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Robert Havemann, 10 Thesen zum 30. Jahrestag der DDR, September 1979

Robert Havemann, 10 Thesen zum 30. Jahrestag der DDR, September 1979

Abschrift

  1. In den seit ihrer Gründung vergangenen 30 Jahren hat die DDR viele materielle und politische Folgen des 2. Weltkriegs überwunden. Durch den Aufbau einer leistungsfähigen modernen Industrie und durch erhebliche Verbesserungen auf dem Gebiet der Landwirtschaft wurden die materiellen Grundlagen geschaffen, die die Voraussetzung für die schrittweise Entwicklung einer freien sozialistischen Gesellschaftsordnung sind. Im Gegensatz zur BRD hat es in der DDR keine Restauration der alten Klassenherrschaft gegeben. Diese Herrschaft ist hier nach dem Sieg der Alliierten über die Hitlerdiktatur im Jahre 1945 endgültig beseitigt worden und zwar damals mit Zustimmung der überwältigenden Mehrheit des Volkes. Durch die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln wurde dem Kapitalismus die materielle Basis entzogen und die entscheidende Grundlage für die Entwicklung der Produktionsverhältnisse des Sozialismus geschaffen.

  2. Der Wiederaufbau des vom Krieg verwüsteten Landes hat von den Arbeitern und Bauern schwere Opfer gefordert. Er wurde von den westdeutschen und multinationalen Konzernen, die immer noch darauf hoffen, die DDR in ihrem Sinne zu befreien, mit allen möglichen wirtschaftlichen und politischen Mitteln erschwert und behindert. Aber das Streben der Völker nach Sicherheit und friedlicher Zusammenarbeit hat sich als stärker erwiesen. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg war die internationale Anerkennung der DDR und die Aufnahme der beiden deutschen Staaten in die UNO und die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki, deren Schlussakte das Programm eines allgemeinen Friedens und der Wahrung der Menschenrechte ist.

  3. Aber die wirtschaftliche und politische Entwicklung der DDR wurde nicht nur von außen und nicht nur von den westdeutschen und den internationalen Gegnern des Sozialismus behindert. Der Stalinismus - ein gebräuchliches aber irreführendes Wort für die Diktatur des Parteiapparats - war in der Sowjet-Union und demzufolge auch in den von ihren Truppen besetzten Ländern noch bis zum Jahre 1956 in voller Blüte. Zwar wurde auf dem XX. Parteitag der KPdSU mit den schlimmsten Verbrechen dieser tragischen Periode abgerechnet. Aber die Diktatur des zentralen Parteiapparats, der keiner demokratischen Kontrolle unterliegt, dauert in den Ländern des realen Sozialismus an bis auf den heutigen Tag.

  4. Noch im Jahre 1968 - also 19 Jahre nach der Gründung der DDR - wurden wichtige Grundrechte, die in ihrer ersten Verfassung garantiert waren, in einer neuen Verfassung aufgehoben, so das Streikrecht und das Recht auf ein unabhängiges Gericht, vor dem der Bürger Klage gegen Maßnahmen der Organe des Staates führen kann. In der neuen Verfassung erscheint auch zum ersten Mal ein Passus, in dem die Partei als die führende Kraft und Grundlage des Staates bezeichnet wird. Es heißt in Artikel 1:
    „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei."

    Damit ist die Stellung der Partei im Staat als entscheidende politische Instanz nun auch durch die Verfassung definiert. Die SED ist damit die Staatspartei.
    In die neue Verfassung wurde zwar der Artikel 27 der alten über die Freiheit der Meinungsäußerung in seinem vollen Wortlaut übernommen. Er lautet:
    „1. Jeder Bürger der DDR hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Dieses Recht wird durch kein Dienst- oder Arbeitsverhältnis beschränkt. Niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. 2. Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet."

    Aber in dem im Juni dieses Jahres noch verschärften § 106 des Strafgesetzbuches über die „staatsfeindliche Hetze" wird der Artikel 27 praktisch außer Kraft gesetzt. Jede „Diskriminierung" der gesellschaftlichen Verhältnisse wird mit Freiheitsstrafe bis zu 10 Jahren bedroht. Aus der Praxis der Gerichte geht hervor, dass unter „Diskriminierung" nahezu jede Kritik an der Politik der Partei und der Regierung verstanden wird, also gerade das, was in aller Welt unter der Freiheit der Meinungsäußerung verstanden wird. „Freiheit ist die Freiheit des Andersdenkenden", hat es Rosa Luxemburg ausgedrückt. Das 3. Strafrechtsänderungsgesetz vom Juni diesen Jahres enthält darüber hinaus noch eine Unzahl von Bestimmungen, durch die fast alle bisher noch bestehenden Möglichkeiten des öffentlichen Andersdenkens mit harten Strafen bedroht werden.

