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Hans-Hermann Hertle: Zur Leipziger Montagsdemonstration, 9. Oktober 1989

Hans-Hermann Hertle: Zur Leipziger Montagsdemonstration, 9. Oktober 1989

Hans-Hermann Hertle
„Mit polizeilichen Mitteln ist dieser Erscheinung nicht mehr zu begegnen"


Zur Leipziger Montagsdemonstration vom 9. Oktober 1989



Die Vorbereitungen der SED-Spitze auf die Leipziger Montagsdemonstration am 9. Oktober ließen das Schlimmste befürchten. Am 8. Oktober teilte Erich Honecker den Ersten Sekretären der SED-Bezirksleitungen telegraphisch mit, daß die Demonstrationen des Vortages „gegen die verfassungsmäßigen Grundlagen unseres sozialistischen Staates gerichtet waren." Es sei damit zu rechnen, daß es zu weiteren „Krawallen" käme. Für diesen Fall erteilte er den Befehl: „Sie sind von vornherein zu unterbinden." Die Bezirkseinsatzleitungen, so Honeckers Anweisungen weiter, sollten unverzüglich zusammenkommen und „Maßnahmen" beraten; die Ersten Sekretäre hatten fortan der Abteilung Parteiorgane des ZK täglich über die Lageentwicklung zu berichten.

Honeckers Fernschreiben verpflichtete Stasi-Minister Erich Mielke geradezu, die Lage im Innern „als erheblich verschärft" zu beurteilen und entsprechend zu handeln. Zur wirksamen Zurückdrängung bzw. Unterbindung aller „Zusammenrottungen" befahl der Stasi-Chef am gleichen Tag „volle Dienstbereitschaft" für alle Angehörigen des MfS und die Bereithaltung ausreichender Reservekräfte, „deren kurzfristiger Einsatz auch zu offensiven Maßnahmen zur Unterbindung und Auflösung von Zusammenrottungen zu gewährleisten ist." Stasi-Mitarbeiter hatten bis auf Widerruf ihre Dienstwaffe ständig bei sich zu führen. Die Berichterstattung westlicher Journalisten über Demonstrationen sollte konsequent verhindert werden. Die Nationale Volksarmee dagegen wurde auch in Leipzig im Hintergrund gehalten, obwohl die verantwortlichen Einsatzleiter der Volkspolizei bereits am 6. Oktober mit bis zu 50.000 Demonstranten rechneten.

Gemäß der zentralen Linie legte die vom Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei Leipzig, Generalmajor Gerhard Straßenburg, erarbeitete und am 6. Oktober vom Chef des Stabes und dem Innenminister bestätigte Einsatzkonzeption fest, Menschenansammlungen am 9. Oktober in Leipzig nicht zuzulassen. Für die Durchsetzung dieses Zieles wurden etwa 8.000 Einsatzkräfte - Volkspolizisten, zentrale Reserven des MdI, Kampfeinheiten des MfS, Betriebskampfgruppen, Hundertschaften der NVA - aufgestellt; daneben erhielten rund 5.000 „gesellschaftliche Kräfte" - Mitglieder bzw. Mitarbeiter der SED sowie staatlicher Organe - den Parteiauftrag, die Feinde ideologisch und agitatorisch zu überwältigen. Sollte es diesem Massenaufgebot wider Erwarten nicht gelingen, die Demonstranten abzudrängen und an der Bildung eines Demonstrationszuges zu hindern, war als nächste Maßnahme die Auflösung bzw. Aufspaltung des Demonstrationszuges mit anschließender Zerschlagung oder Einkesselung seiner Teile und der Verhaftung der „Rädelsführer" vorgesehen.

Die Stimmung, die die SED im Vorfeld des 9. Oktober in Leipzig aufgebaut hatte, zielte darauf ab, alle Bürger einzuschüchtern, die sich an diesem Tag ins Stadtzentrum begeben wollten. Ihnen wurde nicht nur strafrechtliche Verfolgung wegen Teilnahme an einer nicht-genehmigten Demonstration, sondern unverhohlen die Anwendung von Waffengewalt angedroht. Dennoch strömten am späten Nachmittag unentwegt Menschen in die Leipziger Innenstadt. Tausende besuchten um 17.00 Uhr die Montagsgebete in der Nikolaikirche, der Thomaskirche, Michaeliskirche und der Reformierten Kirche, während gleichzeitig der Zustrom von Menschen ins Stadtzentrum anhielt.

