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Brief von Erich Honecker an Helmut Kohl, 5. Oktober 1983

Brief von SED-Generalsekretär Erich Honecker an Bundeskanzler Helmut Kohl, 5. Oktober 1983

Abschrift

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!

Wie Sie wissen, hatte ich in jüngster Zeit Gelegenheit, mit namhaften Politikern der Bundesrepublik Deutschland, sowohl der Regierungsparteien als auch der Opposition und Persönlichkeiten der Wirtschaft, Gespräche über die besorgniserregende Zuspitzung der internationalen Lage und die daraus erwachsenden Gefahren für den Frieden, die Sicherheit der Völker und die Zusammenarbeit der Staaten zu führen.

Trotz aller Unterschiede und auch Gegensätze, die dabei natürlicherweise zutage traten, konnte ich ein hohes Maß an Übereinstimmung in der Sorge um den Frieden und die möglichen Belastungen für die Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland feststellen.

Im vollen Einklang mit den Interessen und Wünschen der Bürger der DDR ist es meine Auffassung, daß sich alle, die das Abgleiten der Menschheit in eine nukleare Katastrophe verhindern wollen, zu einer Koalition der Vernunft zusammentun sollten, um beruhigend auf die internationale Lage einzuwirken und nichts unversucht zu lassen, eine neue Runde des atomaren Wettrüstens zu verhindern. Andernfalls würde sich die Situation weiter verschärfen und die Kriegsgefahr noch erhöhen.

Um so mehr fühle ich mich veranlaßt, erneut an Sie, Herr Bundeskanzler, den Appell zu richten, Ihre Haltung zur Stationierung neuer atomarer USA-Raketen auf dem Territorium der BRD zu überdenken und sich mit Ihrem ganzen Einfluß für ein Abkommen in Genf einzusetzen, das auf der Grundlage des Prinzips der Gleichheit und der gleichen Sicherheit zu einer Reduzierung der Atomraketen in Ost und West führt. Die ernste Erklärung des Generalsekretärs des ZK der KPdSU und Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Juri Andropow, der von den USA geplanten Zerstörung des militärischen Gleichgewichts Einhalt zu gebieten und in der internationalen Lage eine entscheidende Wende zum Besseren herbeizuführen, bestärkt mich in diesem Entschluß.

Mit weniger Waffen Frieden schaffen zu wollen, ist schwerlich mit einem Stationierungs-Automatismus vereinbar, der die Bundesrepublik Deutschland zu einem zentralen Startplatz für US-Erstschlagswaffen atomaren Charakters gegen die UdSSR, gegen uns alle, macht. Notwendigerweise müßte das auf seiten unseres Bündnisses zu entsprechenden Gegenmaßnahmen führen, um das für den Frieden unerläßliche militärstrategische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Wie Ihnen bekannt ist, haben die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder konkrete Vorschläge auf den Verhandlungstisch gelegt, die unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen aller Seiten eine Einigung in Genf ermöglichen. Leider zeigen sich die USA nicht flexibel und blockieren ein Ergebnis in Genf. Nach unserer Meinung ist es in jedem Fall besser, weiter zu verhandeln als hochzurüsten.

Weder Ihnen noch uns kann an einer andauernden Zuspitzung der Situation gelegen sein, da sie die ernsthafte Gefahr katastrophaler Folgen einer weiteren Aufrüstung und die Möglichkeit in sich birgt, eine neue Eiszeit in den Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland auszulösen. Dadurch könnte das bisher Erreichte und das von uns Angestrebte nicht nur belastet, sondern sogar in Frage gestellt werden.

In voller Verantwortung für das Wohlergehen und das Leben der Bürger der Deutschen Demokratischen Republik und in Rücksicht auf das Schicksal Europas, erkläre ich die uneingeschränkte Bereitschaft der DDR, jeden Schritt zu unterstützen, jeden Weg zu beschreiten, jede Idee konstruktiv zu prüfen, die uns einem gesicherten Frieden näherbringen und dem Weltfrieden dienen.

Ich möchte der Erwartung Ausdruck geben, daß Sie ebenso wie wir, eingedenk der geschichtlichen Lehren zweier Weltkriege, von Ihren Möglichkeiten Gebrauch machen, um in später Stunde einer weiteren Umdrehung der Rüstungsspirale mit schlimmen Folgen Einhalt zu gebieten. Das sollte um so eher möglich sein, da wir uns beide zu dem verpflichtenden Grundsatz öffentlich bekannt haben, alles zu tun, damit niemals mehr von deutschem Boden ein Krieg ausgeht. Wir meinen, nicht neue Massenvernichtungsmittel, nicht neue Raketen, nicht Konfrontation und Politik der Stärke, sondern Rüstungsstopp und Abrüstung, Zusammenarbeit und friedliches Miteinander wünschen und brauchen die Völker Europas und insbesondere die Bürger der beiden deutschen Staaten. Ein atomwaffenfreies Europa ist letzten Endes das Ziel der europäischen Völker. Wir schließen uns im Namen des deutschen Volkes dem an.

Mit vorzüglicher Hochachtung
Erich Honecker

Quelle: Neues Deutschland, 10. Oktober 1983; dok. in: Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen (Hg.), Innerdeutsche Beziehungen. Die Entwicklung der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik 1980-1986, Bonn 1986
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