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„Wenn notwendig, dann treffen mit dem ersten Schuß", Rede-Konspekt von DDR-Grenztruppen-Chef Klaus-Dieter Baumgarten, 9. Juli 1982

Generaloberst Klaus-Dieter Baumgarten, Chef der DDR-Grenztruppen, „Wenn notwendig, dann treffen mit dem ersten Schuss", Rede-Konspekt, 9. Juli 1982

„In Durchsetzung des Grenzgesetzes ist es uns noch nicht gelungen, die Bestimmungen des Paragraphs 27 - über den Schußwaffengebrauch - bis zum letzten Soldaten eindeutig klar und bewußt zu machen. Es gibt noch immer Erscheinungen, daß einzelne Angehörige der Grenztruppen die notwendige und begründete Anwendung der Schußwaffe unterlassen und auch solche, daß sie unüberlegt und leichtfertig angewandt wird. Der politische Schaden, der uns durch die unbegründete bzw. unzweckmäßige Anwendung der Schußwaffe entsteht, ist groß.

In den letzten 3 bis 4 Monaten sind Entwicklungstendenzen bei der Anwendung der Schußwaffe sichtbar, die mich veranlassen, nochmals mit allem Nachdruck, auf die konsequente Einhaltung aller Festlegungen zur Anwendung der Schußwaffe, insbesondere des § 27 Grenzgesetz, hinzuweisen.

Jeder weiß, wie notwendig die Anwendung der Schußwaffe im Grenzdienst sein kann, daß es für jeden Angehörigen der Grenztruppen revolutionäre Klassenpflicht ist, unter bestimmten Bedingungen konsequent die Schußwaffe anzuwenden. Aber wir müssen uns auch darüber im klaren sein, daß die Fixierung der Anwendung der Schußwaffe durch die Grenztruppen in einem Gesetz eine erhöhte Verantwortung bei der Anwendung der Schußwaffe erfordert. Diese Verantwortung trägt nicht allein der Grenzposten, der die Waffe anwendet, sondern jeder Unteroffizier und Offizier, der für die Ausbildung und politische Erziehung verantwortlich ist.

Es zeugt von ungenügender Klarheit über das Gesamtanliegen des Grenzgesetzes, wenn beispielsweise im Grenzregiment 15 [an der innerdeutschen Grenze, d. Hg.] im Ausbildungshalbjahr 1981/82 über 60 % aller Grenzverletzer, die in den Handlungsraum der Grenztruppen eindrangen, nur durch die Anwendung der Schußwaffe festgenommen wurden.

Der § 27, Absatz 1, sagt eindeutig - und das Prinzip ist nicht neu - die Anwendung der Schußwaffe ist die äußerste Maßnahme der Gewaltanwendung gegenüber Personen. Dieser Grundsatz wird noch nicht überall durchgesetzt. Es ist uns noch nicht gelungen, jeden Grenzsoldaten so zu erziehen, daß er bereits im Vorfeld einer möglichen Anwendung der Schußwaffe alle notwendigen Varianten seines Handelns erfaßt, und entsprechend der Lage anwendet, um letztlich bei Erfüllung seines Kampfauftrages die Schußwaffe nicht anwenden zu müssen.

Noch zu viele Beispiele beweisen, daß es eine Reihe von unbegründeten Fällen der Anwendung der Schußwaffe gibt, die bei richtiger Beurteilung der Lage, zweckmäßigem taktischen Verhalten und der entsprechenden Anwendung der im § 27 geforderten körperlichen Einwirkung mit und ohne Hilfsmittel hätten verhindert werden können. Dazu zählt auch das demonstrative Nachladen der Waffe, um der Ankündigung der Schußwaffe entsprechenden Nachdruck zu verleihen.

Ein weiterer Schwerpunkt, den es zu überwinden gilt, besteht darin, daß bei Vorliegen der Notwendigkeit der Anwendung der Schußwaffe oft zuviel und zu ‚wild' geschossen wird. Der § 27, Absatz 3, fordert zur Ankündigung der Schußwaffe die Abgabe eines Warnschusses. (Das ist auch in unseren Dienstvorschriften der Reihe 018 so formuliert). In einigen Truppenteilen ist im zunehmenden Maße zu beobachten, daß kein Warnschuß, sondern ‚Warnfeuerstöße' und auch gezieltes Feuer grundsätzlich in Form von Feuerstößen geführt wird. Das läßt auf unzureichende Kenntnis der Forderungen der Dienstvorschriften, aber auch auf ungenügende Befähigung und mangelndes Vertrauen zur Waffe schließen. Gerade in der gegenwärtigen Situation an der Staatsgrenze muß gelten: Wenn notwendig, dann treffen mit dem ersten Schuß.

Deshalb ist durchzusetzen, daß bei Notwendigkeit der Anwendung der Waffe, die MPi [Maschinenpistole, d. Hg.] zunächst auf Einzelfeuer eingestellt wird und daß sowohl der erforderliche Warnschuß als auch der gezielte Schuß als Einzelfeuer zu führen sind.

Ein weiterer Komplex der unzweckmäßigen Anwendung der Schußwaffe, aus dem uns politischer Schaden erwächst, ist die Nichtdurchsetzung der Forderungen des § 27, Absatz 5, daß bei Anwendung der Schußwaffe das Leben von Personen zu schonen ist. Die Abgabe von gezielten Schüssen hat so zu erfolgen, daß die betreffende Person in ihrer Bewegungsfreiheit so behindert wird, daß sie angriffs- und fluchtunfähig ist und ihr Vorhaben nicht ausführen kann.

Es zeigt sich, daß die gerechtfertigte und richtige Anwendung der Schußwaffe als äußerste Maßnahme der Durchsetzung der Verantwortung der Grenztruppen bei der Sicherung der Staatsgrenze eines der schwierigsten Probleme der Ausbildung und Erziehung unserer Grenzposten ist und bleibt.

Die Kommandeure der Lehreinrichtungen haben zu sichern, daß die Festlegungen des § 27 Grenzgesetz und die entsprechenden Ausbildungsunterlagen zur Anwendung der Schußwaffe in den Lehrprozeß einfließen und den Offiziers- und Unteroffiziersschülern entsprechend ihrer künftigen Verantwortung solche Kenntnisse vermittelt werden."

Quelle: Konspekt vom 9.7.1982 für die Dienstbesprechung des Chefs der Grenztruppen mit den Kommandeuren der Grenzkommandos und Lehreinrichtungen, VVS-Nr. G/730025 (BA-MAFR, GTÜ AZN 13427, Bl. 126, 146 ff.
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