  5. Es ist sehr schwer abzuschätzen, wie groß in der DDR heute die Zahl derer ist, die sich auch bei uns wieder nach der Restauration der alten Klassenherrschaft sehnen und das kapitalistische System der BRD dem realen Sozialismus vorziehen. Die Unterdrückung jeder von den Organen der Partei und des Staates unabhängigen Kritik, die Maßregelung kritischer Schriftsteller, die Nichtzulassung einer Opposition in der Volkskammer, das Nichtbestehen auch nur eines einzigen kritischen und unabhängigen Presseorgans, die Bedingungen, unter denen die Kandidaten für die Volksvertretung nominiert und gewählt werden, das praktisch (außer für Rentner und eine beschränkte Zahl von Privilegierten und Funktionären) bestehende „Westreise"-Verbot, - all dies und mehr rufen den Eindruck hervor, dass die Partei- und Staatsführung der DDR die Zahl ihrer Gegner für groß und bedrohlich hält. Nach wie vor hält man die „Mauer" geschlossen. Das Misstrauen, es könnte sonst wieder zu einer Massenflucht kommen wie 1961, ist groß.

  6. Es ist ganz offensichtlich, dass alle diese Repressionen und Freiheitsbeschränkungen das Gegenteil dessen bewirken, was mit ihnen erreicht werden soll. Sie sollen der Sicherheit des Staates dienen, sind aber tatsächlich die Ursache der zunehmenden Staatsunsicherheit. Unter solchen Bedingungen muß schließlich auch der letzte Rest des Vertrauens zwischen Bürgern und Staat dahinschwinden, und zwar von beiden Seiten. „Schenkst du kein Vertrauen, so findest du kein Vertrauen", heißt es bei dem chinesischen Weisen Lao Tse, der vor zweieinhalb Jahrtausenden lebte. Vertrauen der Bürger zu ihrem Staat ist aber das wertvollste politische Gut. Auf ihm beruht nicht nur seine innere, sondern auch seine äußere Sicherheit, ohne die kein Staat auf die Dauer leben kann. Denn vom Vertrauen seiner Bürger hängt auch das Vertrauen ab, das befreundete und verbündete Staaten ihm entgegenbringen.

  7. Das politische System, das in der DDR wie auch in einigen osteuropäischen Staaten besteht, bezeichnet sich selbst als „realen Sozialismus". Damit will man sagen, dass es einen „idealen Sozialismus" nur in den Träumen sektiererischer Utopisten gibt, nicht aber in der Wirklichkeit. Wer sich diesen Träumen hingibt und auf diese Weise seine Unzufriedenheit mit dem real existierenden Sozialismus zum Ausdruck bringt, heißt es, hilft nur den Gegnern des Sozialismus.
    Aber in der Geringschätzung und Verdächtigung der Träume von einem idealen Sozialismus sind sich gerade die Gegner und Feinde des Sozialismus mit den Ideologen des realen Sozialismus völlig einig. Sie lachen über die Einfältigen, die glauben, Sozialismus sei möglich ohne Unterdrückung der Andersdenkenden, ohne Polizeisystem und Mauer. Entweder Freiheit oder Sozialismus, sagen sie, aber niemals beides zugleich. Und ihr Beweis für diese Behauptung ist der reale Sozialismus.

  8. Die kommunistischen Parteien in Westeuropa, die eine neue politische Line entwickelt haben, die man den Eurokommunismus nennt, befinden sich angesichts der sich verschärfenden Spannungen in den Ländern des realen Sozialismus, besonders nach der gewaltsamen Beendigung des „Prager Frühlings" im Jahre 1968, in einer schwierigen Lage. Einerseits müssen sie glaubhaft machen, dass der Sozialismus, den sie erstreben, alle bisher errungenen Freiheiten aufrecht erhält, ja sogar erst endgültig sichert: die Freiheit der Meinungsäußerung, die Pressefreiheit, die Nichtparteinahme des Staates in Fragen der Weltanschauung und des Glaubens, die Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, das Recht auf Freizügigkeit und freie Wahl des Arbeitsplatzes einschließlich des Rechts auf Auswanderung, das Streikrecht, die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und die Aufhebung jegliche Art von Privilegien. Aber indem sie dieses Bild eines freiheitlichen Sozialismus entwerfen, nehmen sie genau die Positionen ein, die von den Ideologen des realen Sozialismus als linkssektiererische, kleinbürgerliche, utopistische und illusionäre Träumereien verhöhnt und darüber hinaus verdächtigt werden, bewußt oder unbewußt den Interessen des Klassenfeindes zu dienen. Tagtäglich bekommen sie diese Vorwürfe und Verdächtigungen außerdem in der reaktionären bürgerlichen Presse und den Massenmedien zu hören, die behaupten, dass ihr schöner freier Sozialismus nur erfunden wurde, um die Volksmassen zu betrügen. So sind die Eurokommunisten gezwungen, sich offen von den politischen Verhältnissen des realen Sozialismus zu distanzieren. Aber andererseits müssen sie sich auch mit ihren Genossen im realen Sozialismus identifizieren und solidarisieren, indem sie anerkennen, dass mit der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ein erster entscheidender Schritt getan ist, der zum Sozialismus führt. Sie müssen auch auf andere wichtige Errungenschaften hinweisen, die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die große Stabilität der Preise, die großen Leistungen für die Hebung des Bildungsstandes und des kulturellen Niveaus, die vorbildliche Organisation des Gesundheitswesens u.v.m., die alle nur möglich waren, weil die Interessen privater Eigentümer in der Volkswirtschaft endgültig ausgeschaltet wurden.

