Presseerklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl über seine Gespräche mit Michail Gorbatschow, 17. Juli 1990
Presseerklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl über seine Gespräche mit dem sowjetischen Staatspräsidenten Michail Gorbatschow, 17. Juli 1990Abschrift
Wenn wir heute auf Grund der Gipfeltreffen der letzten vier Wochen von einem Durchbruch sprechen können und mehr und mehr die Konturen des künftigen Europa vor uns sehen, wissen wir auch, daß noch ein schwieriger, ein arbeitsreicher Weg vor uns liegt.
Deutschlandpolitik
Seit zwei Wochen sind die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR wieder ohne trennende Grenzen unauflöslich miteinander verbunden: Das Inkrafttreten der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion war ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Einheit. Dieser Schritt ist auch überall in der Welt so verstanden worden.
Die Währungsumstellung in der DDR ist nicht zuletzt dank der vorzüglichen Vorarbeit aller beteiligten Stellen reibungslos, ja besser als von vielen Zweiflern erwartet, verlaufen. In der DDR ist eine Fülle von Gesetzen in Kraft getreten, die die rechtlichen Voraussetzungen für die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft schaffen sollen.
Jeder weiß, daß die völlige Umgestaltung der Lebensverhältnisse in der DDR besonders in der Anfangszeit zum Teil erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Es wird viel Arbeit erfordern, bis wir Wohlstand und sozialen Ausgleich für alle Deutschen verwirklicht haben. Niemandem werden aber gerade in dieser Übergangszeit unbillige Härten zugemutet. Und wir haben alle Chancen, in einer relativ kurzen Zeit unser Ziel zu erreichen.-
Ergebnisse der Gespräche mit Präsident Gorbatschow
Ich bin, wie Sie wissen - viele von Ihnen waren ja mit dabei - gestern von meiner zweiten Reise in die Sowjetunion in diesem Jahr zurückgekehrt. Bei meinem ersten Besuch im Februar konnte ich berichten, daß wir Deutsche seitens der sowjetischen Führung "grünes Licht" für unseren Weg zur Einheit haben, daß wir auch über ihre Form, Frist und Bedingungen selbst entscheiden können.
Heute kann ich die für alle Deutschen gute Nachricht mitbringen, daß nunmehr auch über alle äußeren Aspekte zwischen uns und der Sowjetunion Einigkeit erzielt ist.
Wir wollen zukunftsgewandte Verträge, umfassende Zusammenarbeit, Vertrauen und nicht zuletzt die breite Begegnung unserer Völker, insbesondere der jungen Generation. Wir wollen damit zugleich unseren Beitrag leisten für eine dauerhafte und friedliche Entwicklung in Europa.
Dies alles wird Leitmotiv - und darin bin ich mit Präsident Gorbatschow einig - eines umfassenden Kooperationsvertrages des vereinten Deutschland mit der Sowjetunion sein, der so bald wie möglich nach der Vereinigung abgeschlossen sein wird.
Dieser Vertrag wird geschlossen auf der festen Grundlage und im beiderseitigen klaren Verständnis, daß mit der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit als auch mit der festen Verankerung im Westen ein unerläßlicher Beitrag zur Stabilität in der Mitte Europas und darüber hinaus geleistet wird.
Auf der Grundlage dieser - wie auch Präsident Gorbatschow sagte - gemeinsamen Philosophie haben wir die praktischen Probleme, die auf dem Weg zur deutschen Einheit noch vor uns liegen, gelöst.
Erstens:
Die Einigung Deutschlands umfaßt die Bundesrepublik Deutschland, die DDR und ganz Berlin.
Zweitens:
Mit der Herstellung der Einheit Deutschlands werden die Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten in bezug auf Deutschland als Ganzes und Berlin beendet. Das vereinte Deutschland erhält zum Zeitpunkt seiner Vereinigung seine volle und uneingeschränkte Souveränität.
Drittens:
Das geeinte Deutschland kann in Ausübung seiner vollen und uneingeschränkten Souveränität frei und selbst entscheiden, ob und welchem Bündnis es angehören will. Dies entspricht dem Geist und dem Text der KSZE-Schlußakte.
Ich habe als Auffassung der Bundesregierung erklärt, daß das geeinte Deutschland Mitglied des Atlantischen Bündnisses sein möchte, und ich weiß, daß dies auch dem Wunsch der DDR entspricht. Herr Ministerpräsident de Maiziere hat das gestern in seinem Kommentar deutlich gemacht. Wir haben uns auch heute früh noch einmal in unserem Gespräch in diesem Sinne klar ausgesprochen.
Viertens:
Das geeinte Deutschland schließt mit der Sowjetunion einen zweiseitigen Vertrag zur Abwicklung des Truppenabzugs aus der DDR, der, wie die sowjetische Führung erklärt hat, innerhalb von drei bis vier Jahren beendet sein soll.
