Sie sind froh, wenn sie mit einer Aktentasche den Menschenjägern entgehen. Warum kommen diese Menschen? Welche Angst hat diesen Strom ansteigen lassen?

Die Antwort auf diese Frage heißt: weil die Sowjetunion einen Anschlag gegen unser Volk vorbereitet, über dessen Ernst sich die wenigsten klar sind. Weil die Menschen in der Zone Angst haben, daß die Maschen des Eisernen Vorhanges zuzementiert werden. Weil sie fürchten, in einem gigantischen Gefängnis eingeschlossen zu werden. Weil sie die brennende Sorge haben, sie könnten vergessen werden, abgeschrieben werden, geopfert werden auf dem Altar der Gleichgültigkeit und verpaßter Chancen.

Jeder von diesen Flüchtlingen ist ein Zeuge dafür, daß unsere Landsleute sich auch 16 Jahre nach dem Kriege mit ihrer Lage nicht abfinden. Daß sie sich nicht niedertrampeln lassen wollen und nicht einschmelzen lassen wollen in ein verhaßtes System der Fremdherrschaft und der politischen Fremdenlegionäre. Der kleinere Teil des deutschen Volkes stellt den größeren Teil des Volkes heute vor die Frage, ob wir uns der Freiheit würdig erweisen werden, ob wir uns bewähren und die Zeichen nationaler Not verstehen werden.

Zu den vornehmsten Pflichten einer Regierung gehört der Mut zur Wahrheit. Die gegenwärtige Regierung hat unserem Volk jahrelang ein falsches Bild von der Weltlage vermittelt. Sie hat uns jahrelang erzählt: noch nie sei die Lage so ernst gewesen, und es hat häufig nicht gestimmt. Heute stehen wir vor der ernstesten Krise unserer Nachkriegsgeschichte, und der Bundeskanzler verniedlicht diese Dinge. Und das geschieht damals wie heute aus innenpolitischen, parteiegoistischen Gründen. Das ist unerträglich. Das ist unverantwortlich. Damit muß Schluß gemacht werden.

Ich habe in den schweren Jahren in Berlin niemals falschen Alarm gegeben. Ich habe niemals dramatisiert. Aber heute und hier muß ich mich zum Sprecher eines mündigen Volkes machen, das Anspruch darauf hat, die Wahrheit zu erfahren. Die Deutschen haben den Anspruch darauf, daß zu ihnen ebenso offen gesprochen wird, wie es Präsident Kennedy seinem Volk und der ganzen Welt gegenüber getan hat.

Heute werden in Ost und West die Rüstungen verstärkt. Die Staatsmänner sprechen mit großem Ernst von der Gefahr eines Krieges, den keiner will. Auch ich hoffe und glaube, daß der Friede erhalten werden kann, weil niemand die Lust zu einem weltweiten Selbstmord hat. Was immer in meinen Kräften steht, werde ich tun, um den Frieden erhalten zu helfen.

Aber wir alle in Deutschland müssen wachsam sein und unseren Teil dazu beitragen. Wir haben Freunde, aber wir sind in der Gefahr, zu Sündenböcken gemacht zu werden. Die heutige Weltkrise ist eine Deutschlandkrise und die Deutschlandkrise ist eine Weltkrise.

Die eigentliche Drohung aus dem Osten mit einem separaten Friedensvertrag ist eine Bedrohung der westlichen Gemeinschaft. Man will diese Gemeinschaft zerbrechen, indem man die Moral des deutschen Volkes zerbricht. Man will unsere Moral zerbrechen, indem man die Bundesrepublik meineidig machen will. Wir sollen 16 Millionen Deutsche verraten. Wir sollen ein Teilungsdiktat, Friedensvertrag genannt, anerkennen. Dazu kann ich nur sagen: das wird niemals geschehen.

Wir werden nicht unsere Verfassung brechen, die uns die Wiedervereinigung zur Pflicht macht.

Wir können ein Teilungsdiktat nicht anerkennen, weil daran die deutsche Demokratie zerbrechen könnte. Wir haben keine Lust, durch Schwäche oder Opportunismus Wegbereiter eines neuen Nationalismus zu werden. Und niemand, dem der Friede in Europa etwas wert ist, in Ost und West, kann etwas anderes wünschen.

Wir wissen, daß die deutsche Frage in die internationalen Zusammenhänge eingebettet ist. Aber Gesetz und Moral verpflichten uns, auch unseren Verbündeten zu sagen, daß wir uns mit einem Teilungsdiktat niemals abfinden werden. Das liegt auch im Interesse unserer Verbündeten; denn wer den anderen Teil seines Volkes im Stich läßt, hat auch für seine Verbündeten an Wert verloren. Und wir haben gelernt, in bitterer Erfahrung, was aus der Mißachtung von Recht und Moral folgt.

Auch unsere Verbündeten, mit denen wir uns in dem Ziel der Wiedervereinigung zusammengefunden haben, dürfen sich aus der Verantwortung für einen Friedensvertrag mit ganz Deutschland nicht herausdrängen lassen. Sonst gäbe es eine Vertrauenskrise – und nicht nur in Deutschland -, die wie ein schleichendes Gift um sich greifen würde.

Chrustschow aber muß wissen, daß ein Teilungsdiktat die Beziehungen zwischen dem deutschen Volk und der Sowjetunion fast hoffnungslos belastet. Das Hindernis normaler deutsch-sowjetischer Beziehungen heißt heute Ulbricht. Mit Ulbricht und seinen Leuten ist kein Staat zu machen.