  9. Die Deutsche Demokratische Republik ist auf dem Weg in die Zukunft, die Sozialismus heißt, der westdeutschen Bundesrepublik und den anderen westeuropäischen Industriestaaten weit voraus. Wenn wir hier endlich damit beginnen, den Sozialismus aufzubauen, von dem unsere eurokommunistischen Genossen träumen, so dass sie nicht mehr gezwungen sein werden, sich von unserem Sozialismus zu distanzieren, dann könnte die DDR gemeinsam mit den anderen sozialistischen Ländern zur Schrittmacherin der großen sozialistischen Wende in Europa werden. Wir müssen nur den längst fälligen zweiten Schritt tun, den Schritt in die Demokratie durch Aufhebung der unkontrollierten Herrschaft des Parteiapparats. Wir werden zwar den Partei- und den Staatsapparat noch eine ganze Weile brauchen und mit allen seinen unvermeidlichen Mängeln und Widersprüchen ertragen müssen. Denn das Absterben des Staates ist ein langwieriger Prozeß. Aber er kann sich nur vollziehen, wenn jede Form willkürlicher Herrschaft durch breite demokratische Kontrolle gezügelt und im Keim erstickt wird. Unter den gegenwärtigen Bedingungen stirbt der Staat nicht ab. Im Gegenteil, er wächst und nimmt von allem Besitz, ist überall, wachsam hört er alles, sieht alles und registriert es in geheimen elektronischen Datenbanken. Er beschwört in unseren Ängsten die gespenstische Welt herauf, die Orwell in seinem Buch „1984" beschrieben hat.

  10. Der Kapitalismus ist in seine Endphase eingetreten. Bald wird es für ihn keine friedliche Lösung seiner Probleme mehr geben. Inflation, Währungswirrwarr, Massenarbeitslosigkeit, Energie- und Rohstoffkrise, Umweltverschmutzung, verschwenderische Wegwerf-Gesellschaft auf der einen Seite, auf der anderen Hunger und Elend von Hunderten und Millionen in den armen Ländern, - das alles in einer Welt, die sich täglich mehr als unfähig erweist, ihre Probleme zu meistern, dafür aber auf eine einzige Sache in größter Perfektion vorbereitet ist: Die Selbstvernichtung in einem nuklearen Krieg. Es ist beängstigend, wie wir die kurze Zeit, die uns noch bleibt, das große Unheil von uns abzuwenden, fast ungenutzt verstreichen lassen. In dieser Situation ist der Sozialismus unsere einzige und letzte Hoffnung. Das heißt aber: Wir dürfen nicht länger warten. Wir müssen jetzt und hier beginnen den großen Traum des Sozialismus zu verwirklichen, getreu dem Bebel-Wort:
    Ohne Demokratie kein Sozialismus, ohne Sozialismus keine Demokratie.


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Zum 30. Jahrestag der DDR einige Vorschläge für erste Schritte auf diesem Weg:
  1. Aufhebung aller Beschränkungen der Freiheit der Meinungsäußerung durch entsprechende Änderungen des Strafgesetzbuches insbesondere durch Außerkraftsetzung der verfassungswidrigen §§ 106 (staatsfeindliche Hetze), 219 (ungesetzliche Verbindungsaufnahme) und 220 (öffentliche Herabwürdigung).
  2. Haftentlassung und Rehabilitierung aller Personen, die nach diesen Paragraphen verurteilt wurden.
  3. Abschaffung jeglicher Zensur und Auflösung des Büros für Urheberrechte.
  4. Gründung eines unabhängigen Presseorgans.
  5. Herabsetzung der Altersgrenze für Westreisen.
  6. Veröffentlichung dieser Thesen im „Neuen Deutschland".


Berlin, den September 1979

Quelle: Robert-Havemann Archiv, RH 023/09, Bd. 102
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