Was ich hier so einfach vortrage, "drei bis vier Jahre", meine Damen und Herren, heißt, daß die sowjetischen Truppen spätestens 1994 deutsches Gebiet verlassen. Und ich will noch einmal darauf hinweisen: Das bedeutet, daß 50 Jahre nach dem Tag, an dem sowjetische Truppen zum ersten Mal das damalige deutsche Reichsgebiet im Kampf im Zweiten Weltkrieg betreten haben, die letzten sowjetischen Soldaten aus Deutschland abziehen werden.Ferner soll für diesen Zeitraum ein Überleitungsvertrag über die Auswirkungen der Einführung der D-Mark abgeschlossen werden.,
Fünftens:
Während der Dauer der Anwesenheit sowjetischer Truppen auf dem Territorium der heutigen DDR werden keine Strukturen der NATO auf dieses Gebiet ausgedehnt. Artikel 5 und 6 des NATO-Vertrages finden sofort mit der Vereinigung auf das gesamte Gebiet des vereinten Deutschland Anwendung.
Sechstens:
Nicht integrierte Verbände der Bundeswehr, daß heißt Verbände der territorialen Verteidigung, können ab sofort nach der Vereinigung Deutschlands auf dem Gebiet der ' heutigen DDR und in Berlin stationiert werden.
Siebtens:
selbstverständlich die Zahl und die Ausrüstung dieser Truppen nicht stärker sein soll als heute.
Achtens:
Nach Abzug der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der heutigen DDR und aus Berlin können in diesem Teil Deutschlands auch der NATO angegliederte Truppen stationiert werden, allerdings ohne für Atomwaffen verwendbares Abschußgerät. Ausländische Truppen und Atomwaffen sollen nicht dorthin verlegt werden.
Neuntens:
Die Bundesregierung erklärt sich bereit, noch in den laufenden Wiener Verhandlungen eine Verpflichtungserklärung abzugeben, die Streitkräfte eines geeinten Deutschlands innerhalb von drei bis vier Jahren auf eine Personalstärke von 370.000 Mann zu reduzieren. Diese Reduzierung soll mit Inkrafttreten des ersten Wiener Abkommens beginnen. Dies bedeutet: Legt man die bisherige Sollstärke von Bundeswehr und Nationaler Volksarmee zugrunde, so werden die Streitkräfte des künftigen geeinten Deutschlands um 45 Prozent vermindert.
Zehntens:
Das geeinte Deutschland wird auf Herstellung, Besitz und Verfügung der ABC-Waffen verzichten und Mitglied des Nichtverbreitungsvertrages bleiben.
Meine Damen und Herren, ein weiterer Schwerpunkt meiner Gespräche mit Präsident Gorbatschow, aber auch der Gespräche von Bundesfinanzminister Waigel mit seinen sowjetischen Partnern war eine zukunftsgewandte wirtschaftlich-finanzielle Zusammenarbeit.
Auf Grund der drei westlichen Gipfel von Dublin, London und Houston konnte ich der sowjetischen Führung und vor allem Präsident Gorbatschow verdeutlichen, daß der Westen auf den Erfolg der Perestroika setzt und ihn nach besten Kräften fördern will. Dies ist nach dem Ergebnis meiner vielen Gespräche der Wunsch und das Anliegen unserer westlichen Freunde und Partner.
Noch Ende dieser Woche wird der Präsident der EG-Kommission, Jacques Delors, nach Moskau reisen und auf der Grundlage des vom Europäischen Rat in Dublin erteilten Mandates das Gespräch aufnehmen. Präsident Gorbatschow hat mir noch mitgeteilt, daß er noch vor seinem Urlaub mit dem amtierenden Präsidenten der Gemeinschaft, mit dem Ministerpräsidenten Italiens, Giulio Andreotti, das Gespräch in dieser Frage sucht. Die Hauptarbeit - und dabei gab es zwischen uns beiden volle Übereinstimmung - ist jedoch in der Sowjetunion selbst zu leisten. Präsident Gorbatschow bereitet mit seinen Mitarbeitern ein umfassendes marktwirtschaftliches Reformprogramm vor, das er im September dem Obersten Sowjet vorlegen will und das nach seinem Willen alsbald in Kraft gesetzt wird. Dies - und darin waren wir uns einig - ist die entscheidende Voraussetzung für eine wirkliche und wirksame westliche Abstützung dieser Politik.
Meine Damen und Herren, dieser kurze Überblick über einige wesentliche Themen und Fragestellungen der nächsten Monate zeigt, daß wir bereits mitten in grundlegenden Weichenstellungen für unsere gemeinsame europäische Zukunft stehen.
Quelle: Bulletin, hrsg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Nr. 93, 18.7. 1990, S. 801 ff, dok. in: Deutsche Außenpolitik 1990/91. Auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung, hrsg, vom Auswärtigen Amt, Bonn 1991, S.135-137.