In den vor uns liegenden Monaten werden Entscheidungen von ungeheurer Tragweite auf uns zukommen. Das ist der bittere Ernst unserer Situation. Das deutsche Volk steht vor einer Bewährung. Wir sind stolz auf das, was wir geleistet haben, und zwar alle geleistet haben. Wir haben in den zurückliegenden Jahren viele Schwierigkeiten überwunden. Wir können heute, wenn wir wollen, darüber streiten, wer die größeren Verdienste hat. Wir können uns über Fehler oder Versäumnisse der einen oder anderen Seite auseinandersetzen. Aber das alles wird zu einem Nichts vor der Bewährungsprobe, der unser Volk entgegengeht.

Was hat die bisherige Regierung darüber gesagt, was hat sie unternommen? Wo sind ihre Initiativen? Wo sind ihre Vorschläge? Auf alle diese Fragen gibt es fast nur Fehlanzeigen.

Was ist zu tun?

Erstens muß die Regierung unser Volk vorbereiten. Sie muß ihm die Wahrheit sagen. Eine von mir geführte Bundesregierung wird kein Interesse an der Umdeutung der Weltlage haben. Unsere Nerven sind auch für unangenehme Realitäten stark genug.

Zweitens: Der Wille der erdrückenden Mehrheit unseres Volkes muß sichtbar gemacht werden. Auch wir haben einen Anspruch auf Selbstbestimmung. Nicht weil wir besser sind als andere, sondern weil wir auch nicht schlechter sind als andere Völker. Und weil das Ringen um Selbstbestimmung für Deutschland und Europa auch dem Frieden dient.

Drittens: Die Bundesrepublik muß durch eigene Ideen und eigene Beiträge Einfluß nehmen auf die Politik des Westens. Sie muß ein vollwertiger Partner werden und darf sich nicht immer nur als Bremser und allzu bequemer Ja-Sager betätigen.

Viertens: Da es um Deutschland geht, soll das deutsche Volk in einer Volksabstimmung seine Meinung sagen und seinen Willen kundtun. Hier greife ich ausdrücklich die Anregung von Kennedy auf. Diese Volksabstimmung muß in ganz Deutschland abgehalten werden. Wenn die Zone sie verweigert, wenn sie für Ost-Berlin abgelehnt wird, dann müssen die Deutschen in der Bundesrepublik und in West-Berlin, die die Freiheit dazu haben, sie auch ausüben. Das ist Mitbestimmung und Mitgestaltung des eigenen Schicksals.

Fünftens: Die Bundesrepublik muß der isolierten Behandlung des Berlin-Problems entgegenwirken. Berlin muß mit der Bundesrepublik eng verbunden bleiben. Ich bin gestern durch Außenminister von Brentano über einige der letzten diplomatischen Entwicklungen unterrichtet worden. Es wäre eine Lüge zu sagen, ich hätte weniger Sorgen als gestern.

Sechstens: Vor einer so ernsten Bewährungsprobe in einer solchen Zeit nationaler Not müssen alle verantwortungsbewußten freiheitlichen Kräfte zusammenrücken. Das Gesamtinteresse steht höher als Gruppen- und Parteiinteressen. Wenn es um die Existenz der Nation geht und um die Zukunft unserer Kinder, muß ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit erreicht werden. Wer diese Gemeinsamkeit verweigert, der versündigt sich an unserem Volk. Der betrügt unsere Verbündeten um die geschlossene Kraft ihres deutschen Partners. Der fügt der äußeren Spaltung die innere hinzu. Das gefährdet Kräfte der Nation in ihrem Ringen um Sein oder Nichtsein. Der muß von dem Votum des Volkes am 17. September abgelöst werden. Wir werden die Gemeinsamkeit, die eine Notwendigkeit ist, erkämpfen. Daß das geht, haben sozialdemokratische Bürgermeister in Berlin bewiesen. Ich habe mir das Vertrauen der Mehrheit der Berliner gegen den heftigen Widerstand der CDU einschließlich ihres Vorsitzenden, Dr. Adenauer, geholt. Aber das hat mich nicht davon abgehalten, der anderen Partei die Hand zu reichen und sie trotz aller Meinungsverschiedenheiten im einzelnen zur Zusammenarbeit einzuladen.

Miteinander streiten aber füreinander einstehen können, das ist der Nachweis politischer Reife eines Volkes.

Wir haben diesen Wahlkampf so zu führen, wie das der Lage unseres Volkes angemessen ist. Das ist ein Grund mehr, ihn sachlich zu führen. Die Sachlichkeit, miteinander zu sprechen, liegt im Interesse unseres Volkes. Und es ist der Wunsch von Millionen unserer Mitbürger, statt einer Woge von Beschimpfungen Argumente zu hören. Ich habe deshalb den Kanzlerkandidaten der CDU, ihren Vorsitzenden, den gegenwärtigen Bundeskanzler, heute noch einmal aufgefordert zu Diskussionen vor dem Deutschen Fernsehen und auch vor jedem anderen Forum. Ich bin bereit, alle meine Terminpläne danach einzurichten. Meine Mitarbeiter stehen ab Montag bereit, die technischen Einzelheiten in Bonn zu vereinbaren.

Je sachlicher die Auseinandersetzung ist, um so härter kann sie sein. Wir werden einen fairen aber harten Wahlkampf führen. Wir stützen uns dabei auf ein Programm, das seine Kraft bereits erprobt hat. Es ist ein Programm der nationalen Notwendigkeiten.

(...)

Quelle: Tatsachen – Argumente Nr. 21, August 1961
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