Der kritische Punkt für den Polizeieinsatz kam nach der Beendigung der Friedensgebete. Die Nachrichtenverbindungen der Leipziger Einsatzleitungen nach Berlin standen. Eine vom DDR-Fernsehen geschaltete Standleitung für das bewegliche operative Fernsehen des Innenministeriums übertrug das Leipziger Geschehen live ins Lagezentrum des MdI - an diesem Tag allerdings noch ohne Ton. Innerhalb einer Viertelstunde, so stellte es sich der Spitze im MdI in Berlin dar, „waren auf einmal zigtausend Menschen da, die aus allen Ecken kamen." Es war die unerwartet große Zahl der Menschen, die den Handlungswillen der bewaffneten Organe, keine Demonstration zuzulassen, brach. Zwischen 18.15 und 18.30 Uhr begann „eine sich langsam entwickelnde geschlossene Bewegung" mit über 70.000 Teilnehmern - selbst Stunden danach vermied der Leipziger BDVP-Chef in seiner nächtlichen Meldung für dieses Ereignis das Wort Demonstration. Straßenburg holte um 18.35 Uhr von Innenminister Dickel die Entscheidung ein, zur Eigensicherung der Einsatzkräfte überzugehen statt zum Angriff auf die „geschlossene Bewegung" zu blasen. Obwohl die Auflösung der Demonstration noch am Tag zuvor geübt und exakt festgelegt worden war, in welche Richtung die Demonstranten abgedrängt werden sollten, reagierte auch die MdI-Zentrale geschockt auf die Monitor-Bilder. Sie mußte realisieren, so Generaloberst Karl-Heinz Wagner, der Chef des Stabes des MdI, daß es keinen Weg gab, die Massen vom Dittrichring abzudrängen.

Im unmittelbaren Anschluß an den Befehl zur „Eigensicherung" erging auch vom Vorsitzenden der SED-Bezirkseinsatzleitung, Helmut Hackenberg, die Order, „keine aktiven Handlungen gegen diese Personen zu unternehmen, wenn keine staatsfeindlichen Aktivitäten und Angriffe auf Sicherungskräfte, Objekte und Einrichtungen erfolgen." Doch Angriffe auf die Sicherungskräfte blieben aus. Die Demonstranten folgten den Aufrufen kirchlicher Arbeitskreise, des Neuen Forum und der „Leipziger Sechs" zur Besonnenheit und verhielten sich strikt gewaltfrei. Hackenbergs telefonische Anfrage an Krenz, ob der nicht mehr zu verhindernde Demonstrationszug wie vorgesehen am Hauptbahnhof aufgelöst werden sollte, hatte sich bereits erledigt, als der Rückruf von Krenz erfolgte: Der Zug hatte in der Zwischenzeit den Bahnhof passiert, so Roland Wötzel, Mitglied der SED-Bezirksleitung, die Demonstration war „bereits gelaufen."

In seiner nächtlichen Meldung an Minister Dickel versprach Straßenburg abschließend, „in der weiteren politischen Arbeit (...) den Einsatzkräften offensiv die Notwendigkeit der politischen Entscheidung zum absoluten besonnenen Verhalten gegenüber der rechtswidrigen Demonstration" zu erläutern. Die Betriebskampfgruppen waren in weiten Teilen von dieser Notwendigkeit offenbar schon vor ihrem Demonstrations-Einsatz überzeugt: Von den alarmierten Kampfgruppeneinheiten war lediglich ein Bataillon in voller Stärke erschienen, fünf Kampfgruppen-Hundertschaften hatten nur Einsatzstärken zwischen 40,2 und 58,3 Prozent erreicht; die Hälfte der Kämpfer war zu Hause geblieben oder hatte die Seite gewechselt. „Mehr denn je", berichtete die Politabteilung am 10. Oktober über die Stimmung in der Leipziger Volkspolizei, werde in den Dienstkollektiven vor allem eine Auffassung vertreten: „Mit polizeilichen Mitteln ist dieser Erscheinung nicht mehr zu begegnen."

Quelle: Frankfurter Rundschau, 9. Oktober 1999, S. 6. - Verwendung, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Autors.
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